Deutscher Ethikrat - „Da liegt eine Verwechslung von Moral und Ethik vor“

Liefert der Deutsche Ethikrat der Regierung gewünschte Empfehlungen? Der Philosoph Carl Friedrich Gethmann, ehemaliges Ethikrat-Mitglied, widerspricht dem Vorwurf der Staatsnähe – er sieht das Kernproblem des Gremiums an anderer Stelle und erklärt, warum er einer allgemeinen Impfpflicht aus ethischer Sicht nicht zugestimmt hätte.

Geteilte Loyalität? Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx mit Empfehlungen zum Thema „Sonderregelungen für Geimpfte?“ / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Der Philosoph Carl Friedrich Gethmann, geboren 1944, lehrte von 1979 bis 2012 an der Universität Duisburg-Essen. Seit Januar 2021 lehrt er Wissenschaftsethik/Medizinethik an der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Universität Siegen. Von 2016 bis 2021 gehörte er dem Deutschen Ethikrat an.

Professor Gethmann, auf Cicero.de wurde dem Deutschen Ethikrat vorgeworfen, er habe mit seiner Ad-hoc-Stellungnahme zur allgemeinen Impfpflicht der Regierung eine politisch gewünschte Entscheidung geliefert. Ein berechtigter Vorwurf?

Der Vorwurf könnte damit zu tun haben, dass es neuerdings ein Beratungsgremium im Kanzleramt gibt, zu dem Wissenschaftler wie Professor Drosten und Professor Streeck gehören, aber auch die Vorsitzende des Ethikrats, Frau Professor Buyx, was bei ihr den Anschein geteilter Loyalität hervorrufen könnte. Ich halte es grundsätzlich für misslich, wenn Bundeskanzler oder Minister Beratungsgremien berufen, weil wie von selbst der Verdacht der Gefälligkeitsberatung im Raum steht. Leider gab es solche Fälle wie den der von Bundeskanzlerin Merkel berufenen „Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung“, die ihr den Ausstieg aus der Atomenergie legitimieren sollte; kein Mitglied dieses Gremiums hatte übrigens einen fachlichen Bezug zur Ethik. Oder die von Minister Dobrindt berufene „Ethikkommission automatisiertes Fahren“. Durch solche „ethischen“ Beratungsgremien fällt dann auch ein Schatten des Verdachts auf den Deutschen Ethikrat.

Der Vorwurf der Staatsnähe beim Deutschen Ethikrat bezieht sich auch darauf, dass der Präsident des Deutschen Bundestags die Mitglieder des Gremiums beruft, und zwar je zur Hälfte auf Vorschlag des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung.

Ich halte den Vorwurf der Gefälligkeitsberatung hinsichtlich des Deutschen Ethikrates für unzutreffend und leicht widerlegbar, weil der Deutsche Ethikrat in vielen Fällen der Regierung und Teilen des Parlaments entgegengetreten ist. Vor anderthalb Jahren, als ich noch zum Gremium gehörte, haben wir empfohlen, keine generelle Masernimpfpflicht einzuführen – Minister Spahn soll deswegen nicht erfreut gewesen sein, und sie ist dann doch eingeführt worden. Ein markantes Beispiel ist sicherlich, dass wir 2014 empfohlen haben, den § 173 im StGB zu streichen, der die Geschwisterehe unter Strafe stellt. Angeblich sind inzwischen fast alle für eine „Ehe für alle“ – wenn aber zwei volljährige verschiedengeschlechtliche Geschwister nach freier Entscheidung miteinander in einem eheartigen Verhältnis leben, ist das eine Straftat, sogar ein Offizialdelikt, das heißt, die Staatsanwaltschaft muss wegen „Inzests“ ermitteln und gegebenenfalls anklagen. Nach unserer Empfehlung hat eine Gruppe von Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion verlangt, den Ethikrat abzuschaffen. Übrigens hat sich der Deutsche Bundestag nie mit dem Thema befasst. Ich kann weitere Beispiele dafür nennen, dass der Ethikrat der Regierung oder der Parlamentsmehrheit nicht nach dem Mund redet.

Die Corona-Krise ist aber vielleicht eine Ausnahmesituation. Vier Ethikrat-Mitglieder, die generell gegen die Stellungnahme gestimmt haben, haben in einem FAZ-Gastbeitrag von der Gefahr geschrieben, „dass außer dem Zeitdruck auch der Erwartungsdruck groß ist, politisch gewünschten Entscheidungen nicht im Wege zu stehen“. Dies gelte erst recht, wenn die Einbeziehung des Ethikrats zum „informellen, verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens“ mutiere: „Bleibt dann beim gemeinsamen Beraten und Empfehlen noch Raum, der Ur-Versuchung von Politikberatungsgremien ins Auge zu sehen, dass autonomer Rat sich politischen Wünschen zuweilen geschmeidig anzupassen versteht?“

Das ist die generelle Befürchtung, die die vier Ethikrat-Mitglieder haben, wenn unter derartigen Rahmenbedingungen Ad-hoc-Stellungnahmen erarbeitet werden müssen. Vor allem sehen die vier zu Recht die Gefahr, dass die Öffentlichkeit das Bild hinsichtlich der Empfehlung nicht differenziert genug wahrnimmt. Im konkreten Fall der Stellungnahme haben 13 von 24 Mitgliedern für eine generelle Impfpflicht gestimmt, eine Stimme mehr als die Hälfte. Sieben für eine spezielle, berufsbezogene Impfpflicht, was viel schwächer ist, somit also gegen eine generelle Impfpflicht. Die genannten vier waren aus grundsätzlichen Erwägungen gegen die Stellungnahme. Man kann also nicht sagen, dass der Deutsche Ethikrat mit überwältigender Mehrheit der Politik den Gefallen getan hat, eine generelle Impfpflicht zu empfehlen – gesetzt, dass „die Politik“ den Wunsch überhaupt hat. Von einer Gefälligkeitsempfehlung zu sprechen, geht mir zu weit.

Sie haben selbst in Aufsätzen kritisiert, wie das Gremium des Deutschen Ethikrats gebildet wird.

Das 2007 verabschiedete Ethikratgesetz bestimmt, dass die Hälfte der Positionen vom Bundestag besetzt wird, die andere Hälfte von der Bundesregierung. Die Regierung und die Fraktionen machen das je für sich aus, es gibt anscheinend keine fraktionsübergreifende informelle oder halb-formelle Koordinierung wie beispielsweise bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts. Das hat dann zur Folge, dass die eine Fraktion vorwiegend Theologen und Vertreter der Religionsgemeinschaften sowie Bürger des Freistaates Bayern, die andere vorwiegend Vertreter der Sozialverbände, die nächste vorrangig prominente Juristen usw. vorschlägt.

Wo ist das Problem?

Im Endergebnis bleibt es reiner Zufall, ob der Ethikrat wenigstens im Großen und Ganzen Mitglieder hat, die sich in einer fachlichen Weise mit Fragen der Ethik beschäftigt haben. In dem Zusammenhang wird oft der Begriff der Pluralität hervorgehoben. Es ist jedoch völlig unklar, auf welche Pluralität man sich dabei bezieht. Es kann ja nicht der Sinn eines solchen Beratungsgremiums sein, beispielsweise das Parlament im Kleinen abzubilden. Dann wäre es besser, der Deutsche Bundestag würde nach seinen Regeln einen Ausschuss bilden. Es kommt auch keine Pluralität hinsichtlich der gesellschaftlichen Großgruppen zustande, so sind die großen christlichen Religionsgemeinschaften zwar durch eine Art informellen Privilegs immer mit zwei Vertretern vertreten, Juden und Muslime mit je einem, was aber ist mit orthodoxen Christen, Hindus, Buddhisten und anderen? Die Hälfte der Gesellschaft betrachtet sich als keiner Religion zugehörig, um die Vertretung dieser Gruppe scheint sich niemand zu besorgen. Grundsätzlich liegt solchen Pluralismus-Überlegungen eine Verwechslung von Ethos – also Moral, Sitte – und Ethik zugrunde.

Was schlagen Sie vor?

Da hilft der Blick über die Grenzen, beispielsweise, trotz Brexits, nach Großbritannien. Das 1991 gegründete Nuffield Council on Bioethics, das die britische Regierung berät, ist eine unabhängige gemeinnützige Organisation, der Philosophen, Juristen, Mediziner, Sozialwissenschaftler und Vertreter weiterer Fächer angehören, die berufen werden, weil sie sich im Rahmen ihrer Fächer mit Fragen der Ethik beschäftigt haben. Solche Fachvertreter gibt es selbstverständlich auch im Deutschen Ethikrat, aber eben eher dank eines glücklichen Zufalls. Außerdem ist das Fächerspektrum lückenhaft. 2014 gab es eine Stellungnahme zur Reform des Krankenhauses, da war nicht einmal ein Gesundheitsökonom im Rat vertreten.

Im Kern heißt das, dass der Ethikrat in dieser Form nicht hinreichend fundierte ethische Urteile fällen kann?

Ich will damit nicht sagen, dass im Ethikrat nur unfähige Leute sitzen, wie bemerkt, ist das glücklicherweise anders. Aber ein nicht kleiner Teil der Mitglieder hat sich vorher nie fachlich mit Fragen der Ethik beschäftigt, und nur wenige holen das im Laufe ihrer vier- oder achtjährigen Mitgliedschaft nach. Somit gibt es nicht wenige Mitglieder, die beispielsweise im Arbeitsprozess bei der Textherstellung kaum etwas beitragen können. Das ist eine Folge fehlender klarer Rekrutierungskriterien. Man stelle sich vor, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – die fünf Wirtschaftsweisen – würden mit einem katholischen, einem evangelischen, einem muslimischen und einem jüdischen Ökonomen besetzt. Auch hier geht es um Pluralität, aber man meint damit die Pluralität der fachlichen Ausrichtung; beispielsweise wünscht man sich einen Vertreter des Ordoliberalismus auf der einen und einen einer eher zentralwirtschaftlichen Wirtschaftsform auf der anderen Seite.

Welche Perspektiven wurden von den Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht nicht berücksichtigt?

Den Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht geht es in der Tat um die Sorge um die möglicherweise lebensgefährlich Erkrankten und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems – das will ich auf keinen Fall bezweifeln. Deswegen wird diese Position in der gegenwärtigen Debatte mit besonderem Nachdruck von Ärzten vertreten. Zu kritisieren ist aber die „Grundrechtsvergessenheit“ dieser Position.

Inwiefern?

Eine generelle gesetzliche Impfpflicht für alle Bürger bedeutet eine erhebliche Einschränkung von Grundrechten, insbesondere des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Sie bedarf daher einer anspruchsvollen ethischen und juristischen Rechtfertigung. Bei Covid-19 ist das Ziel allerdings nicht die vollständige Durchimpfung der Bevölkerung, sondern das Erreichen der „Herdenimmunität“. Dafür ist nach Aussage von Epidemiologen eine Impfrate von 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung nötig. Berücksichtigt man die Genesenen sowie die Kinder, die noch nicht geimpft werden dürfen, ist diese Rate erreichbar.

Und die Ungeimpften wären dann egal?

Die 10 bis 15 Prozent ungeimpfter Bürger wären damit sozusagen ein dem Freiheitspostulat geopferter Luxus, was immer deren Motive – von bloßer Unlust über Trittbrettfahrermentalität bis zur Überzeugtheit von alternativen Heilverfahren – sein mögen. Jedenfalls wären gesetzliche Zwangsmaßnahmen oder die Androhung von erheblichen Bußgeldern aus ethischer Sicht unangemessen und aus juristischer Sicht unverhältnismäßig. Die 2G-Regel oder ähnliche Einschränkungen dürften die Impfbereitschaft sowieso weiter verstärken. Das ist kein Druckmittel oder ein Impfzwang durch die Hintertür, sondern in Abhängigkeit von individuellen Vorlieben sogar eine gute Überzeugungshilfe. Ich bin daher überzeugt, dass unsere jetzt amtierende Bundesregierung so lange das Gesetzgebungsverfahren dilatiert, bis die Herdenimmunität erreicht ist und sich die ganzen Proteste erledigt haben – und damit auch die Empfehlung des Ethikrates leer läuft. Den „Weg nach Karlsruhe“ wird man nicht riskieren.

Wie wird eigentlich entschieden, über welche Themen der Deutsche Ethikrat diskutiert?

Entweder das Gremium berät und entscheidet selbst, zu welchem Thema es eine Stellungnahme abgeben will. Jedes Ratsmitglied kann ein solches Thema vorschlagen. Oder die Bundesregierung oder das Parlament treten mit einem Thema an den Ethikrat heran, so wie gerade beim Thema Impfpflicht – das hat dann eine gewisse Priorität. Die Tierwohlentscheidung von 2019 kam zustande, weil das Thema einem Mitglied schon immer ein Anliegen war, es dann die Mehrheit überzeugte, was der damaligen Agrarministerin Frau Klöckner übrigens überhaupt nicht recht war, weil höheres Tierwohl höhere Produktionskosten in der Landwirtschaft bedeutet, was wiederum höhere Subventionen für die Landwirte zur Folge haben kann. Das auch noch einmal zum Thema Gefälligkeitsgutachten.

Also könnte zum Beispiel ein Gutachten zum Tempolimit auf Autobahnen erstellt werden?

Klar, grundsätzlich schon. Da die Arbeitskapazität des Ethikrates aber beschränkt ist, plädiere ich dafür, dass der Ethikrat sich nur auf besonders komplexe Grauzonen-Fragen und Dilemma-Situationen beschränkt, beispielsweise das Thema Sterbehilfe. Bei einem Thema wie Tempolimit wäre auch nicht nur zu fragen, ob eine entsprechende Freiheitsbeschränkung mit gewichtigen Gründen gerechtfertigt werden kann, sondern auch, ob die vorgeblichen Zwecke – Unfallverhütung, Vermeidung von Raserei, komfortablere Verkehrsteilnahme, u.a. – gerade genau ein Tempolimit von 130 km/h verlangen. Vielleicht würde ein Tempolimit von 150 km/h sowohl die zufriedenstellen, die überhaupt ein Limit haben möchten, aber auch die, die etwas zügiger unterwegs sein möchten oder sich einen Marketing-Effekt für deutsche Automobile erhoffen. Aus fach-ethischer Sicht müsste man eben unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit alle Gesichtspunkte prüfen.

Sie erwähnten im Kontext der Berufung der Mitglieder des Ethikrats eine Verwechselung von Ethos und Ethik. Können Sie die Unterscheidung erläutern?

In jedem sozialen Kontext gibt es Üblichkeiten, an die sich die Mitglieder einer Gruppe (Sportgruppe, Familie, Betrieb, religiöse Gemeinschaft, usw.) gebunden sehen und auf die sie auch die anderen verpflichten. Das nannten die Griechen Ethos – lateinisch Moral, deutsch Sitte. In diesem Sinne gehört jeder wenigstens einem Ethos an. Die Ethik – von lateinisch ars ethica – ist die wissenschaftliche Disziplin, traditionell eine Sub-Disziplin der Philosophie, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt, insbesondere mit „moralischen Dissonanzen“, die sich aus solchen Üblichkeiten ergeben können. Die Leitfrage für die Ethik ist also grundsätzlich, wie man die Folgen moralischer Dissense, angefangen von persönlichen Konflikten bis hin zu moralischen Bürgerkriegen, vermeiden kann. Es geht also immer um die Frage der Verallgemeinerbarkeit.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir eine Gesellschaft an, die in genau zwei Moral-Lager geteilt ist: Das eine Lager sagt, die Selbstbestimmung der Frau sei zwar wichtig, aber der Embryo sei uneingeschränkt schützenswert, deswegen dürfe eine Schwangerschaft nicht abgebrochen werden. Das andere Lager hält dagegen das Recht auf Selbstbestimmung der schwangeren Frau für höherrangig als die Schutzwürdigkeit des Embryos. Das sind zwei Moralen, deren Anhänger davon überzeugt sind, für etwas Gutes einzustehen. Der Ethiker entscheidet nun nicht, wer von beiden recht hat, er erfindet auch keine neue Moral, sondern er fragt, welcher Standpunkt mit Blick auf den gesellschaftlichen Frieden verallgemeinerbar ist.

Was bedeutet das ethisch für den § 218 StGB?

Beide Seiten haben ja einen relevanten moralischen Gesichtspunkt zu vertreten. Der in Deutschland gültige § 218 StGB ist eine gute, wenn auch nicht die einzig denkbare Lösung des Problems. Einerseits ist der Schwangerschaftsabbruch eine rechtswidrige Handlung – damit unterstützt man die Position der Schutzwürdigkeit des Embryos –, andererseits wird die betroffene Frau von Strafe freigestellt, damit unterstützt man die Position der Selbstbestimmung der betroffenen Frau. Im übrigen stellt man damit sogenannte Beihilfehandlungen wie die Anstiftung und erst recht ein massives Druckausüben beispielsweise durch Partner oder Eltern unter Strafe, was rechtssystematisch nur möglich ist, wenn die Haupttat auch rechtswidrig ist. Der deutsche § 218 StGB ist also ein gutes Muster für eine friedensstiftende verallgemeinerbare Lösung einer moralischen Dissonanz. Dem steht nicht entgegen, dass beide Lager mit diesem Muster vielleicht sogar dauerhaft bleibend unzufrieden sind.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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