Passiv-aggressive Gesellschaft - Das Weselsky-Prinzip

Auseinandersetzungen, ideologische Debatten und Streiks gab es schon immer. Aber die derzeitige Kommunikationsverweigerung ist besorgniserregend. Wir sind zu einer passiv-aggressiven Gesellschaft mutiert.

GDL-Chef Claus Weselsky / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Manchmal verdichten sich Banalitäten zu Symptomen. Auch in der Geschichte eines Landes. Dann wird irgendeine Nebensächlichkeit zum Seismographen des Zustandes einer Gesellschaft. Das kann ein Sportereignis sein, eine Kulturveranstaltung oder ein politisches Geschehen

Eine solche symbolische Begebenheit, die sehr viel aussagt über die Stimmung in Deutschland im Jahre 2024, ist der Streik der GDL. Eigentlich ist dieser Arbeitskampf trivial. Eine unwichtige kleine Gewerkschaft, angeführt von einem noch unwichtigeren Funktionär, versucht, ihre Schäflein zu nähren. Teils aus berechtigten Gründen. Teils aus durchsichtigen Motiven.

Größenwahn, Inkompetenz, Egoismus

Auf der anderen Seite steht ein Bahn-Management, dessen Leistung täglich Millionen Kunden verzweifeln lässt. Züge fahren gar nicht oder viel zu spät. Weil ein Zug kaputt ist. Weil eine Weiche repariert werden muss. Oder weil das Bordpersonal in einem anderen Zug sitzt, der seinerseits Verspätung hat. Von den nicht funktionierenden Toiletten und dem Bordbistro mit kalten Snacks ganz zu schweigen. Dafür kassieren die Vorstände der Bahn Millionen-Boni – unter anderem, weil sie die Frauenquote in Führungspositionen übererfüllt haben.

Hier Größenwahn und Egoismus, dort Inkompetenz und Egoismus – allein diese Frontstellung reicht schon aus, um ein ganz gutes Bild von Deutschland in diesen Tagen zu bekommen. Man versagt auf ganzer Linie, aber man kennt seine Ansprüche und seine Rechte. Und der Schuldige am Desaster ist niemals man selbst, sondern immer der andere. So ist es fast überall, so ist es auch beim Tarifstreit der Bahn.

Der passiv-aggressive Patient

Hinzu kommt ein grenzenloser Narzissmus, der sich in einer selbstgerechten Gesprächsverweigerung manifestiert. Hier tut sich vor allem die GDL in Gestalt ihres Vorsitzenden Weselsky hervor. Aus dessen Sicht scheinen Verhandlungen etwas zu sein, bei dem man nicht verhandelt, sondern sich die Gegenseite zu unterwerfen hat. Und auch, was ein Kompromiss ist, legt Herr Weselsky gerne schon im Vorfeld fest.
 

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In der Psychologie nennt man ein solches Verhalten passiv-aggressiv. Der passiv-aggressive Patient ist nicht kooperativ, verweigert die Kommunikation, reagiert beleidigt oder gibt sich sarkastisch. Auf eine Bitte antwortet er mit einem giftigen „Aber das mache ich doch gern“ oder er stellt sich gern ahnungslos: „Hatten wir das wirklich besprochen?“

Doch passiv-aggressive Charaktere torpedieren nicht nur die Kommunikation. Sie verweigern sie vor allem. Also schweigen sie. Oder verlassen einfach mit starrer Miene den Raum. Der passiv-aggressive Mensch ist nicht in der Lage, offen und ehrlich seine Anliegen zu kommunizieren. Im Kern ist er schwach. Sein Verhalten zielt darauf ab, dass der andere diese Schwäche anerkennt und deshalb die Forderungen der passiv-aggressiven Persönlichkeit erfüllt, indem er einfach nachgibt.

Kindergarten in Reinform

Die Strategie der GDL ist klassisch passiv-aggressiv. Man inszeniert sich als Opfer. Verweigert das Gespräch. Schuld daran ist aber die Gegenseite. Denn schließlich habe man ja alles getan. Jetzt sei aber Schluss. Und wie ein trotziges Kind sitzt man in der Ecke und wartet darauf, dass man die Süßigkeit doch noch bekommt und jemand sagt: „Alles gut“.

Das ist Kindergarten in Reinform. Man könnte darüber hinwegsehen und die Ereignisse allein der Persönlichkeitsstruktur des GDL-Vorsitzenden zuschreiben. Leider aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser Gesellschaft tausende Weselskys in mehr oder minder verantwortlichen Positionen sitzen, vor allem in den Medien, den Parteien und den Organisationen des öffentlichen Lebens: Man selbst hat recht und ist gut. Das Gegenüber ist böse. Miteinander reden kommt nicht in Frage, kooperieren schon mal gar nicht. Man verschanzt sich in seinem Ego-Bunker. Und dort hütet man die eigenen Wahrheiten.

Jeder hält sich für das Opfer

Auseinandersetzungen, ideologische Debatten und Streiks gab es schon immer. Aber die derzeitige Kommunikationsverweigerung ist besorgniserregend. Wir sind zu einer passiv-aggressiven Gesellschaft mutiert. Jeder hält sich für das Opfer und verlässt beleidigt den Raum. Und die anderen sind die Übeltäter oder besser gleich Nazis.

Was man in dieser Situation tun kann? Das steht in jedem Psychologielehrbuch. Sich nicht provozieren lassen. Passiv-aggressives Verhalten als solches entlarven. Keine Entschuldigung akzeptieren, nur Taten. Klare Ansagen machen und klare Antworten einfordern. Und ansonsten es so machen wie die Bahn-Kunden: Das passiv-aggressive Verhalten ins Leere laufen lassen. Die leeren, pünktlichen, sauberen Züge genießen. Und Herrn Weselsky bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag streiken lassen.

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