Deutschland - Borniertheit als Staatsraison

Egal ob Impfpflicht, Energiewende oder gesellschaftspolitische Zwangsmaßnahmen: In Deutschland hält man engstirnig an jedem einmal eingeschlagenen Kurs fest, auch wenn er längst durch die Realität widerlegt wurde. Eine Ursache ist der herrschende Konsenskult, der jede geistige Beweglichkeit verdächtig macht. So ist eine fatale Wagenburgmentalität entstanden.

Zackig, forsch, deutsch: Richard-Wagner-Büste von Arno Breker / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Deutsch sein bedeute, „die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben“, schrieb einst Richard Wagner. Man hat dies Zitat später zu dem markanten „Deutsch sein bedeutet, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun“ verstümmelt. So klingt es zackiger, forscher und noch ein wenig bornierter als ohnehin.

Nimmt man Wagners Diktum zur Grundlage, so führt Deutschland seit nunmehr zwei Jahren wieder einmal ein Glanzstück in Sachen Deutschsein auf. Denn nirgendwo auf der Welt hält man so verbissen, so engstirnig und so bar jeder empirischen Evidenz an einmal beschlossenen Corona-Maßnahmen fest. Österreich einmal ausgenommen. Aber gemeinsame Geschichte verbindet: Einfach mal wieder eine Sache um ihrer selbst willen tun. Nicht weil sie sinnvoll ist oder angemessen, sondern aus Prinzip. Das ist tatsächlich des Deutschen Königsdisziplin. Selbst für die postnational und multikulturell gestimmten Deutschen des frühen 21. Jahrhunderts.

Keiner kann sagen, wie eine Impfpflicht umzusetzen wäre

Das Paradebeispiel für diese sehr germanische Form der Verbohrtheit ist die leidige Debatte um die noch leidigere Impfpflicht. Man kann die Sache im Grunde kurz machen: Käme zu spät, bringt bei Omikron ohnehin kaum etwas und ist bei dieser Variante des Virus auch reichlich überflüssig. Damit könnte die Diskussion abgeschlossen sein, und es wäre Raum für Fragen von echter Zukunftsrelevanz.

Doch so einfach geht das hierzulande natürlich nicht. Stattdessen diskutiert man die Impfpflicht mit großer Hartnäckigkeit und in allen Varianten. Für alle? Auch für Kinder? Ab welchem Alter? Auch eine Boosterpflicht? Oder besser noch den Boosterbooster? Dass der Schutz durch die dritte Impfung allenfalls ein paar Wochen anhält, dass die vierte Impfung nach derzeitiger Lage und am Ende des Winters reichlich überflüssig ist – egal.

Wie sehr sich die deutsche Öffentlichkeit mental verrannt und weitgehend von der Realität abgekoppelt hat, zeigt auch, dass selbst hartnäckige Befürworter der Impfpflicht kaum angeben können, wie genau sie umzusetzen wäre: Zappelnde Patienten auf Impfstühle fixieren? Ordnungsstrafen in Höhe mehrerer hundert Euro? „Freiheit heißt Impfpflicht für alle“, sagt CSU-Generalsekretär Markus Blume. Das ist nicht nur falsch, sondern auch noch Unfug, lässt aber tief blicken.

Die Energiepreise explodieren

Man sieht sich hierzulande gerne als Musterschüler der Moderne. Das gilt insbesondere für jene Milieus, die der aktuellen Regierung nahestehen. Man sieht sich als flexibel, innovativ und kreativ und was der Phrasen mehr sind. Faktisch jedoch gibt man den Betonkopf. Manches Politbüro der Vergangenheit erscheint daneben geradezu als Hort geistiger Wendigkeit.

Ein weiteres Beispiel für diese zur Staatsraison avancierten Verbohrtheit ist die Energiewende. Im Grunde ist sie gescheitert, bevor sie richtig umgesetzt wurde. Die Energiepreise explodieren. Das Netz wird unsichererer. Die Landschaften werden verschandelt. Auch technisch funktioniert sie nicht und wenn, dann nur, weil Nachbarstaaten weiterhin mittels Kohle oder Uran Strom erzeugen. Das alles kann aber das Geflecht aus Regierungsbehörden, Parteien, Industrievertretern, Umwelt-NGOs und angebundenen Experten nicht davon abhalten, das Projekt durchzuziehen.

Politik gegen 99 Prozent

Realistische Politik zu machen, würde bedeuten, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Damit tut man sich in Deutschland aber traditionell schwer. Also glaubt man, ein 80-Millionen-Volk könne das Klima von 8 Milliarden retten. Oder dass man sich aus der aktuellen Pandemie rausimpfen kann.

Auch die Vernageltheit in Sachen Sprachpolitik gehört dazu. Am Donnerstag etwa verkündete die Stadt Freiburg, bei Stellenausschreibungen nunmehr ausschließlich die weibliche Form zu verwenden und anstelle des (m/w/d) ein (a) für „alle“. Gesucht wird also in Zukunft die „IT-Projektleiterin (a)“. „Zu einer bunten Stadt gehört auch eine bunte Stadtverwaltung“, so Oberbürgermeister Martin Horn. Dass 99 Prozent der Menschen in diesem Sinne gar nicht besonders heterogen sind, sondern sich mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren, spielt dabei keine Rolle. Schließlich geht’s hier ums Prinzip.

Ob Gesundheitspolitik, Umweltpolitik, Gesellschaftspolitik oder Außenpolitik: In Deutschland verrennt man sich zunehmend in geistige Trägheit der Extraklasse. Denn Beweglichkeit setzt Widerspruch voraus. Den aber gibt es in den Administrationen, den einflussreichen Netzwerken und Institutionen kaum noch. Es herrscht ein verhängnisvoller Konsens, der jede Flexibilität im Keim erstickt. Und wer mit Dissens droht, wird an den Rand der Gesellschaft gestellt. So wird Deutschland seinen Weg weitergehen. Doch irgendwann, soviel ist klar, wird die Realität an die Pforte klopfen.

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