Deutschlands Zeitenwende - Nicht weitersagen: Scholz führt

Die Wehrbeauftragte Eva Högl hat die „Zeitenwende“ als „zu behäbig“ kritisiert. In der tatsächlichen Umsetzung ist bisher nicht viel passiert. Doch entgegen anderslautender Meinungen, ist Olaf Scholz schon seit einiger Zeit dabei, seine Versprechen Wirklichkeit werden zu lassen.

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Generalleutnant Carsten Breuer im Rahmen eines Besuches des Territorialen Führungskommando der Bundeswehr in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin /dpa
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Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 2015–2020.

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Sie habe in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich noch immer nicht stattgefunden: die „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz nach Putins Überfall auf die Ukraine wuchtig ausgerufen hatte. So lautet ein Narrativ, das sich im Inland wie im Ausland bisher hartnäckig zu halten scheint. Für den Bereich der Verteidigungspolitik mag das sogar zutreffen. Durch die erratische Amtsführung einer ahnungslosen Ministerin ging ein ganzes Jahr verloren.

Aber der Kanzler selbst tut einiges dafür, die Erwartungen, die er geweckt hat, zu erfüllen. Auf einen politisch explosiven Begriff gebracht könnte man sagen: Scholz führt. Der 100-Milliarden-Sonderfonds für die Bundeswehr markierte innen- wie außenpolitisch den Übergang zum Führen von vorne, ohne langwierige Beratungen in der heimischen Regierungskoalition oder mit den europäischen Partnern.

Ebenso souverän fiel die Entscheidung für die Sicherstellung von Deutschlands nuklearer Teilhabe durch den Kauf neuer amerikanischer Bomber. Oder die Ankündigung, schnellstmöglich israelische Raketenabwehr-Systeme zu beschaffen. Oder die deutschen Gaskaufprogramme zum Preis von „what ever it takes“. In allen diesen Fällen war nicht nur die französische Regierung über den deutschen Unilateralismus irritiert.

Deutschlands politisches Gewicht

Gab es zu Anfang der Ukraine-Weltkrise noch aufeinander abgestimmte Besuche von Olaf Scholz und Emmanuel Macron in Kiew und am langen Tisch in Moskau und Monate später noch einmal eine gemeinsame Eisenbahnreise (Scholz, Macron, Draghi, Johannis) zum ukrainischen Präsidenten Selenskij, so fährt der deutsche Kanzler mittlerweile ganz überwiegend auf eigene Rechnung.

Die Idee, zu Chinas Diktator Xi Yinping gemeinsam mit Macron nach Peking zu fliegen, wurde verworfen. Um Xi ein Nein zum Einsatz russischer Atomwaffen abzugewinnen, sollte Deutschlands ökonomisches und politisches Gewicht groß genug sein – so die neue Linie in Berlin. Es gelang.
 

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In einer Nebenbemerkung seiner „Zeitenwende“-Rede vor dem Deutschen Bundestag hatte Scholz dieses ungewohnte nationale Selbstbewusstsein schon einmal auf den Punkt gebracht. Dass unser Land wieder eine „leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr“ bekomme, „die uns zuverlässig schützt“, erfordere eine „große nationale Kraftanstrengung“. Und fast trotzig fügte er hinzu, das sei „ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und Bedeutung in Europa“.

Größe und Bedeutung des vereinten Deutschlands wurden in der politischen Öffentlichkeit bisher eigentlich nur von ausländischen Stimmen thematisiert – meist unter Hinweis auf die damit verbundene Verantwortung für die internationale Ordnung. Tatsächlich ist Deutschland das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land Europas, die zweitgrößte Nato-Nation und die viertstärkste Volkswirtschaft der Welt, nach den USA, China und Japan. Wir können uns eigentlich nicht hinter anderen verstecken. Allenfalls noch hinter den USA (wovon Scholz in Fragen der Waffenlieferungen an die Ukraine auch routiniert Gebrauch macht).

Scholz „deutsche" Realpolitik

Aber der deutsche Akteur auf der Weltbühne tritt nicht mehr wie in der Merkel-Ära demonstrativ im europäischen Gewand auf. Bundeskanzler Scholz redet mit Modi in Indien, mit Lula in Brasilien, mit Biden in Washington, telefoniert mit Putin. Er tauscht sich weiterhin regelmäßig mit Macron aus, war öfter in Paris als in jeder anderen Hauptstadt, doch Scholz macht „deutsche“ Realpolitik. Für die Europäische Union mag dagegen Ursula von der Leyen auftreten oder der französische Präsident mit seiner überspannten Europa-Rhetorik, die in Berlin zunehmend als nervig empfunden wird.

Olaf Scholz neigt nicht dazu, sein politisches Handeln ausgiebig selbst zu erklären. Doch gibt es im Gefolge der Zeitenwende ganz offensichtlich eine wesentliche Akzentverschiebung der deutschen auswärtigen Politik. Und dabei geht es nicht um die feministische oder die Klima-Außenpolitik, sondern um die souveräne Wahrnehmung der gewachsenen Verantwortung Deutschlands in dem heraufziehenden existenziellen systemischen Konflikt. Vielleicht wird man Ausführungen zu dieser neuen Rolle verklausuliert in der mit Spannung erwarteten Nationalen Sicherheitsstrategie finden.

Laut deutsche „Führung“ beanspruchen zu wollen, käme in Europa, allen gegenteiligen Aufforderungen zum Trotz, nicht nur aus historischen Gründen nicht gut an. Das tut hier also niemand. Aber es liegt im Interesse des freien Westens, einschließlich Frankreichs und Polens, jetzt entschieden Deutschlands ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen.

 

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