Erstes Merkel-Interview nach Karriereende - Ein bisschen Elder Stateswoman

Angela Merkel hat sich erstmals seit Ende ihrer Amtszeit den Fragen eines Journalisten gestellt. Im Berliner Ensemble plauderte die ehemalige Bundeskanzlerin unter anderem über einsame Monate an der Ostsee und schilderte ihre Perspektive auf den Ukraine-Konflikt. Der Auftritt war schon deshalb interessant, weil Merkel dies das erste Mal frei von partei- und machtpolitischen Konventionen tun konnte. Aber kann sie auch Welterklärerin?

Angela Merkel während ihres ersten Interviews nach ihrer Amtszeit / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Manch einer dürfte sich noch gut erinnern an die Auftritte Helmut Schmidts, bei denen der einstige Bundeskanzler vielrauchend seine Sicht auf die Dinge und die Welt erklärte. In der Rolle des Welterklärers ganz er selbst, ohne Scheu vor Kritik, dafür mit dramaturgischen Pausen an jenen Stellen, wo er es für richtig hielt. An der Zigarette ziehen, einatmen, den Kopf neigen, langsam ausatmen, dann antworten. Der Glimmstängel als ewiger Wegbegleiter und als Statist für einen, der mindestens in späteren Jahren – im besten Sinne – auch irgendwie zur Kunstfigur geworden wahr. Mit seinem Tod vor fast sieben Jahren hat Schmidt dann eine Lücke hinterlassen, die bisher niemand in Deutschland imstande war, auszufüllen: die des Elder Statesman.

Eine Rolle, der vielleicht noch ein Wolfgang Schäuble gerecht werden könnte. Aber selbstredend nicht in dem Maße wie Schmidt, weil er eben nie Bundeskanzler war. Und von jenen, die es waren, war Helmut Kohl zu lange krank, aber auch nie intellektuell genug. Und Gerhard Schröder, nun ja, der hat irgendwann ohnehin beschlossen, sein politisches Lebenswerk für eine Handvoll Rubel implodieren zu lassen. Bleibt also nur noch Angela Merkel. Schließlich ist die ehemalige Bundeskanzlerin seit ziemlich genau einem halben Jahr außer Dienst, hätte entsprechend Zeit, sich dann und wann als Elder Stateswoman zu Wort zu melden und in die großen Debatten unserer Zeit einzumischen. Als Sprecherin aus dem Off, wenn man so will. Aber kann Angela Merkel auch Welterklärerin?

Frei von machtpolitischen Konventionen

Nun wäre es ein Leichtes, Merkel dies direkt abzusprechen. War sie doch all die Jahre überaus schweigsam und verriet auch immer dann ihre vermeintlichen politischen Überzeugungen, wenn der Wind ungünstig drehte, was sie in ihrer Amtsführung doch sehr von einem Bundeskanzler Schmidt unterschieden hat: bei der Aussetzung der Wehrpflicht, bei der Atomkraft nach Fukushima, bei den offenen Grenzen während der Flüchtlingskrise, bei der Einführung der Homo-Ehe, für die sie zwar nicht stimmte, deren politische Wegbereiterin sie de facto aber war. Verwalten statt gestalten, so lässt sich ihr Politikstil beschreiben. Etwas freundlicher formuliert, war sie alternativ auch einfach die Kanzlerin der Kompromisse. Was wirklich von ihr bleiben wird, klärt dann irgendwann die Geschichtsschreibung final. Ganz sicher.

Doch nach der Amtszeit ist eben nicht während der Amtszeit. Und so blickte der ein oder andere Zuschauer am Dienstagabend – der Autor dieser Zeilen inklusive – vielleicht doch etwas neugierig auf die Kanzlerin und die Rolle, die sie künftig gedenkt einzunehmen. Oder halt auch nicht. Auf eine einst sehr mächtige Frau, die sich erstmals frei von partei- und machtpolitischen Konventionen den Fragen eines Journalisten stellen konnte. Die Bundeskanzlerin a.D. war dafür ins Berliner Ensemble gekommen. Und der TV-Sender Phoenix übertrug ab 20 Uhr live, was der Spiegel-Journalist und Autor Alexander Osang unter dem Veranstaltungstitel „Was also ist mein Land?“ fragte und Angela Merkel antwortete.

Da saß die ehemalige Kanzlerin also, schwarze Hose, blaues Jackett, eine Hand am Mikrofon, und erwartete Osangs Fragen wie eine, die, am ruhigen Meer stehend, die nächste Welle erwartet. Wohl wissend vielleicht, dass es vermutlich keine allzu große Welle sein wird, die da kommt. Oder vielleicht doch? Merkel jedenfalls dürfte auf beides vorbereitet gewesen sein an diesem Abend, an dem sie für gut eineinhalb Stunden aus der stillen Versenkung der Rente emporgestiegen war, um vielleicht auch Erinnerungen wach werden zu lassen an diese 16 Jahre ihrer Kanzlerschaft. Und ein bisschen drängte sich beim Zuschauer dann kurz das Gefühl auf, dass der Begrüßungsapplaus im Saal sie sogar rührte. Aber wer weiß schon wirklich, was in ihrem Kopf vorgeht? 

Ihr gehe es gut, sagte Merkel zu Beginn des Gesprächs jedenfalls. Und dass es ein „schönes Gefühl“ sei, selbst über das Ende ihrer politischen Karriere entschieden zu haben („Ich konnte die Macht gut abgeben“). Aber auch „bedrückt“ sei sie manchmal, sagte Merkel, angesichts der Lage in der Welt. Sie habe viel gelesen im vergangenen halben Jahr, alleine ausgespannt an der Ostsee, wo sie sich besser auskenne als etwa an der Nordsee, und MacBeth als Hörbuch gehört. Langweilig sei es ihr dabei nicht geworden, so Merkel. Und weiter: „Ich glaube, dass ich mit diesem neuen Lebensabschnitt sehr gut zurechtkomme und sehr glücklich sein kann.“ Merkel alleine im Winter an der Ostsee, MacBeth im Ohr: Das erste interessante Bild über die Kanzlerin und ihr Leben nach der Politik war im Berliner Ensemble schon früh gezeichnet.

Eine solche Tragik verhindern

Gleichwohl habe sie, der Einsamkeit zum Trotz, verfolgt, was in der Welt, insbesondere im Osten Europas, derweil ausgebrochen ist; mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. „Was ich mich natürlich gefragt habe, ist, was hat man vielleicht versäumt? Hätte man noch mehr tun können, um eine solche Tragik zu verhindern?“, so Merkel. Osang, der immer wieder auch mit Humor nachfragte, wollte es genauer wissen: Was hätte man tun können? „Ich hatte den Eindruck, dass ich mich eigentlich in meiner ganzen Kanzlerschaft ununterbrochen mit den Fragen, die aus dem Zerfall der Sowjetunion und den daraus entstehenden Konstellationen entstanden sind, beschäftigt habe“, so die ehemalige Kanzlerin. 

Merkel erinnerte sich auf der Bühne an einen Besuch in Sotschi bei Wladimir Putin, als der davon gesprochen habe, dass für ihn der Zerfall der Sowjetunion „die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Für sie, so Merkel, sei es wiederum der „Glücksumstand meines Lebens“ gewesen. „Da war schon ganz klar, dass da ein großer Dissens ist. Und dieser Dissens hat sich immer fortentwickelt.“ Und weiter: „Es ist nicht gelungen in all diesen Jahren, sozusagen den Kalten Krieg wirklich zu beenden“ und „eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die dieses hier (Ukraine-Krieg; Anm. d. Red.) hätte verhindern können“. Darüber müsse man schon nachdenken, so Merkel. Gleichwohl sei der Angriff Russlands auf die Ukraine „ein brutaler, das Völkerrecht verachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt“. Applaus im Saal.
 

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Den Vorwurf übrigens, Merkel habe mit ihrer Appeasement-Politik gegenüber Russland ihren Teil dazu beigetragen, dass es später überhaupt zum russischen Angriff auf die Ukraine kommen konnte, ließ sie nicht auf sich sitzen. Sie sagte unter anderem: „Diplomatie ist, wenn sie nicht gelingt, ja deshalb nicht falsch gewesen.“ Außerdem habe sie nie, anders als gerne behauptet werde, an einen „Wandel durch Handel“ geglaubt, so Merkel. Sondern, so die Kanzlerin unterm Strich, daran, dass Handel Beziehungen wenigstens ein bisschen verbessern kann, wenn das politisch schon nicht gelingen will.

Weitere Themen waren etwa der Zustand der Bundeswehr („Von verlottert würde ich jetzt nicht sprechen“), deren Einsatz in Afghanistan („Ich habe mir nie Illusionen gemacht, dass sich ein Land wie Afghanistan innerhalb von 15 Jahren befrieden lässt“) und die CDU („Ich wünsche der CDU von Herzen alles Gute“). Außerdem sprach Merkel über den „Zug der Zeit“, wonach sich die öffentliche Aufmerksamkeit immer nur auf eine große Sache konzentriere. Derzeit eben auf die Ukraine und nicht mehr auf Afghanistan oder Syrien.

Vertrauen in die aktuelle politische Führung

Folgt man Angela Merkels Worten, dann hat die Kanzlerin a.D. nach wie vor übrigens Vertrauen in die politische Führung des Landes, namentlich in Olaf Scholz. Außerdem, so Merkel über ihren Abschied aus der Politik, sei es „manchmal auch wichtig, dass neue Gedanken reinkommen, neue Impulse und neue Konstellationen“. Und weiter sagte sie: „Menschliches Leben ist endlich und politische Verantwortung ist auch endlich. Und ich finde, mit 16 Jahren habe ich jetzt kein Unterkontingent.“ Lacher im Saal.

Es waren Sätze wie diese, gespickt mit kleinen Pointen, mit denen Merkel das Gespräch immer wieder auflockerte. Kleine und heitere Momente, die sie als Brücken zwischen ihre sachlichen Argumente baute. Manchmal schweifte sie auch ab, erzählte etwa von Bhutan, wo sie dereinst hinreisen wollte, um dann verblüfft festzustellen, dass Deutschland gar keine diplomatischen Beziehungen zum Land unterhalte. Wieder Lacher im Saal. Nach eineinhalb Stunden war das Gespräch dann vorüber.

Merkel wird über Merkel entscheiden

Kann Angela Merkel also Welterklärerin? Die Antwort lautet: Es kommt darauf an, was von ihr in einer solchen Rolle erwartet würde. Ihr Auftritt im Berliner Ensemble am Dienstagabend jedenfalls war ein kurzweiliger, einer, bei dem es Angela Merkel gelungen ist, die Balance zu halten zwischen politischer Ernsthaftigkeit und ein bisschen Entertainment. Man hätte sich hier und da vielleicht noch mehr kritische Nachfragen von Osang gewünscht, aber das soll eine Randnotiz bleiben. Denn Zeit ist eben begrenzt, auch die der ehemaligen Kanzlerin.

Egal, wie man zu Merkel und ihrer Politik auch stehen mag, war es unterm Strich dann doch eine gelungene Abwechslung, die Frau mit der Raute mal wieder zu hören und ein bisschen von dem, was sie denkt über die Welt. Ob Merkel selbst überhaupt wieder stärker zurück will in die Öffentlichkeit und wenn ja, in welcher Rolle eigentlich, das steht ohnehin auf einem anderen Blatt. Denn die Kanzerlin a.D. ließ am Dienstagabend in einer Sache keine Zweifel aufkommen: Sie hat selbst entschieden, wann es vorbei war mit ihrer politischen Karriere. Das sei auch gut so gewesen. Und sie wird entsprechend auch selbst entscheiden, wann, wie und ob sie bald wieder häufiger emporsteigen wird aus der stillen Versenkung der Rente.

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