Fünfter Todestag von Lothar Späth - Danach kam niemand mehr

Heute vor fünf Jahren starb Lothar Späth, der legendäre Ministerpräsident von Baden-Württemberg. An seiner Person wird deutlich, was der CDU im Südwesten heute fehlt und warum die Partei in dem einst konservativ geprägten Bundesland den Generationenwechsel verpasst hat.

Lothar Späth bei einem CDU-Parteitag im Jahr 1979 / picture alliance
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Autoreninfo

Johann Michael Möller, Jahrgang 1955, war von 2006 bis 2016 Hörfunkdirektor beim Mitteldeutschen Rundfunk. Er ist Herausgeber des Rotary Magazins. Im Verlag zu Klampen erschien 2019 sein Buch „Der Osten“.

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Zwei Dinge wären für den einstigen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg wohl undenkbar gewesen: dass seine Partei, die CDU, die Macht in Stuttgart verliert, was er dann doch erleben musste. Und dass sein Land, das er einst wie ein Unternehmen geführt hat, am traurigen Ende der Corona-Bekämpfung marschiert. Lothar Späth hätte längst einen erprobten Impfkoordinator in seiner Staatskanzlei installiert und nicht lange zugesehen, wie ein grüner Gesundheitsminister an der Aufgabe scheitert. Späth ist kein Landesvater gewesen. Keiner, der Hände schüttelt oder kauzige Sätze sagt. Er war auf liebenswürdige Weise unduldsam geblieben bis an sein Ende. Vor fünf Jahren ist er an einer Krankheit gestorben, die bei ihm keiner vermutet hätte. Das langsame Weggleiten aus dem Leben war seine Sache nicht.

Späth hat immer von Zukunft geredet. Aber viel entscheidender war seine Präsenz. Wenn alle Fäden bei ihm zusammenliefen, erst dann war ihm richtig wohl. Patriarchisches Auftreten blieb ihm suspekt. Auch das hat die Distanz zu Helmut Kohl wohl verstärkt. Man hat ihn gerne als Macher beschrieben. Aber das sind die altbekannten Klischees. Kümmerer würde es besser treffen, denn Späth hatte ein Auge auch für die Details. Man musste seine typische Rastlosigkeit kennen, um zu verstehen, woher die ständige Unruhe kam. Schwaben wie er werden mit dem Schraubenzieher geboren.

Dass er nach drei erfolgreichen Amtszeiten über eine billige Traumschiffaffäre gestolpert ist, passt nicht zu ihm. Seine Rechtfertigungsversuche hat ihm keiner mehr abgenommen; sie waren auf bestürzende Weise naiv. Der Späth sei nicht käuflich, hat er immer wieder beteuert, hat den peniblen Stadtoberinspektor herausgekehrt. Aber die vielen Überstunden im Amt hat niemand mehr gegengerechnet.

Nicht clever, sondern weltläufig

Erhard Eppler aus Schwäbisch Hall, Späth in herzlicher Abneigung verbunden, hat immer etwas schmallippig über die „berühmte schwäbische Inspektorenlaufbahn“ gespottet. Späth hatte das nicht weiter tangiert. Er kam aus bescheidenen Verhältnissen und sah sich selbst als das gelungene Beispiel der eigenen Selbsterfindung. Er ist nie auf vorhandene Karrierestufen gestiegen; er hat sie sich lieber selbst gebaut. Als er Anfang der sechziger Jahre als junger Stadtoberinspektor ins württembergische Bietigheim kam, hat er sich schnell die eigene Bühne geschaffen. Selbst heute noch ist Späths Stadtjugendring dort legendär. Man hat ihn häufig als „clever“ beschrieben, aber das ist etwas zu billig. Späth war auf seine ganz eigene Weise weltläufig. Der Schwabe trägt seine Welt in sich selbst.

Das Anekdotische hat ihn freilich immer begleitet, und er hat auch selbst viel dafür getan. Mit dem sprichwörtlich gewordenen Slogan „Lothar Späth kommt nie zu spät“ konnte er seinen ersten Wahlkampf gewinnen; damit war der Ton für immer gesetzt. Als „Matratzentrick“ ging sein erster finanzpolitischer Coup 1974 in die Annalen der Stuttgarter Landespolitik ein. Mehrere hundert Millionen Mark hatte er damals aus der Haushaltsvorlage des Finanzministers hervorgezaubert und damit schlagartig die politischen Gewichte verschoben. Die eigentliche Opposition, verkündete er stolz, sei jetzt die von ihm geführte CDU-Fraktion.

„Bewegung ist Richtung genug“, hieß es bald über seinen Führungsstil; das spektakuläre Agieren wurde sein Markenkern. Er galt schnell als Hansdampf aus der Provinz, der überall von sich reden machte. Für das höchste Amt aber, für die Kanzlerschaft schien er nicht prädestiniert. Das haben zumindest die Parteigänger Helmut Kohls immer erzählt, wenn es darum ging, den gescheiterten Putsch von Hamburg gegen den Parteivorsitzenden zu erklären. Am Ende fehlte Späth dafür tatsächlich der Schneid und vielleicht auch die nötige Machtgier. Königsmord war seine Sache jedenfalls nicht. Diese Niederlage hat ihre Spuren hinterlassen. Ganz erholt hat sich Späth von ihr nie. In der Rückschau muss man wohl sagen: Das politische Ende lag schon damals nicht mehr sehr fern.

Kontakt nach Dresden

Trotzdem ist Lothar Späth aus dem politischen Gedächtnis der Republik nicht völlig verschwunden. Das unterscheidet ihn von anderen, denen der Sprung auf die große Bühne misslang. Mit kaum einem der früheren Landespolitiker verknüpft man heute noch eine Ära. Späth aber hat sein Land über Jahrzehnte geprägt. Er, dessen Biografie nahezu deckungsgleich war mit dem alten Südwesten, ist nach dem Mauerfall hinübergewachsen in die neue gesamtdeutsche Realität. Früh hat er den Kontakt nach Dresden gesucht und in Wolfgang Berghofer, dem Dresdner SED-Oberbürgermeister, einen pragmatischen Partner gefunden. Die Hilfe aus Stuttgart für den Wiederaufbau von Sachsen nahm da ihren Anfang. Und Späth war der Motor dafür.

Dabei hatte er keine Wurzeln im Osten. Es gab keine alten Bindungen über die Teilung hinweg. Späth war ganz und gar ein Kind der Bundesrepublik, die Wirtschaftswunderjahre haben sein Denken geprägt. Er verstand sich als Optimierer seiner westdeutschen Welt. Sie bestimmte sein Denken. Als Provisorium, als Produkt einer willkürlichen Teilung, hat er sie nie empfunden. Das unterschied ihn, den jüngeren, von der Generation der 45er vor ihm. Helmut Schelsky hat sie die skeptische Generation genannt, die von der deutschen Katastrophe versehrt war und trotzdem den demokratischen Neubeginn wagte. Als die Jahrgänge von Späth kamen, waren die politischen und gesellschaftlichen Bahnen gelegt. Diese Erfahrung trennte ihn später auch von den 68ern, die wieder infrage stellen wollten, was er mit aufgebaut hatte. Nach der Erfahrung der bitteren Nachkriegsjahre erschienen sie ihm fast wie ein Luxusprodukt.

Späth hat immer gerne von großen Umbrüchen und globalen Veränderungen geredet, selbst betroffen war er davon nie. Sein Leben verlief wie die Wachstumsraten in einem prosperierenden Land. Trotzdem hat er Bücher zu fast allen großen Themen geschrieben. Der leicht alarmistische Ton gehörte dazu. In seinen Augen war der Standort Deutschland natürlich gefährdet; auch war der Weg nach Europa mühsam, die ökologische Krise bedrohlich und der Wandel im digitalen Zeitalter fundamental. Aber er hat nie den geringsten Zweifel aufkommen lassen, dass man das alles in Griff bekommen könne, wenn man es nur richtig anpackt. Er glaubte bis zuletzt an den Staat als Modernisierungsagenten und an seinen eigenen gouvernementalen Führungsstil. Die Deutschen seien immer noch Weltmeister im Blechbiegen, war sein bissiger Kommentar.

Krisenrhetorik und Technologiepolitik

Aber diese Krisenrhetorik gehörte zu seinem Optimismus; er glaubte an seine Technologiepolitik. Kaum ein anderer deutscher Politiker ist mehr mit den Glücksversprechen des technologischen Wandels in Verbindung gebracht worden wie Späth. Doch er hat im Laufe seiner politischen Karriere viele Häutungen vollzogen. Er war in den Anfangsjahren genauso brachialer Baupolitiker, der seine Heimat zubetonierte, wie er später die Bedeutung von Kunst und Wissenschaft für die moderne Gesellschaft betonte.

Es ist kein Klischee, wenn man sagt, dass ihm sein Land zum Gesamtkunstwerk wurde. In Stuttgart sprach man von einem „Staatsqualitätsprogramm“. Und die alltagskulturelle Seite der neuen Informationsgesellschaft? Auch die schien ihm zunehmend bunt. Dass sie in Späth keinen Technokraten, keinen „grauen und lustlosen Sachzwangfatalisten“ vor sich hatten, haben die aufsteigenden Grünen schnell registriert. Dass sie eines Tages womöglich mehr miteinander zu tun haben könnten, haben beide Seiten wohl damals bemerkt.

Die Folgen der Traumschiffaffäre  

Die große Zäsur in Späths politischem Leben war die Traumschiffaffäre, mehr noch als die gescheiterte Rebellion gegen Kohl. Doch das wirkliche Ende seines westdeutschen Politikverständnisses kam mit dem unerwarteten Ende der DDR. An eine solche – heute würde man sagen: Disruption – hatte im ewigen Westen kaum einer gedacht. Man kann diesen Abriss an einem Dokument belegen, das just in dem Moment fertig wurde, als sich alle Augen nach Osten wandten: die legendäre Kunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg, das Gründungspatent einer modernen, agilen Kulturregion. Es kam Ende 1989 noch zur Regierungserklärung im Stuttgarter Landtag, aber dann war selbst Späth schon im Osten zu Gange. Wer die endlos langen Flure der späteren Dresdner Staatskanzlei noch vor Augen hat, wird sich an das baden-württembergische Staatswappen erinnern, das an den Türen klebte.

Dieselben Stuttgarter Spitzenbeamten, die kurz zuvor noch den Kulturwandel in Baden-Württemberg vorangetrieben hatten, kümmerten sich jetzt um den Aufbau von Sachsen. Der dramatische Nachholbedarf des Ostens war wichtiger geworden als die Zukunftsdebatten um die eigene Region. Kurt Biedenkopfs zeitgleiche Hoffnung, der damals nach Leipzig ging, dass der Modernisierungsimpuls aus den neuen Ländern wieder zurückspringen würde auf die alten, hat sich nicht wirklich erfüllt. Die großen Visionen, die sich mit der Einheit verbanden, wichen schnell einem mühseligen Reparaturbetrieb.

Untergründiger Rollentausch

Dieser Umstand fraß eine ganze Politikergeneration auf, die in den Kategorien von Bonn, München, Stuttgart oder Düsseldorf denken gelernt hatte. Was waren die Strukturprobleme des Saarlandes angesichts der riesigen Industriebrachen, die sich im Osten auftaten. Und wie halbherzig wirkten die restaurativen Gesten der westdeutschen Stadtreparatur angesichts der bedeutenden ostdeutschen Geschichtsräume, die plötzlich wieder aufscheinen konnten. Die Geschichte brach nicht nur über die Ostdeutschen herein, sie fegte auch durch die alten Länder.

Dieser untergründige Rollentausch von Siegern und Besiegten, der sich mit der Wiedervereinigung vollzog, ist nie wirklich reflektiert worden, aber er hat nicht nur eine vertraute Form von Politik verschluckt, sondern auch deren Repräsentanten. Erstaunlicherweise gehörte Lothar Späth nicht dazu, obwohl man von Glück sagen kann, dass der Aufstand gegen Helmut Kohl am Vorabend des Mauerfalls nicht zum Erfolg geführt hat. Keiner der Frondeure von damals wäre dem historischen Momentum gewachsen gewesen, den der Zusammenbruch des Kommunismus bedeutete.

Sanierer in Jena 

Und wie zum Beweis hat auch keiner von ihnen die Chance ergriffen, sich an die Spitze des Wiederaufbaus zu stellen. Heiner Geißler nicht und auch nicht Rita Süßmuth, obwohl sie beide wiederholt im Gespräch waren. Nur Lothar Späth hat wie zeitgleich Kurt Biedenkopf und später noch Bernhard Vogel seinen Werkzeugkoffer gepackt und ist in die neuen Länder gegangen. Zu reparieren gab es da viel. Auf den ersten Blick schien es ein erstaunlicher Rollenwechsel zu sein, den Späth als Sanierer in Jena vollzog. Aber in Wahrheit ist er sich völlig treu geblieben.

Für die Rettung der Jenoptik, zu der die in Jena verblieben Reste des Erbes von Carl Zeiss und Ernst Abbe zusammengefasst wurden, konnte Späth seine Erfahrungen einsetzen, die er in seinem früheren Leben gesammelt hatte: sein Verhandlungsgeschick mit der Treuhand, sein politisches Gespür für Landespolitik, die Kenntnis im Umgang mit Immobilien und seine alte Idee vom Wissenstransfer. In Jena hat er nicht nur ein Kombinat gerettet, sondern gleich eine ganze Stadt dazu. Es ist dort eine Blaupause entstanden, wie es überall hätte gehen können bei der Transformation der Staatswirtschaft der untergegangenen DDR. Die Jenaer Ecke ist mit Späths Hilfe eine blühende Landschaft geworden, und wenn man ihn im Gästehaus von Carl Zeiss auf dem Jentzig, dem Jenaer Hausberg, besuchte, blickte man hinunter ins geschäftige Tal fast wie von den Hängen in Stuttgart.

Geschichte andersherum

Wie ging es dort weiter, nachdem Späth gehen musste? Man erzählt die Geschichte am besten von heute und gewissermaßen andersherum. Auf das Land warten unruhige Jahre. Von außen betrachtet weiß man nicht, was den Leuten dort mehr zu schaffen machen wird, das Zuviel oder das Zuwenig an Wandel. Dazu kommt die fortwährende Krise der CDU, der einstigen Staatspartei. Sie ist weiter denn je davon entfernt, noch eine integrative Rolle zu spielen. Die schlechten Umfragewerte und die hohen Stimmenverluste bei den vergangenen Wahlen zeigen das deutlich. Er geht dort um mehr als die Krise der Volksparteien.

In Baden-Württemberg ist vieles auch hausgemacht. Die CDU dort hat ihre Zukunft verschlafen, ihre Teile setzt niemand zusammen. Mit Erwin Teufel hatte sich ein letztes Mal die alte Honoratiorenpartei wieder gezeigt. Auf Günther Oettinger setzten die Jungen und Liberalen. Danach wurde es dunkel. Auf die Tragödie folgte die Karikatur. Auch war es längst furchtbar altmodisch geworden, noch christdemokratisch zu sein.

Missglückter Generationenwechsel 

Die neue Generation ging mit den Grünen. Rüdiger Soldt, einer der klügsten Beobachter der Politik im Südwesten, sieht als Hauptursache der heutigen Misere den missglückten Generationenwechsel. Viele der früheren CDU-Wähler haben bei den Grünen längst ihre politische Heimat gefunden; auch viele Söhne und Töchter der alten Honoratiorenpartei sind zu den Grünen gewechselt. Die CDU, so Soldts Fazit, hat den Wandel verpasst.

Ihr Problem lässt sich nicht darauf reduzieren, dass ihr die Wähler abhanden gekommen sind. Dem Wechsel von 2011 ging keine dramatische Niederlage voraus. Es war ein schleichender Erosionsprozess. Das politische Klima im Land hatte sich verändert, und die CDU konnte es nicht mehr repräsentieren. Heute schaut man auf den Unfall von Fukushima vor genau zehn Jahren zurück und versucht den Wahlsieg der Grünen damit zu erklären. Das hat sicher der Opposition in die Hände gespielt. Viel beunruhigender für die CDU aber müsste der Riss sein, der heute durch ihre eigene Mitte geht. Auch den kann ihr politisches Personal nicht mehr schließen.

Geburtsort der Wutbürger

Der Geburtsort der Wutbürger ist ja nicht Dresden, wo man ihn bei Pegida vermutet. Entstanden ist er wohl eher in Stuttgart, an einem Ort, den man für den saturiertesten hielt. „Nicht das Prekariat stand auf“, schreibt die Beobachterin Claudia Schumacher, „sondern die gebildete Mitte der Gesellschaft.“ Es sind nicht die Ränder, die der CDU heute zu schaffen machen; es ist ihr eigener Kern. Heute sei die Wut allgegenwärtig, sagt Schumacher, aber keine der Wutfraktionen hat eine Mehrheit.

Späths Wahlerfolge stammten aus einer anderen Zeit, als das Prinzip Volkspartei noch funktionierte. Aber Späth konnte die Milieus auch zusammenhalten; selbst dem Zorn, wie es bei Thea Dorn heißt, gab er noch einen Raum. Er hat diese Landesidentität nicht einfach geerbt, er hat sie auf seine Weise geschaffen. Wie man weltläufig werden kann und doch bei sich bleibt, das konnte er seinen Landsleuten zeigen. Es ist ihm über eine erstaunlich lange Zeit gelungen. Danach kam in seiner Partei niemand mehr. Späth war der Mann, auf den man sich einigen konnte. Erst Winfried Kretschmann hat das dann wieder geschafft.

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