Deutschlands Zukunft - In großer Sorge um unser Land

Die neue Bundesregierung macht schon zu ihrem Start keinen realitätstüchtigen Eindruck. Sie verweigert sich einer belastbaren Bestandsaufnahme und pflegt lieber Symbolpolitik zur Befriedigung persönlicher Befindlichkeiten. Weshalb die Realität diese Regierung überfordern wird.

Bildungspolitik werde durch Symbolpolitik ersetzt, kritisiert Jens Peter Paul / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Es ist ein gängiger Vorwurf an die politische Kaste und ihre medialen Begleiter, sie lebten in einer eigenen Welt, die mit der Realität nicht mehr viel zu tun habe, einer ganz speziellen Blase von Berlin-Mitte. Das Dumme ist: Der Vorwurf trifft zu, und zwar deutlicher als je zuvor. Vergleicht man den rot-grün-gelben Koalitionsvertrag mit den wirklichen Problemen, denen sich diese Regierung in den kommenden vier Jahren voraussichtlich gegenübersehen wird, so hat die Realitätsverweigerung längst Ausmaße angenommen. Die Ampelkoalition bildet sich Gestaltungsmöglichkeiten ein, die nicht einmal mehr entfernt gegeben sind, während sie das tatsächlich Notwendige ausblendet.

Die Ära Merkel hat Deutschland in einem bedauernswerten Zustand hinterlassen. Dieser wird andere Prioritäten erzwingen als jene, die sich das Kabinett Scholz verordnet hat, um die Welt, wie sie glaubt, besser zu machen. Statt „Mehr Fortschritt wagen“ – was eine schon in sich widersinnige Parole ist, denn echter Fortschritt wäre ja gar kein Wagnis, sondern eine Verheißung – geht es rational agierenden Politiker vielmehr darum, Fehlentwicklungen umzukehren und das Schlimmste zu verhindern, soweit dies noch möglich ist. Doch fehlen dafür Bewusstsein und Wille. Rationalität ist out, Ideologie ist in. Die große „Transformation“, ein Begriff, der keineswegs zufällig an Chinas Kulturrevolution erinnert, verkennt, dass das Fundament der Bundesrepublik längst an allen Ecken und Enden bröckelt. 

Problemzone Energieversorgung

Um das zu tun, was offensichtlich auch von einem Bundeskanzler Scholz nicht mehr im letzten Moment gestoppt werden soll, die Abschaltung von weiteren dreien der letzten sechs Atomkraftwerke sowie einer ganzen Reihe weiterer Kohlekraftwerke, gehört ein Ausmaß an Ideologisierung, das man bis vor einiger Zeit nicht einmal den Grünen unterstellt hätte. Es ist schlicht irrational, der Sicherheit der deutschen Stromversorgung weitere und irgendwann entscheidende Schläge zu versetzen, weil das eine Bundeskanzlerin in einer panischen Kehrtwende vor knapp elf Jahren einmal so zum Entzücken der Grünen entschieden hat.

Niemand, der von sich behaupten möchte, die Dinge vom Ende her zu denken, kann diesen Plan am Ende des Jahres 2021 noch auf Teufel komm 'raus vertreten, schon gar kein Physiker. Das verbietet schon die einfachste Risikoanalyse. Ein flächendeckender Stromausfall wird Opfer und Schäden an Mensch und Material zur Folge haben, der sich nicht einmal annähernd durch das hehre Ziel einer „Klimaneutralität“ irgendwann 2050 rechtfertigen lässt.

Vielmehr wird der Rest der Welt das Scheitern Deutschlands als Beweis für die These deuten, hier seien wie bereits bei ihrer Asyl- und Einwanderungspolitik Hippies am Werk, die nicht wissen, was sie tun, das aber unbeirrbar und mit ganzer Kraft. Die erhoffte Vorbildfunktion, von der SPD und Grüne rund um die Uhr schwadronieren, wird sich ins Gegenteil verkehren, und zwar innerhalb von 72 Stunden.

Die FDP tut derweil so, als gehe sie das nichts an, weil ihr das Thema, wie Christian Lindner vor sechs Wochen meinte, nicht wichtig genug ist, deswegen Krach mit den beiden anderen Parteien anzufangen. Wie unklug von ihm. Es handelt sich um die selbstverschuldete Schaffung zusätzlicher Sorgen bis hin zu Katastrophen, die man durch schlichtes Unterlassen einer vorsätzlichen Dummheit hätte vermeiden können. Und nein, zum hundertsten Mal: Ist der Blackout erst einmal da, geht der nicht einfach wieder weg durch Wiedereinschalten des letzten Kraftwerks – das Netz, einmal zerrissen, erleidet dauerhaften Schaden. Zumal sich die Nachbarn, Österreich ist ein Beispiel, sofort von Deutschland abkoppeln werden.

Problemzone Währung

Noch einmal kniffliger im Hinblick auf Ursachen und Lösung ist der sich anbahnende Großkonflikt um die Zukunft der europäischen Gemeinschaftswährung. Das letzte verbliebene Argument, die „Geldwertstabilität“ des Euro im Vergleich zur D-Mark, zerbröselt pünktlich zum 20. Jahrestag der Bargeldeinführung vor aller Augen – mit Inflationsraten, die man seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Während die US-Notenbank Fed am Mittwoch überraschend sogar drei Zinserhöhungen für das Jahr 2022 ankündigte, verlegte sich die Europäische Zentralbank auf Hoffen und Beten, es werde schon nicht so schlimm kommen.

Auch im Frankfurter Euro-Tower werden also Vernunft und Wissenschaft durch Ideologie und Beschwörung ersetzt, was insofern folgerichtig ist, als sich Präsidentin Christine Lagarde neuerdings mehr der Klimarettung verpflichtet sieht als der Preisstabilität, worauf sie aber bei Amtsantritt vereidigt worden ist. SPD und Grüne finden das klasse – die einen, weil sie keinen Ärger mit Paris wollen, die anderen, weil ihnen Jens Weidmann, der sich am Dienstag beim Bundespräsidenten seine Entlassungsurkunde abholen wird, ohnehin nicht kreativ genug war beim Gelddrucken, Staatenfinanzieren und Klimaretten.

Auch zu dieser Entwicklung ist ein irgendwie greifbarer Kommentar des FDP-Vorsitzenden und Bundesfinanzministers nicht überliefert. Und das, obwohl das Vertrauen in unser Geld nun wirklich ein liberales Kernanliegen sein sollte. Wehe aber der Europäischen Union und der Eurozone, sollte das Vertrauen in die Währungsunion erst einmal richtig ins Rutschen geraten, wie es sich bereits andeutet. Das hält niemand mehr auf, wie das Beispiel der Türkei nur zu deutlich zeigt.

Problemzone Einwanderung

Die Hoffnung großer Teile gerade der FDP-Wähler, mit einem Ende der Ära Merkel würde wieder Verstand Einzug halten in die bundesdeutsche Asyl- und Einwanderungspolitik, erfüllt sich augenscheinlich ebenfalls nicht. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die neue Bundesministerin des Innern weitere 25.000 Afghanen nach Deutschland holen will, obwohl weder realpolitisch noch moralisch irgendeine Verpflichtung erkennbar wäre und es sich inzwischen herumgesprochen hat, dass die Integration von Afghanen mit ihrer der unseren entgegengesetzten kulturellen Prägung ganz besonders schwierig ist.

Auf die Idee, zum Beispiel den regimekritischen Einwohnern von Hongkong hierzulande eine neue Heimat zu bieten, scheint diese Bundesregierung dagegen keine Sekunde lang gekommen zu sein. Stattdessen arbeitet sie fleißig an neuen Konjunkturprogrammen für die AfD. Die kann abdriften, so weit sie will – Linken und Grünen fällt immer wieder etwas Neues ein, ihr neue Argumente zu liefern und sie am Leben zu erhalten. 

Problemzone Renten und Pensionen

Erst recht keinen Plan hat die neue Regierung im Hinblick auf die demographische Katastrophe, die mit dem Ruhestand immer größerer Teile der geburtenstarken Jahrgänge ab 1957 längst in Gang gekommen ist. Nicht nur, dass diese Frauen und Männer ab ihrem Tag X als Beitragszahler ausfallen, und zwar angesichts ihrer überdurchschnittlich guten Entlohnung mit hohen Summen – sie werden ja in diesem Moment auch zum Zahlungsempfänger. Daraus folgt in jedem Einzelfall ein doppelter finanzieller Schaden für die Solidargemeinschaft und die Staatskasse. Einfachste Mathematik, so leicht anzuwenden wie Exponentialkurven in einer Pandemie, aber gerade deshalb missachtet, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Problemzonen Bildung, Bahn, Bundeswehr

Im Wochenrhythmus kollabiert irgendwo in Deutschland eine wichtige Verkehrsverbindung. Die Bundeswehr muss an allen Ecken und Enden den Ausputzer für eine überforderte Politik spielen. Das deutsche Bildungssystem ist hoffnungslos im Eimer und vermag nicht einmal mehr die Grundanforderungen im Hinblick auf Lesen, Schreiben, Rechnen und Denken zu erfüllen. Wehe dem Kind, das keine Akademikereltern mit Zeit, Geduld und Bildung zuhause hat, die die staatlich verschuldeten Lücken auszugleichen verstehen. Das ist das Gegenteil von „solidarisch“, „respektvoll“ und „gerecht“, diesen Lieblingsvokabeln von Rot-Grün, sondern im Gegenteil strukturell negativ für die kleinen Leuten. Und die Deutsche Bahn lässt ihre verbliebenen Kunden täglich aufs Neue rätseln, ob der Verzicht auf das Auto tatsächlich eine gute Idee ist, wenn Termine nicht mehr planbar sind. Auch ihre Infrastruktur wird seit 30 Jahren systematisch vernachlässigt, der Betrieb auf Verschleiß gefahren, was bekanntlich zum materiellen Konkurs der DDR wesentlich beigetragen hat.

Was not tut: anpacken, reparieren, aufräumen

Die neue Bundesregierung macht also schon zu ihrem Start keinen realitätstüchtigen Eindruck. Sie verweigerte sich zu ihrer Gründung einer belastbaren Bestandsaufnahme und pflegt lieber ihre persönlichen Hobbys, um abends mit einem guten Gefühl ins Bett gehen zu können, etwa, weil Geschlechtsumwandlungen künftig ohne Attest, sondern per einfacher Online-Meldung beim Standesamt möglich sein sollen, worauf das Land nun wirklich gewartet hat, während die neue Familienministerin „gendergerechte Sprache“ überall durchsetzen will. Das ist Symbolpolitik zur Befriedigung winzigster Lobbygruppen und persönlicher Befindlichkeiten, aber keine Arbeit für das Land und seine Menschen.

Der Reparaturbedarf ist enorm. Unangenehme Entscheidungen wurden Jahre, sogar Jahrzehnte aufgeschoben. Der Euro funktioniert nicht, was kein böser Wille von irgendwem ist, sondern weil er mit Einheitszinsen für Nord- und Südeuropa schlicht nicht funktionieren kann. Die demographische Entwicklung ist gnadenlos. Längst hätte eine automatische (!) Kopplung des Renteneintritts an die Lebenserwartung erfolgen müssen. Die Sicherheit unserer Energieversorgung wird aus ideologischen Gründen bewusst aufs Spiel gesetzt. Die Infrastruktur verkommt, weil sich mit altmodischen Kanal- und Brückensanierungen kein Lob einheimsen lässt.

Notwendig ist aber keine Gender-, sondern eine Ehrlichkeitsoffensive, denn nur zutreffende Analysen können zu funktionierenden Lösungen führen. So, wie das jetzt läuft, mit einer Fortsetzung und sogar Vergrößerung der Fehler der Ära Merkel, fährt das Land gegen die Wand. Aber niemand wird hinterher sagen können: Oh, das war jetzt aber nicht vorhersehbar.

Doch, es war.

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