Digital Services Act - Ein Aufruf zur Denunziation

Die Bestimmungen des Digital Services Act der Europäischen Union enthalten auch Verordnungen, die zu Denunziation und Zensur förmlich aufrufen. Das schadet der Demokratie mehr als es ihr nützt.

Gilt seit dieser Woche: der Digital Services Act (DSA) / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Seit dieser Woche gilt er nun: der Digital Services Act (DSA). Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit und weitestgehend unter dem Radar der allermeisten Mediennutzer greift damit das bisher umfassendste Regelungswerk für den digitalen Raum. Veröffentlicht wurde die Verordnung am 19. Oktober des vorigen Jahres. Am 17. Februar 2024 tritt sie in vollem Umfang in allen Mitgliedstaaten der EU in Kraft.

Bezüglich „sehr großer Online-Plattformen und sehr großer Online-Suchmaschinen“ greifen die Bestimmungen des DSA allerdings schon ab dem 15. August 2023. Als sehr groß gelten nach Artikel 33 der Verordnung Plattformen oder Suchmaschinen, „die eine durchschnittliche monatliche Zahl von mindestens 45 Millionen aktiven Nutzern in der Union haben“. Das betrifft u.a. Google, Bing, Amazon, Facebook, Instagram, LinkedIn, Pinterest, Snapchat, TikTok, Twitter, Wikipedia YouTube oder Zalando.

 

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Diese sind nun nach Artikel 34 verpflichtet, Risikobewertungen durchzuführen. Als Risiken sind definiert: die „Verbreitung rechtswidriger Inhalte“, „etwaige tatsächliche oder vorhersehbare nachteilige Auswirkungen auf die Ausübung der Grundrechte“, „alle tatsächlichen oder absehbar nachteiligen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte“, „alle tatsächlichen oder absehbaren nachteiligen Auswirkungen in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt, den Schutz der öffentlichen Gesundheit und von Minderjährigen“.

Schon an diesem Punkt wird es kritisch. Was genau sind eigentlich „nachteilige Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte“? Was sind „alle tatsächlichen oder absehbaren nachteiligen Auswirkungen“ auf die öffentliche Gesundheit? Leider operiert die Verordnung mit Begriffen, die so stahlhart sind wie ein Pudding. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich etwa – nur als Beispiel – eine Pandemie vorzustellen, in deren Rahmen sich Betreiber von YouTube-Kanälen oder Instagram-Accounts kritisch mit den Maßnahmen der Politik auseinandersetzen. Ist das dann schon eine nachteilige Auswirkung auf die öffentliche Gesundheit? Muss der entsprechende Kanal dann nicht als Risiko eingeschätzt und gegebenenfalls umgehend gesperrt werden? Und sei es nur – aus Sicht der Medienunternehmen – nach dem Motto: sicher ist sicher?

Wer sind die „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“?

In eine ähnlich ungute Richtung weist auch der Artikel 35. Hier geht es um die Risikominderung im Sinne der oben genannten Risiken. Unter Punkt h) empfiehlt die Verordnung etwa die „Anpassung der Zusammenarbeit mit vertrauenswürdigen Hinweisgebern“. Nach einem anderen Artikel ist das eine Person oder Institution, die „besondere Sachkenntnis und Kompetenz in Bezug auf die Erkennung und Feststellung rechtswidriger Inhalte“ hat. Auch hier braucht es keine überschäumende Einbildungskraft, um sich auszumalen, wie etwa eine besonders kompetente Institution wie die staatliche geförderte Amadeu-Antonio-Stiftung migrationskritische Beiträge in sozialen Netzwerken umgehend als rassistisch und menschenverachtend einstuft und bei den Netzwerkbetreibern meldet.

Ohnehin hat der DSA eine sehr unschöne Tendenz zur Förderung der Denunziation. Nach Artikel 16 haben Hostingdienste-Anbieter Verfahren einzurichten, „nach denen Personen oder Einrichtungen ihnen das Vorhandensein von Einzelinformationen in ihren Diensten melden können, die die betreffende Person oder Einrichtung als rechtswidrige Inhalte ansieht“. Man beachte dabei die subjektivistische Formulierung, nach der Inhalte gemeldet werden sollen, die eine Person oder Institution als rechtswidrig „ansieht“. Damit ist der üblen Nachrede oder Verleumdung im Grunde Tür und Tor geöffnet. Denn etwas als rechtswidrig „ansehen“, kann man alles Mögliche.

Einer der im DSA am häufigsten verwendeten Begriffe ist die „Desinformation“. Gegen deren Verbreitung wendet sich die Verordnung wiederholt und mit Nachdruck, bezeichnender Weise ausschließlich in den insgesamt 156 Erwägungsgründen, die dem eigentlichen Regelungstext vorgeschaltet sind. Auf insgesamt 40 Seiten (die Gesamtverordnung umfasst schlappe 102 Seiten) kann man dort lesen, warum der DSA so dringlich ist. Und einer der wichtigsten Gründe sind „Desinformationen“, da sie negative Auswirkungen auf die Demokratie und die Gesellschaft haben.

Wer definiert, was eine Desinformation ist?

Das ist sicher nicht falsch. Das Problem ist aber auch hier: Was genau ist eine Desinformation? Jede Ansicht, die von derjenigen der Regierung und ihr nahestehender Experten abweicht? Das wäre eine erstaunliche Entwicklung unserer Demokratie. Wahr ist, was die Regierung und ihr politisches Umfeld sagen?

Und überhaupt: Bedeutet freie Meinungsäußerung nicht, dass man das Recht hat, Unsinn zu verbreiten? Freie Meinungsäußerung meint, dass man mit den abstrusesten Theorien hausieren gehen darf. Wenn jemand der Meinung ist, das Weltgeschehen werde von grünen Männchen auf dem Mars gesteuert, so darf er das in Wort, Bild und Ton jederzeit und überall sagen. Diese Theorien auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, obliegt nicht der Regierung. Sondern der mündigen Öffentlichkeit.

Keine Frage, der DSA hat auch sinnvolle Bestimmungen. Etwa zum Verbraucherschutz bei Online-Händlern, hinsichtlich manipulativer Werbetechniken und Jugendschutzmaßnahmen. Doch die eigentliche Stoßrichtung der Verordnung geht in Richtung Kontrolle über Meinungsäußerungen. Mit der Aufsicht über die als Risiken eingestuften Formen von Beiträgen aller Art werden die großen Internet-Plattformen beauftragt (hier steht das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 Pate).

Gefördert werden Denunziation und die umgehende Sperrung ganzer Kanäle (samt wirtschaftlicher Folgen für die Betreiber) aufgrund mehr als unklarer Begriffe wie „nachteilige Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte“ oder „Desinformation“. Kein Zufall, dass schon der Name „Digital Service Act“ orwellsche Assoziationen weckt. Es steht zu befürchten, dass der DSA der Demokratie mehr schadet als nutzt.

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