Evaluation der deutschen Corona-Politik - Gesucht: Frisches Personal für das Corona-Cockpit

Der Bericht zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen fällt gemischt bis schlecht aus für die deutsche Corona-Politik der vergangenen zwei Jahre. Datenlage: unzureichend. Beschlüsse: instransparent. Maßnahmen-Wirkung: kaum evident. Und die Frage drängt sich auf, ob sich Deutschland bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie nun langsam lösen müsste von Karl Lauterbach, um einen echten Neustart einzuläuten. Denn Lauterbach war von Anfang an mindestens eine streitbare Besetzung für den Posten des Gesundheitsministers.

Wankt im Amt: Gesundheitsminister Karl Lauterbach / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Vox Populi soll Karl Lauterbach (SPD) bekanntlich ins Amt des Gesundheitsministers gehievt haben. Einen Nerd aus der zweiten Reihe, ein bisschen schrullig vielleicht, ja, aber einer, der eben weiß, wovon er spricht, weil er sich tief eingräbt in jede Studie, die nicht bei Drei auf dem Baum ist. So und ähnlich war der Tenor der kleinen und großen Lobhudeleien und Freuden über die Ernennung Karl Lauterbachs zum obersten Gesundheitsaufseher des Landes im Zuge der Regierungsübernahme der Ampel.

Doch nun werden die Töne selbst aus jenen Ecken kritischer, die bisher eher mit, sagen wir, einer tendenziell freundlichen Berichterstattung über Lauterbach aufgefallen sind, und auch sonst eher, sagen wir erneut, sich nicht gerade zu den Corona-Maßnahmen-Kritikern zählen ließen, obwohl genau das eigentlich Aufgabe des Journalismus gewesen wäre. Denn Redaktionen sind eben keine PR-Abteilungen für die Spitzenpolitik.

Das können nur Hellseher

Doch wie dem auch sei: Die Nachrichtenseite T-Online etwa hat jüngst einen Text veröffentlicht, der eine „Rekonstruktion des Absturzes“ von Karl Lauterbach sein soll und der mit der Zeile versehen wurde, dass der Gesundheitsminister vom „Liebling der Nation“ zum Minister geworden sei, „an dem nicht nur die Opposition verzweifelt“. Wenn Sie mich fragen, ist diese Diagnose schon deshalb falsch, weil die Ausgangsperspektive falsch ist. Stimmt schon, Karl Lauterbach erfreute sich als Mahner und Warner, als „Corona-Kassandra“, wie manch böse Zunge spottete, einer gewissen Beliebtheit bei jenen, die meinten, jede Maßnahme sei schon deshalb eine gute Maßnahme, weil sie sich gegen Corona richtet, ungeachtet von Sinn und Unsinn und den gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen. Und ja, es mag auch stimmen, dass die Mehrheit der Bevölkerung nach Umfragen pro Lauterbach war – und vielleicht sogar immer noch ist, obgleich man freilich nicht wirklich in die Köpfe der Leute schauen kann, auch nicht als Umfrageinstitut. Das können nur Hellseher.

 

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Daraus aber einen „Liebling der Nation“, ob ehemals oder immer noch, zu konstruieren, scheint mir eine Fehleinschätzung zu sein: Denn im Umkehrschluss war Lauterbach eben auch stets einer, der nicht nur ambivalente Gefühle bei einem Teil der Bevölkerung auslöste, sondern geradezu einen Zorn biblischen Ausmaßes. Daher nachfolgende Einschätzung meinerseits, die man freilich auch anders sehen kann: Lauterbach war von Anfang an eine Fehlbesetzung für den Posten, nicht unbedingt fachlich, nicht mal menschlich, sondern, weil es in aufgeregten Zeiten wie diesen eben tendenziell eher eine blöde Idee ist, Leute in politische Spitzenposten zu hieven, von denen man weiß, dass ihre Ernennung und Vieles von dem, was sie dann im Amt sagen und tun werden, immer und immer wieder ganz viel Öl ins Feuer gießen wird. Kurzum: Lauterbach war nie „Liebling der Nation“, höchstens „Liebling eines Teils der Nation“, wenn man so will – und der Rest: wie bereits beschrieben.

Datenlage: unzureichend

Nun also das: Der zur Evaluierung der Corona-Politik der politisch Verantwortlichen und des Robert-Koch-Instituts einberufene interdisziplinäre Sachverständigenausschuss stellte heute seinen heiß erwarteten 165 Seiten starken Bericht vor. Und der ist nicht in Gänze, aber doch teilweise ein eher schlechtes Zeugnis für die verantwortlichen Akteure. Der Bericht wurde vorab an die Kollegen der Welt durchgestochen, das ist legitim, das ist politikjournalistisches Daily Business. Die Mikro-Kurzfassung liest sich dort so: Datenlage: unzureichend. Beschlüsse: intransparent. Maßnahmen-Wirkung: nicht abschließend zu klären.

„Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben“, zitierte die Welt vorab aus dem Report. Und weiter: Es gebe keinerlei Forschungskonzept, „um (…) auf Grundlage besserer Daten und darauf aufbauender Analysen die anstehenden Entscheidungen in der Pandemie zu fällen“. Und noch weiter: „Der Bericht kommt einer Abrechnung mit Politik und Behörden gleich – etwa mit dem RKI.“ Das sei seiner Aufgabe, heißt es im Report unterm Strich, als „zentrale Forschungs- und Referenzeinrichtung für Infektionskrankheiten“ mindestens in Sachen Forschung nicht gerecht geworden. 

Die Deutsche Presse-Agentur bewertet das Ergebnis etwas milder als die Welt, spricht von einer „gemischten Bilanz“ und listet unter anderem auf: Lockdown-Maßnahmen seien primär am Anfang einer Pandemie sinnvoll, Zugangsbeschränkungen wie Testpflichten vor allem in den ersten Wochen nach der Boosterimpfung und eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken sei aus den bisherigen Daten „nicht ableitbar“. Ebenso wenig ließ sich eine Antwort auf die Frage finden, ob Schulschließungen wirklich zur Eindämmung der Virus-Ausbreitung beigetragen haben. Daher solle eine weitere Expertenkommission, heißt es, die nicht beabsichtigten Folgen „unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls“ genau prüfen.

Das mag auf den ersten Blick meinetwegen eine „gemischte Bilanz“ sein, wie die dpa schreibt, auf den zweiten Blick ist diese aber dennoch fatal, weil man all das eben nicht nur auf Basis der Lektüre, sondern im Gesamtkontext betrachten muss: Die Corona-Politik hat in Deutschland zu den größten Einschränkungen in Nicht-Kriegszeiten geführt. Daher kann man die Evaluation auch nicht bewerten, wie man einen Expertenbericht über ein mögliches Tempolimit auf der Autobahn bewerten würde oder eine Aufarbeitung der Frage, ob es richtig war, einen Baum in irgendeiner Straße zu fällen, obwohl Großmutter jetzt keinen Schattenplatz mehr vor der Haustür hat.

Man hat es kommen sehen

Genau genommen, hätte man den Pandemie-Kurs der ehemaligen wie der derzeitigen Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren aber ohnehin nur einigermaßen nüchtern beobachten müssen, um zu dem Schluss zu kommen, dass so einiges faul war und ist in der Coronarepublik Deutschland. Daher sollten die Ergebnisse der Evaluation, obgleich viele Fragen noch offen bleiben – wie die Kosten-Nutzen-Analyse der Maßnahmen oder die Frage nach Sinn und Unsinn einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht – nicht sonderlich überraschen. Gleichwohl drängt sich die Frage auf, was eigentlich noch alles nachweislich nicht ordentlich laufen muss in der deutschen Corona-Politik, dass endlich strukturelle und personelle Konsequenzen gezogen und damit ein pandemiepolitischer Neustart auf Augenhöhe mit der eigenen Bevölkerung eingeleitet werden kann?

Bereits vor der Veröffentlichung der Ergebnisse versuchten sich einzelnen Pro-Maßnahmen-Akteure, wohlwissend, dass das Ergebnis des Sachverständigenausschusses ganz sicher keine Eins mit Stern für eine pandemiegetriebene Politik sein wird, bereits abzusichern. Von einer Wissenschaftsjournalistin der Süddeutschen Zeitung, die allen Ernstes behauptete, Maßnahmen seien nicht zwangläufig deshalb unwirksam, weil ihre Wirksamkeit nicht bestätigt sei – was für eine seltsame Beweisumkehr, die sich so auch gut und gerne auf die Frage anwenden ließe, ob es Außerirdische oder Engel gibt – bis zum Gesundheitsminister höchstpersönlich, der in den vergangenen Wochen wiederholt betonte, dass er das Ergebnis des Sachverständigenausschusses ohnehin nur als quasi Puzzle-Teil in der Gesamtbetrachtung seines künftigen Corona-Kurses werten werde. Was übersetzt doch heißt: „Mir egal, was dabei rauskommt, ich mache sowieso, was ich will!“

Vom Ende her denken

Gut, diese Übersetzung mag eine etwas unfaire Interpretation sein. Aber das ändert nichts daran, dass Lauterbach zunehmend trotzig auf (anstehende) Kritik reagiert, was mindestens unfair gegenüber 80 Millionen Menschen im Land ist, denen seit über zwei Jahren allerhand abverlangt wird und die freilich das Recht haben, zu wissen, ob jede Entbehrung, die sie auf sich genommen haben, wirklich mehr war als nur ein pandemiemasochistischer Akt für etwas weniger Angst vor einem neuartigen Virus.

Diese Menschen haben das Recht, zu erfahren, ob sich der ganze Schmarrn, wie man bei uns in Bayern sagt, wirklich gelohnt hat. Und wenn es dafür keine Belege gibt, mehr noch, ein Sachverständigenausschuss zu dem Ergebnis kommt, dass da einige, die im Prinzip Menschen zuhause einsperrten und Kinder stundenlang unter Masken gezwungen haben, ihrerseits keinen ausreichend guten Job gemacht haben: dann haben wir ein echtes Problem, liebe Verantwortliche – und Karl Lauterbach auch.

Denn die Sommerwelle soll ja bereits da sein, sagt die Tagesschau, und die nächste Winterwelle kommt bestimmt, sagen im Prinzip alle, die sich auskennen. Und Sars-Cov-2 wird auch nicht das letzte Virus bleiben, das über unsere globalisierte Gesellschaft hereinbrechen und sich über alle Kontinente verbreiten wird. Ob nun von Mensch zu Mensch oder von Leopard zu Mensch. Deshalb braucht es Entscheidungsträger, denen die Leute vertrauen können, die in der Lage sind, ihre Politik nicht nur eindimensional auf die Bekämpfung eines Virus auszurichten, sondern immer so sorgsam wie nur möglich auch alles andere im Blick haben, was mit ihren Maßnahmen einhergeht und eben, ob ihre Maßnahmen wirklich, weil nachweislich Sinn machen. Alles andere nennt sich Spekulation.

Frisches Personal im Cockpit

Kurzum: Wir brauchen in der Corona-Politik mehr Leute, die die Dinge vom Ende her denken, wie es so schön heißt. Denn so eine Aufarbeitung ist zwar richtig und wichtig, aber besser wäre halt, vorher einiges richtiger und fundierter zu machen, sodass der Bericht eines Sachverständigenausschusses hinterher spürbar besser ausfällt. Das ist in der Politik nicht anders als in der freien Wirtschaft. Ich sage an dieser Stelle gleichwohl nicht, dass Karl Lauterbach zurücktreten muss. Ich sage nur, dass dieser Report das nächste Anzeichen ist, dass der Gesundheitsminister gerade seine persönliche Kassandra-Dämmerung erlebt. Ob es gleich ein Absturz ist, wie T-Online analysiert, sei einmal dahingestellt. Aber es ist zumindest ein Absacken infolge zunehmender Turbulenzen. Daher wäre es vielleicht an der Zeit, für frisches Personal im Cockpit zu sorgen.

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