Gebrauchsanweisung Deutschland, Teil I - Eiertanz auf dem Behördenweg

Wer den hiesigen Behördendschungel verstehen will, der lese entweder Franz Kafka oder er lerne den Amtsschimmel mit den Augen von Fremden zu sehen. Unserem Kolumnisten war Letzteres vergönnt. Erst mit Hilfe einer Ukrainerin hat er verstanden, dass in Deutschland auf Steuerzahlerkosten große bürokratische Mahlwerke bewegt werden, ohne dass sich für die Betroffenen irgendetwas ändert.

Im Land der kleinen Unterschiede: Tetiana mit unserem Kolumnisten Mathias Brodkorb / M. Brodkorb
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Wenn man in der ukrainischen Flüchtlingshilfe unterwegs ist, kann man ganz schön viel lernen. Gar nicht über die Ukraine und den Krieg. Sondern darüber, in welchem miserablen Zustand sich der deutsche Sozialstaat befindet. Die rechtlichen Reglungen haben ein Maß an Absurdität erreicht, das nur noch schwer erträglich und vor allem eines ist: eine veritable Verschwendung von Steuergeldern. Es ist ein wenig so, als zündete der Staat höchstselbst täglich dutzende Millionen von Euro an, um sie in Rauch aufgehen zu lassen. Und zwar für nichts und wieder nichts. 

Dies ist ein Erfahrungsbericht. Das hat mit Journalismus nichts zu tun. Ein Journalist schreibt aus der Helikopterperspektive: mit Überblick und ohne eigene Betroffenheit. Das kann ich in diesem Falle allerdings nicht liefern. Und ich will es auch gar nicht. Ich will erzählen, wie sich der Staat selbst erdrosselt. Durch unsinnige Regelungen und Bürokratie. Dass ich das erst durch Ukrainer lernen musste, spricht wiederum für sich. Mein gesamtes Leben habe ich privilegiert verbracht - ohne auf besondere Hilfsleistungen des Staates angewiesen zu sein. Seit Neuestem habe ich ein Gespür dafür, worunter Millionen Deutscher leiden, wenn Sie Hartz-IV beziehen. Aber das weiß ich von den Ukrainern.

Die Sache nahm so ihren Anfang: Natürlich war auch unsere Familie schockiert, als der Krieg in der Ukraine losbrach. Schon früh diskutierte ich mit meiner Frau, ob wir nicht jemanden aufnehmen wollen. Wer sollte es denn sonst tun, wenn nicht Privilegierte wie wir? Man kann ja schwerlich von einer drei- oder vierköpfigen Hartz-IV-Familie erwarten, dass sie ukrainische Flüchtlinge in ihrer kleinen Wohnung beherbergt. Die haben schließlich meist schon genug Probleme. 

Gesagt, getan: Als in Schwerin ein ukrainisches Waisenhaus ein Feriendorf beziehen soll, immerhin 150 Kinder mit Betreuern, melden wir uns bei der Stadt. Nach tagelangen Diskussionen steht der Entschluss fest: Eigentlich wollten wir immer schon zwei Kinder - und wir haben Platz. Also bieten wir uns als Pflegefamilie an. Und ja, wenn es so sein soll, auch für immer. 

Man muss was tun

Die vom Amt geschickte Dame kam sehr schnell vorbei, um die Wohnung zu inspizieren und natürlich auch uns. Sie schien gar nicht abgeneigt, machte uns aber auch keine Hoffnungen: dass wir ein ukrainisches Waisenkind zu Gesicht bekämen, damit sei nicht zu rechnen. Der ukrainische Staat wolle seine Kinder schließlich nicht verlieren. Die würden ja später, wenn der Krieg wieder vorbei ist, auch gebraucht. Nicht einmal die 150 Waisenkinder kämen nach Schwerin. Ihnen sei die Ausreise verweigert worden, unter Schussandrohungen. Der Grund: Unter den Betreuern waren auch Männer, die nicht hätten ausreisen dürfen. Das alles geschah im März 2022.

Aber man müsste doch eigentlich etwas tun. Darin waren meine Frau und ich uns ganz einig. Man müsste eigentlich! Das Problem: In der Jugend waren wir bei den Jungsozialisten in der SPD. Die diskutierten auch immer Woche um Woche, was man alles eigentlich tun müsste, aber taten es nie. Als Peer Steinbrück im Rahmen seiner Kanzlerkandidatur den Ausspruch „Hätte, hätte, Fahrradkette“ prägte, war das tief aus der sozialdemokratischen Seele gestöhnt. Sozis möchten gerne die Welt verändern, aber ohne dazu selbst allzu viel beitragen zu müssen. Sollen die Bonzen doch zahlen! Sozialdemokraten nennen das dann „Solidarität“.

Dass am Ende aus dem „hätte“ eine Wirklichkeit wurde, verdanken wir unserem Nachbarn. Alter mecklenburgischer Landadel und überzeugter FDP-Wähler. Der lud uns sonntags zum Tee zu sich herunter. Auch er hätte mit seiner Frau gesprochen. Was sich in der Ukraine abspiele, sei doch eine Katastrophe und wir müssten helfen. Er spielte auf die Tatsache an, dass in unserer Jugendstil-Villa direkt am Schweriner See im Souterrain noch eine klitzekleine Ferienwohnung frei sei - seit mehr als einem Jahr unbewohnt.

Die stete Wiederholung

Gesagt, getan: Ich sollte den Eigentümer kontaktieren und fragen, ob er notfalls eine gewisse Zeit auf Miete und Betriebskosten verzichten würde, wenn wir im Gegenzug die Wohnung auf Vordermann brächten. Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten und die Sache war geritzt. Wie wohltuend und beglückend es sein kann, wenn man nicht auf den Staat angewiesen ist, sondern Dinge im Handumdrehen privat regeln kann, weiß ich erst heute richtig zu schätzen.

Also begannen wir damit, die Wohnung zu renovieren. Unser Nachbar übernahm die Aufgabe, die Wohnung der Stadt Schwerin als mögliche Flüchtlingsunterkunft zu melden. Die hatte dafür sogar eigene E-Mail-Adresse eingerichtet. Als nach mehr als einer Woche immer noch keine Antwort kam, riet ich dem Nachbarn, es einfach noch einmal zu versuchen. Als noch immer keine Antwort kam, einfach noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Irgendwann gaben wir einfach auf und meldeten uns beim deutsch-ukrainischen Verein SIC e.V. in Schwerin. Das war an einem Donnerstagnachmittag. 

Weniger als zwölf Stunden später stand dann Larissa vor unserer Tür. Die Ukrainerin lebt schon lange in der Stadt und hatte mit ihrem Mann in ihrer kleinen Wohnung zusätzlich fünf Kriegsflüchtlinge einquartiert. Das trieb uns zwar keine Schamesröte ins Gesicht, aber doch Demut. Sehr große Demut. Sie ist eine herzensgute Frau.

Eine Woche später gab sie dann Tetiana und Sofi aus Odessa an uns ab. Beide hatten sich im März auf den Weg nach Deutschland gemacht. Sofi, die 14jährige Tochter, hätte den andauernden Fliegeralarm nicht mehr ausgehalten, berichtete Tetiana. Seit dem 1. April 2022 wohnten sie bei uns im Haus. Als Begrüßung kochten wir für sie Indisch, Tetiana revanchierte sich schon am Folgeabend mit einer Gegeneinladung. Und später brachte sie uns bei, wie man Wareniki und echten Borschtsch kocht. Sofi sagt, ich könne das inzwischen besser als ihre Mutter.

Von Grundsicherung und Rechtskreiswechseln 

Die studierte Lehrerin aus der Ukraine stellte von Anfang an klar, sie wolle nach Möglichkeit ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, um niemandem auf der Tasche zu liegen. Sie wäre uns Deutschen so dankbar, dass wir ihr und ihrer Tochter in der Not helfen würden. Aber ginge das uns allen nicht ganz genauso, wenn Krieg in Deutschland wäre und andere uns dort hülfen, wo wir hingeflohen wären?

Noch im April 2022 war die Tochter in einer Schule und die Mutter in einem Integrationskurs untergebracht. Unser Nachbar lernt mit den beiden zusätzlich bis heute mehrfach in der Woche Deutsch. Im Gegenzug muss ich mich um die bürokratischen Angelegenheiten für Tetiana und Sofi kümmern. Unser Nachbar wusste wahrscheinlich von Anfang an, warum er lieber mir diese Aufgabe überlassen hat.

Die Leistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz zu organisieren war zäh, aber nicht unmöglich. Trotzdem erschien es uns dann wie ein Segen, dass die große deutsche Politik irgendwann entschieden hatte, die Ukrainer ab dem 1. Juni in die Grundsicherung einzugliedern. „Rechtskreiswechsel“ nennt sich das. Wahrscheinlich war das damals dem weiten Herz und der Überlegung geschuldet, dass man die Ukrainer auf dem deutschen Arbeitsmarkt vielleicht ganz gut gebrauchen könnte. Schließlich herrscht Fachkräftemangel in Deutschland. Warum es wahrscheinlich trotzdem ein Fehler war, dazu später.

Der Bescheid vom Amt kam auch so rechtzeitig und blitzschnell vor dem 1. Juni an, dass ich ganz stolz war auf den deutschen Sozialstaat. Endlich konnten wir Tetiana und Sofi zeigen, was der deutsche Staat so alles hinbekommt. Für ein paar Tage fühlte es sich erneut so an, als hätte ich mit dem Eigentümer der Ferienwohnung in unserem Haus binnen zwei Minuten eine sinnvolle Lösung gefunden - wenn auch auf Zeit.

Würde und Integration

Aber diese Hoffnung war ein ganz großer Irrtum. Tatsächlich hatten wir es gemeinsam geschafft, Tetiana im Juni zumindest für drei Wochen als Vertretungslehrkraft in einer Schule in öffentlicher Trägerschaft unterzubringen. In Schwerin handelt es sich um jene Schule, die anfangs vor allem zuständig war für ukrainische Flüchtlingskinder. Was die Lehrer in diesen Tagen und Wochen selbstlos und pragmatisch alles auf die Beine gestellt haben mögen, kann man sich kaum ausmalen. Und wie oft sie dafür geltendes Recht brechen mussten, wahrscheinlich auch nicht.

Aber mit dem Job, den Tetiana nun hatte, begannen die Probleme. Eigentlich soll Hartz-IV ja ein System sein, um Menschen in Arbeit zu bringen. Aber organisiert ist es, als ob das Gegenteil beabsichtigt wäre. Wer sich in dem System unauffällig und ganz passiv verhält, bekommt monatlich einfach eine entsprechende Überweisung. Wer hingegen versucht, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, bekommt Post vom Amt und eine Menge an Problemen.

Tetiana war ganz stolz darauf, zumindest drei Wochen lang selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen zu können und nicht allein auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Für sie hatte das offenbar auch etwas mit Würde und Selbstachtung zu tun. Ach, wenn doch nur alle Leistungsempfänger so dächten, kam es mir in den Sinn.

Aber kaum hatte sie ihr Interesse an einem Job in der Schule bekundet, bekam sie Post vom Schulamt. Eines Abends lud sie mich daher in ihre Wohnung ein und war ganz aufgelöst. Mit Tränen in den Augen eröffnete sie mir, dass sie jetzt ins Gefängnis müsse. Ich musste an mich halten, um nicht in schallendes Gelächter zu verfallen.

Es droht Gefängnis

Ich fragte sie, was denn geschehen sei. Als Antwort überreichte sie mir ein Konvolut von ungefähr dreißig Seiten, das ihr das Schulamt zugeschickt hatte. Überwiegend handelte es sich um Auszüge aus dem Strafgesetzbuch und einer Richtlinie des Landes zur Korruptionsprävention. Sie sollte schriftlich bestätigen, sich an all diese Vorgaben zu halten. Für die Nichteinhaltung wurde ihr Gefängnisstrafe angedroht.

Was man den Unterlagen entnehmen konnte, war das Folgende: Sie dürfte sich nicht an Gefangenenbefreiungen beteiligen - sonst käme sie ins Gefängnis. Sie dürfte keine Staatsgeheimnisse verraten - sonst käme sie ins Gefängnis. Und sie müsste natürlich alle Vorschriften zu öffentlichen Vergaben einhalten, sonst bekäme sie rechtliche Schwierigkeiten. Was für eine ausgeprägte Willkommenskultur!

Der Clou ist nur: Ein normaler Lehrer hat mit „Vergaben“, also der Verausgabung erheblicher Summen an Steuermitteln an private Unternehmen, einfach schlicht gar nichts zu tun. Was das Amt Tetiana, durch die Blume natürlich, eigentlich sagen wollte, war nur dies: „Wenn sie als Landesbedienstete arbeiten, müssen Sie Gerechtigkeit gegenüber jedermann walten lassen und dürfen sich nicht bestechen lassen.“ 

Die Übersetzungs-App vergrößert das Missverständnis

Auf Deutsch: Sie muss jederzeit Geschenke von Eltern ablehnen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass sie ihre Notenerteilung von den Geschenken der Eltern abhängig gemacht hat. Verstanden hat Tetiana das von selbst natürlich nicht. Ihr Versuch, sich die übermittelten Rechtstexte mittels Übersetzungs-App verständlich zu machen, scheiterten kläglich. Die funktionieren schon bei Alltagssprache nur mittelmäßig und versagen bei Behörden- und Rechtsdeutsch gleich vollständig. Als es mir endlich gelungen war, ihr die Sache zu erklären, fragte sie nur folgendes: „Warum schreiben die Damen und Herren vom Amt nicht einfach, worum es ihnen in Wahrheit geht, damit ich es verstehen kann?“

Nachdem Tetiana diese Hürde gemeistert und den Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, wurde er beim Jobcenter eingereicht. Daraufhin bekam sie einen Brief: Ab sofort würden ihre Leistungen vollständig gestrichen. Das Amt ginge nämlich davon aus, dass sie sich und ihre Tochter ab sofort selbst unterhalten könne. Das war wirklich eine absurde Situation. Tetiana besuchte zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen einen Integrationskurs. An dem muss sie täglich vier Stunden teilnehmen und ihn außerdem vor- und nachbereiten.

Hinzu kam im Juni ein Arbeitsvertrag mit dem Land als Lehrerin. Sie unterrichtete für drei Wochen jeweils zwei Stunden am Tag und wurde in die Entgeltgruppe 10 einsortiert. Mit einem Vollzeitarbeitsplatz hätte sie hingegen 27 Stunden pro Woche unterrichten müssen. Aber das ging natürlich nicht, dann hätte sie ja nicht mehr am Integrationskurs teilnehmen können. Und eines wollte sie von Anfang an unbedingt: Deutsch lernen und sich integrieren.

Absurde Leistungskürzungen

Nur falls Sie es nicht wissen: Wenn Sie als Mutter mit 14-jährigem Kind Anspruch auf Grundsicherung haben, stehen Ihnen monatlich rund 1.380 Euro zu. Davon müssen Sie dann Miete, Nebenkosten, Strom, Kleidung, Lebensmittel usw. bezahlen. Die Dame vom Amt schrieb Tetiana also, dass sie diese Summe offenbar künftig selbst aufbringen könne, da sie ja einen Job habe. Deshalb bekäme sie ab sofort überhaupt nichts mehr.

Als der Brief vom Jobcenter bei Tetiana eintrifft und sie ihn mir zeigt, muss ich aus Verzweiflung laut lachen. Dem Jobcenter lagen alle Daten vor. Ich darf das für Sie noch einmal im Detail durchkauen: 1. Der Arbeitsvertrag wurde für Juni 2022 geschlossen und zwar nur für drei Wochen. 2. Aus dem Vertrag, der dem Jobcenter vorlag, war ersichtlich, dass er außerdem nur 10 von 27 Unterrichtsstunden umfasste. Das war ja klar, denn Tetiana musste ja noch den Integrationskurs belegen. 3. In der Entgeltgruppe 10 bei Erfahrungsstufe 1 verdient man im öffentlichen Dienst mit der Steuerklasse I und unter Anrechnung des Kinderfreibetrages monatlich 2.173,48 Euro netto. Das gilt aber nur dann, wenn man den ganzen Monat und dann auch noch Vollzeit arbeitet. 

Das war bei Tetiana ja aber nicht so und dem Amt lagen dazu alle Informationen vor. Sie hatte nur für drei Wochen einen Job gefunden und nur im Umfang von 10 Unterrichtsstunden. Am Ende erhielt sie dafür einen Nettolohn von etwas mehr als 600 Euro. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ihr standen von Amts wegen fast 1.400 Euro zu und das Jobcenter kam ernsthaft auf die Idee, ihr für die Zukunft sämtliche Leistungen zu streichen, weil sie einmalig 600 Euro verdient hatte.

Die heiße Kugel rollt

Das war der Zeitpunkt, zu dem sie alle behördlichen Dinge in meine Hände legte. Seitdem verfüge ich über eine entsprechende Vollmacht - und über großes Vertrauen. Natürlich habe ich Widerspruch gegen diesen Unfug eingelegt und das Amt hat den Bescheid wieder zurück gezogen. Nur: Hätte man das nicht alles vermeiden können, einfach durch Studium der ohnehin vorliegenden Akten? Und vor allem: Was machen eigentlich jene Ukrainer, die keinen Behördendolmetscher an ihrer Seite haben - und all die anderen Hartz-IV-Empfänger?

Dann kam Tetiana eines Tages nahezu beglückt zu uns nach Hause. Sie bekäme jetzt Kindergeld, erzählte sie uns freudestrahlend. Sie hätte nämlich ein entsprechendes Schreiben des Jobcenters erhalten. Natürlich konnte ich nicht glauben, dass es irgendeinen berechtigten Anlass für Euphorie gibt. „Gib mal her, Schätzelein“, ist inzwischen ein geflügeltes Wort in unserer Familie.

Also las ich den Brief und musste Tetiana enttäuschen. Es war zwar richtig, dass sie Kindergeld für ihre Tochter Sofi erhalten sollte, aber das geht in Deutschland natürlich so: Es gilt das Prinzip „vorrangiger Leistungen“. Oder anders formuliert: Jede Behörde versucht der anderen die heiße Kugel zuzurollen. Allerdings ist das nicht einmal böse Absicht der Mitarbeiter, sondern einfach Gesetzeslage.

Briefe von den Behörden

Tetiana sollte also bei der Familienkasse einen Antrag auf Kindergeld in Höhe von 219 Euro monatlich stellen, damit dann das Jobcenter die Grundsicherung um exakt denselben Betrag absenken kann. Als ich Tetiana erklärte, dass sie nach dem ganzen Vorgang genauso viel Geld erhielte, als hätte es ihn überhaupt nicht gegeben, stellte sie eine ganz einfache und verständliche Frage: „Ja, aber warum macht Ihr das denn? Das ist doch sinnlos!“ Eine überzeugende Antwort darauf konnte ich ihr leider nicht geben. Bis heute.

Dabei muss man wissen, dass die Familienkasse sogar eine Organisationseinheit der Bundesagentur für Arbeit ist. Es schreibt also die eine öffentliche Stelle die Leistungsempfänger an, damit diese sich bei einer anderen öffentlichen Stelle melden und beide öffentliche Stellen die heiße Kugel zwischen sich hin- und herschieben können.

Natürlich haben wir gegenüber den Behörden prompt auf jegliche Einhaltung des Datenschutzes mit der Bitte verzichtet, sie mögen die behördeninternen Verrechnungen doch einfach untereinander klären, ohne zusätzlichen und völlig unnötigen bürokratischen Aufwand zu verursachen. Leider verhallte dieser Appell völlig ungehört, obwohl er im Interesse der Steuerzahler gewesen wäre.

Dann kam der nächste Brief vom Jobcenter. Die kleine Sofi habe doch auch einen Vater und der sei unterhaltspflichtig. Vladislav lebt noch heute in Odessa, hat keine Arbeit und kümmert sich um Tetianas kranke Mutter, obwohl beide schon seit Jahren geschieden sind. Vladislav kann also gar nichts zahlen.

Rechte, Tasche, linke Tasche ...

Für solche Fälle gibt es in Deutschland aber den Unterhaltsvorschuss. Also sollte Tetiana bei der Stadt Unterhaltsvorschuss für Sofi beantragen. Und Sie ahnen schon, worauf es am Ende hinausläuft: Die Stadt Schwerin zahlt nun Unterhaltsvorschuss an das Jobcenter - und genau derselbe Betrag wird ihr vom Jobcenter wieder abgezogen. Tetiana hatte am Ende der Operation wieder nur eine einfache Frage, auf die man so leicht gar keine sinnvolle Antwort findet: „Warum macht Ihr das? Ich verstehe den Sinn dahinter einfach nicht.“

Es werden auf Steuerzahlerkosten große bürokratische Mahlwerke bewegt, ohne dass sich für die Betroffenen irgendetwas ändert. Die Systeme sind rechtlich erkennbar nicht vom eigentlichen Ziel und den Betroffenen her konstruiert, sondern  ein Kollateralschaden des Föderalismus, also der diffundierenden Verantwortungslosigkeit zwischen den staatlichen Stellen und Ebenen. Und während ich das alles schreibe, erreicht mich eine traurige Nachricht von Tetiana. Ihre Mutter, die in Odessa geblieben ist, lebt nicht mehr. „Wir können nicht in unserer Heimat sein und wir können meine Mutter nicht begraben. Es ist schwer“, schreibt sie mir. 

Vor ein paar Wochen waren Tetiana und Sofi zurück nach Odessa gereist. Obwohl die Stadt schon damals unter Raketenbeschuss stand, wollten sie unbedingt für ein paar Tage in die Heimat. Ihre Mutter war schwer krank und sie wollten sie noch einmal wiedersehen und dafür sorgen, dass es ihr möglichst gut ergeht. Friedrich Merz nannte das dann unlängst den „Sozialtourismus“ der Ukrainer. Mitgebracht haben sie Elsa, eine der Katzen von Sofi. Für ein bisschen Lebensglück und Normalität.

Fortsetzung folgt…

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