Deutsche Schulen - Die Bildungslücke

Die Schulleistungen im Rechnen, Lesen und Schreiben nehmen seit zehn Jahren kontinuierlich ab – auch ohne Flüchtlingskrise und Corona-Pandemie. Es ist etwas grundsätzlich faul in der Bildungsrepublik Deutschland. Im Schulranking aller Bundesländer zeigen wir in unserer Dezember-Titelgeschichte, wer vorn und wer hinten liegt. Und was die größten Probleme sind.

Das Schulranking des Cicero zeigt den deutschlandweiten Bildungsnotstand / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Katja Koch leitet das Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung an der Universität Rostock.

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Eltern, deren Kinder gerade in Sachsen und Bayern in die Grundschule gehen, kann man wieder einmal gratulieren: Bei einer aktuellen Studie über die Leistungen der Grundschüler in den Fächern Deutsch und Mathematik im Jahr 2021 schnitten beide Länder deutschlandweit erneut am besten ab. Ganz anders ist es hingegen in Bremen oder Berlin: Die dortigen Schüler landen schon seit Jahren mit Abstand auf den schlechtesten Plätzen. Neu ist diesbezüglich nur eines: Mit Brandenburg hat sich nun ein weiteres Land mit einem regelrechten „Wumms“ in den Keller der Bildungsrepublik Deutschland manövriert. Die dortige Bildungsministerin heißt seit 2017 Britta Ernst (SPD) und hat nun ein dickes Problem.

Die Wissenschaftler vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin kommen für ganz Deutschland zu desaströsen Befunden. Die Lage an Deutschlands Grundschulen sei „besorgniserregend“ und dieser Zustand „nicht hinnehmbar“. Selten hat man so deutliche Worte von jenen Bildungswissenschaftlern gehört, die im Dienste und auf Rechnung der Kultusministerkonferenz tätig sind.

Ein Hoch auf die Dreigliedrigkeit

Insgesamt nahmen an der Studie fast 27 000 Kinder teil, in den einzelnen Bundesländern waren es zwischen 1369 und 2813. Der IQB-Bildungstrend ist damit das einzige Instrument, das regelmäßig die Länderleistungen in den vierten und neunten Klassen transparent vergleichbar macht. Erstmals allerdings fehlen für ein Bundesland Daten. In Mecklenburg-Vorpommern waren die Schulen so lange geschlossen, dass zu wenige Schüler an den Tests teilnehmen konnten und die Ergebnisse daher nicht als repräsentativ gelten können.

Zur Methodik: Der IQB-Bildungstrend 2021 untersucht die Leistungen der Grundschüler in den Fächern Mathematik und Deutsch. Während für das Unterrichtsfach Mathematik eine „Globalskala“ verwendet wird, unterteilen sich die Deutschleistungen in die Bereiche Zuhören, Lesen und Rechtschreibung. Um aus diesen Daten ein zwar vereinfachtes, aber ausreichend robustes Ranking der Länder zu entwickeln, wurde wie folgt vorgegangen: Länder, die in den einzelnen Dimensionen statistisch signifikant positiv vom Durchschnitt abweichen, erhalten den Rangpunkt 1,0. Länder, die sich nahe am statistischen Durchschnitt befinden, erhalten den Rangpunkt 2,0. Länder, die statistisch signifikant negativ vom Durchschnitt abweichen, erhalten den Rangpunkt 3,0. Die Wissensdimensionen Zuhören, Lesen, Rechtschreibung wurden für den Deutschfaktor dabei gleich gewichtet. Ebenso gingen die Werte für Deutsch und Mathematik gleich gewichtet in das Gesamtranking ein. Dies folgt den Befunden aus der empirischen Psychologie, dass unterschiedliche Wissensdimensionen durch dieselbe Grundintelligenz gesteuert werden (Faktor G).

Zurück geht der IQB-Bildungstrend auf die erste Pisa-Studie für das Jahr 2000. Groß war der Aufschrei, als das Land der Dichter und Denker in einem internationalen Vergleich nur mittelmäßig abschloss. Neben der großen internationalen Bildungsstudie gab es damals auch eine Deutschland-Variante, genannt ­„Pisa-E“. Damit war es möglich, die Leistungen der Bundesländer direkt miteinander zu vergleichen. Während über Jahrzehnte hinweg ideologische Grabenkämpfe über „Gesamtschule contra Gymnasium“ geführt wurden, lagen die Fakten plötzlich offen zutage und bestätigten eine über Jahrzehnte bestehende Volksweisheit: Das viel gescholtene dreigliedrige bayerische Schulsystem garantierte im Durchschnitt nicht nur die höchsten Leistungen. Auch die Leistungsschwächsten wiesen dort regelmäßig bessere Ergebnisse auf als im Rest der Republik. 

Ein Stochern im Nebel

Zur Ehrenrettung der Gesamtschul-Anhänger muss man dabei sagen: Der Pisa-Sieger Finnland mit seinen Gesamtschulen schnitt noch besser ab. Offenbar ist das System Schule also viel komplexer und die Schulstruktur weder der alleinige noch der entscheidende Faktor. Viele Wege führen zu guter Leistung – oder zum gnadenlosen Scheitern.

Pisa-E indes entpuppte sich für die Kultusminister als kommunikatives und politisches Problem. Erstmals konnte man genau sehen, wo die Länder in Sachen Leistung stehen, und sie miteinander vergleichen. Während sich die einen Kultusminister selbst auf die Schulter klopften, mussten die anderen äußerst unangenehme Fragen beantworten. Seit dem Jahr 2009 nehmen deutschlandweit an den internationalen Pisa-­Studien aber nur noch etwa 5000 Schüler teil. Daraus lassen sich für kein Bundesland mehr handfeste Ergebnisse oder gar ein Ranking ableiten. Da das deutsche Schulsystem aber föderal organisiert ist, ergibt sich daraus eine bemerkenswerte Konsequenz: Die regelmäßig veröffentlichen Pisa-Ergebnisse sind für die deutsche Schulpolitik vollständig wertlos. Es ist so, als führe man mit dem Auto in dichtem Nebel. Es ist im Grunde rausgeschmissenes Geld.

Anstelle von Pisa-E wurde vom Jahr 2004 an ein eigenes Bildungsmonitoring aufgebaut. Das kostet jährlich ungefähr fünf Millionen Euro. Aus dessen Daten aber könne keinesfalls ein echtes Ranking abgeleitet werden, warnt Petra Stanat, die Leiterin des IQB, gebetsmühlenartig schon seit Jahren. Der Grund hierfür: Selbst fast 27.000 Schüler sind nur eine relativ kleine Stichprobe aller Grundschüler in Deutschland. Sobald keine Vollerhebung durchgeführt wird, schleichen sich statistische Unsicherheiten ein. Man kann also in den einzelnen Wissensdimensionen gar nicht ganz genau sagen, welches Land auf welchem Platz liegt. Dafür liegen die Ergebnisse der Länder teilweise zu dicht beieinander.

Hamburger Taschenspielertrick

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des aktuellen IQB-Bildungstrends steht auch der Bildungssenator von Hamburg, Ties Rabe (SPD), auf dem Podium. Er ist seit mehr als zehn Jahren für die Schulpolitik im Stadtstaat verantwortlich und der Sprecher der SPD-regierten Länder in der Kultusministerkonferenz (KMK). Und obwohl Petra Stanat an diesem Tag seinen Namen nicht erwähnt, dürfte er mitgemeint gewesen sein, als sie erneut ihre mahnende Stimme erhob. Denn Rabe veröffentlichte nahezu zeitgleich eine Pressemitteilung, in der er sich mithilfe von Superlativen überschlug. Das sei das „mit Abstand beste Ergebnis von Hamburger Schülerinnen und Schülern“ seit mehr als 20 Jahren. Jahrelang habe man gemeinsam mit Berlin und Bremen ganz hinten gelegen und sich nun „erheblich verbessert“. Im Jahr 2021 liege Hamburg „durchschnittlich auf Platz 6“ aller Länder, also im „oberen Mittelfeld“. 

Rabe hatte damit genau das getan, wofür es laut Stanat wissenschaftlich keine Berechtigung gibt: Er hatte sich aus statistisch nicht signifikanten Werten ein Selbstlob zurechtgezimmert. Und das alles war kein Ausrutscher, sondern volle Absicht. Denn Ties Rabe ist ein alter Hase im Bildungsgeschäft. Er weiß genau, wie die Studien funktionieren – und wie eben nicht.

Klaus Zierer, Bildungswissenschaftler an der Universität Augsburg, kann es sich leisten, noch etwas deutlicher zu werden als die im Dienste der KMK stehende Leiterin des IQB. Hamburgs Vorgehen sei wissenschaftlich betrachtet einfach „unsinnig“. Vor allem aber hält er es für ganz und gar unnötig. Tatsächlich hat sich Hamburg in den vergangenen zehn Jahren aus dem Bildungskeller in das solide Mittelfeld der Republik emporgearbeitet. „Das, was Hamburg als Stadtstaat geleistet hat, ist auch ohne dieses Zahlenspielchen beeindruckend“, ist Zierer überzeugt. Gelohnt hat sich die Propaganda-Show für Rabe trotzdem. Mehrere Tageszeitungen druckten sein frisiertes Selbstlob unkritisch ab. Nur seine Pressestelle wollte auch auf mehrfache Nachfrage keine wissenschaftlich fundierte Begründung für das Vorgehen abliefern. Es ist auch unangenehm, wenn man ausgerechnet als Schulbehörde beim Schummeln ertappt wird.

Unser Bildungsranking

Ein echtes Ranking lässt sich aus den Daten also nicht ableiten. Das ist indes misslich. Eigentlich wird der Bildungsföderalismus von seinen Befürwortern ja mit dem Wettbewerb zwischen den Systemen begründet. So könne sich zeigen, wer der Beste sei und warum. Aber dazu müsste man auch die Leistungsdaten in eine begründete Reihenfolge bringen können. Erst an ihr ließe sich ablesen, was die einzelnen Bildungssysteme der Länder am Ende wert sind. 

Aber es gibt einen Anhaltspunkt für wissenschaftlich abgesicherte Leistungsunterschiede zwischen den Ländern. Was man nämlich mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist: wer in Mathematik oder Deutsch zur Spitzengruppe, wer zur Mittelgruppe und wer zur Schlussgruppe gehört. Und man kann auch sagen, wie weit die Gruppen etwa auseinanderliegen. Auf dieser Basis haben wir zur Veranschaulichung ein vereinfachtes Ranking über alle Wissensdimensionen erstellt. Es vermeidet dabei den Fehler, aus statistisch nicht signifikanten Daten Schlussfolgerungen zu ziehen. Der in diesem Verfahren erreichbare Höchstwert ist der Wert 1,0, der schlechtestmögliche 3,0. Auch dieses Verfahren ist methodisch nicht unangreifbar, liefert aber für einen realistischen Gesamtüberblick robuste Ergebnisse.

Bayern erreicht dabei mit Leistungsrangpunkten von 1,0 den besten Wert. Das heißt: Es lag in allen untersuchten Dimensionen stets in der Spitzengruppe. Das Land Sachsen folgt knapp dahinter mit ebenfalls sehr guten 1,17 Punkten. Sachsen-Anhalt ist mit 1,5 Leistungsrangpunkten ein Grenzfall, wird von uns aber noch zur Spitzengruppe gezählt. Es ist damit das neue Baden-Württemberg, das schon seit 2016 nicht mehr zu den leistungsstärksten Ländern gehört. Dort herrscht entgegen allen Mythen nur noch Mittelmaß.

Überall geht es bergab

Besonders bedenklich ist die Schlussgruppe: Berlin, Bremen und seit neuestem auch das Land Brandenburg erreichen 3,0 Leistungsrangpunkte. Die dortigen Schüler zählen in allen gemessenen Wissensdimensionen zuverlässig zu den schlechtesten der Republik. Zur Schlussgruppe gehört, mit einigem Abstand zu den Bummelletzten, auch noch das Land Nordrhein-­Westfalen. Alle anderen Länder befinden sich nahe am Durchschnitt und bilden die Mittelgruppe.

Allerdings sagen diese Daten für sich genommen noch nicht allzu viel aus. Sie beschreiben lediglich das relative Verhältnis der Länder zueinander. Das liegt an der Art und Weise, wie die Studien konstruiert sind. Die Studien des IQB wurden in einem bestimmten Startjahr (2011; für Rechtschreibung erst 2016) durch Vor-Tests an konkreten Schülern so normiert, dass der Mittelwert der Ergebnisse bei 500 Punkten liegt. Wendet man diesen Test nun in späteren Jahren bei anderen Schülern an, kann man sehen, ob das Schulsystem im Zeitverlauf leistungsstärker oder leistungsschwächer wird. Der normierte Test ist wie ein Fahrstuhl, in dem Kinder unterschiedlicher Größe stehen. Man muss daher nicht nur messen, wie schnell die Kinder wachsen oder schrumpfen, sondern auch, ob der Fahrstuhl nach oben oder unten fährt. 

 

 

Genau das haben die Forscher vom IQB getan. Und es ist dieser Vergleich zwischen den Jahren 2011, 2016 und 2021, der ihnen tiefe Sorgenfalten ins Gesicht treibt. Denn sogar in Bayern und Sachsen nehmen die Leistungen der Schüler in Wahrheit ab. Ihre Spitzenplätze behalten diese Länder nur, weil der Bildungsverfall in den anderen mindestens genauso groß oder sogar noch größer ist. Bayern und Sachsen bleiben zwar die größten Kinder im Fahrstuhl, aber alle fahren nach unten. Das betrifft übrigens auch den Stadtstaat Hamburg. Auch dort sind die Leistungen zurückgegangen und keinesfalls besser geworden. Nur fiel der Rückgang geringer aus als in anderen Ländern. In Wahrheit sind also auch Hamburgs Schüler, wenn auch überwiegend statistisch nicht signifikant, schlechter als zuvor. Bildungssenator Rabe hat dennoch verkündet, „das mit Abstand beste Ergebnis“ seit 20 Jahren eingefahren zu haben. Das läuft am Ende auf die Freude darüber hinaus, dass andere noch viel schneller viel schlechter geworden sind als man selbst. Ein grenzwertiges Verständnis guter Bildung.

Ein rapider Leistungsrückgang

Besonders deutlich wird das ganze Desaster, wenn der IQB-Bericht die Lernrückstände in Monate umrechnet. Im Durchschnitt haben demnach deutsche Schüler in Mathematik seit 2011 etwa ein halbes Jahr verloren, im Lesen ebenso und im Zuhören sogar knapp neun Monate. Übernimmt man diese Berechnungslogik und tut so, als wäre im Jahr 2011 in Bayern die Welt noch in Ordnung gewesen und verwendet die Leistungen der damaligen Schüler als Maßstab für alle, ergibt sich für das Jahr 2021 das folgende Bild: Auch die heutigen bayerischen Schüler haben binnen zehn Jahren sowohl in Rechtschreibung als auch Mathematik bereits in der vierten Klasse etwa 30 Leistungspunkte verloren, also rund vier Monate. In Berlin, Brandenburg und Bremen liegt der Rückstand in Mathematik sogar zwischen 81 und 96 Punkten – das entspricht mindestens einem Schuljahr. Und diese drei Länder haben auch im Bereich Rechtschreibung Leistungsrückstände, die einem ganzen Schuljahr entsprechen, allerdings sogar gegenüber 2016.

 

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Was das für die Zukunft bedeuten wird, ist klar: Da Lernprozesse aufeinander aufbauen, ist mit der Verschärfung der deutschen Bildungsmisere zu rechnen. Die Probleme werden durch Lernlücken aus der Vergangenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit Jahr für Jahr größer und nicht kleiner. Wenn Handwerksmeister daher schon heute darüber stöhnen, wie groß die Defizite ihrer Lehrlinge im Lesen, Schreiben und Rechnen sind, werden sie sich in vier oder fünf Jahren nach den heutigen Schulabsolventen noch alle Finger lecken.

Einen Vorgeschmack auf das, was Deutschland blüht, bieten dabei auch die Daten des IQB. Untersucht wurde im Zeitverlauf, welche Schüler den „Optimalstandard“ erreichen und das Potenzial haben, künftige Spitzenkräfte zu werden; wer den „Regelstandard“ erreicht und daher gute Chancen hat, problemlos seinen Schulabschluss zu schaffen; und wer bereits in der Grundschule nicht einmal den „Mindeststandard“ erreicht und daher ein Kandidat für künftigen Schulabbruch ist.

Eher eine Schlechtschreibung

Im Vergleich der Jahre 2011, 2016 und 2021 ist der Befund in fast allen Bundesländern der gleiche: Die Gruppe leistungsstarker Schüler nimmt (teils rapide) ab, ebenso wie die Gruppe, die den Regelstandard erreicht. Und so richtig alarmierend ist: Die Gruppe derjenigen, die nicht einmal den Mindeststandard erreichen, hat sich deutschlandweit ungefähr verdoppelt. Auch hier stechen Bayern und Sachsen scheinbar positiv hervor, auch wenn sie sich selbst erheblich verschlechtert haben: „Nur“ rund 13 Prozent der Schüler sind dort in Mathematik vom Scheitern der Schulkarriere bedroht. Viel, viel schlimmer ist die Lage in Bremen mit 35,6 Prozent, in Berlin mit 34,5 Prozent, in Brandenburg mit 29,2 Prozent oder in Nordrhein-Westfalen mit 28,1 Prozent. Während die entsprechenden Werte in Bremen auch vor zehn Jahren schon desaströs waren, hat sich der Negativwert in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen binnen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Das gesamte Bildungssystem droht dort ins Rutschen zu kommen. In keinem anderen Land zeigt sich in den vergangenen Jahren dabei ein so rasanter Bildungsabstieg wie im beschaulichen Brandenburg. 

 

 

Das belegt auch der Bereich Rechtschreibung. Allein von 2016 zu 2021 hat sich deutschlandweit die Gruppe derjenigen, die nicht einmal den Mindeststandard erreichen, von rund 22 auf über 30 Prozent erhöht. In Berlin sind es 46,1 Prozent, in Niedersachsen 36,7 Prozent, in Bremen 42,0 Prozent. Auch in diesem Bereich ist es Brandenburg, das alle bisher gekannten Dimensionen des Bildungsabstiegs sprengt: Binnen nur fünf Jahren erhöhte sich der Anteil der Risikoschüler im Bereich Rechtschreibung von 23,2 auf sagenhafte 45,7 Prozent. Aber auch in Bayern hat sich der Anteil an Risikoschülern von immerhin 12,5 auf 20,5 Prozent fast verdoppelt. Keine guten Aussichten also für das einstige Land der Dichter und Denker.

Daten, aus denen man nicht schlau wird

Nur mit zwei Faktoren könnte man die These zurückweisen, dass ganz grundsätzlich etwas faul ist in der Bildungsrepublik Deutschland: mit der Flüchtlingskrise 2015/2016 und mit den Folgen der Corona-Pandemie. Das Schulsystem hat dann vielleicht gar kein grundsätzliches Problem, sondern leidet nur unter unkalkulierbaren, externen Sonderfaktoren. Und tatsächlich sollte der IQB-Bildungstrend auch dazu dienen, diesen Fragen genauer nachzugehen. Schulpolitisch interessant wäre also die Frage, in welchem Umfang der Rückgang der Schulleistungen auf die einzelnen Faktoren (Schulkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise) zurückzuführen ist. Das wäre notwendig, um die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Aber ausgerechnet in diesem Punkt fällt das Ergebnis der Forscher mager aus. Zwar wurden die Ergebnisse getrennt nach Kindern mit und ohne Migrationshintergrund ausgewertet. Wirklich schlauer wird man daraus indes nicht. Zwar weisen Kinder mit Migrationshintergrund durchschnittlich geringere Kompetenzwerte auf, aber man braucht offenbar keinen hohen Anteil an solchen, um beim Verfehlen der Mindeststandards ganz weit vorn zu sein. Dies zeigt zum Beispiel Brandenburg. 

Und auch sonst geben die Kontextmerkmale, die in der Studie erhoben wurden, ziemlich wenig her. Beispiel Unterrichtszeit: Deren Einfluss auf den Lernerfolg dürfte unmittelbar einleuchten. Interessant ist zunächst, dass sich die Anzahl der Unterrichtsstunden sowohl in Mathematik als auch in Deutsch zwischen den Ländern stark voneinander unterscheidet. So haben die Kinder in Berlin während der Grundschulzeit 31 Stunden Deutschunterricht, während es im Saarland nur 20 sind. Man kann mit 23 Deutschstunden sowohl in der Spitzengruppe landen (Bayern) als auch Bummelletzter werden (Bremen). Und selbst wenn man die Stundenanzahl verringert, kann man sich verbessern – so geschehen in Sachsen. Alles in allem ist das eine ziemlich wackelige Datenbasis, um daraus bildungspolitisches Steuerungswissen zu gewinnen. Nur eines weiß man jetzt genau: Die Probleme sind offenbar noch sehr viel größer, als ohnehin schon immer befürchtet.

Brandenburgs Erklärung

Britta Ernst allerdings, die Bildungsministerin von Brandenburg, zweifelt die miserablen Ergebnisse für ihr Land grundsätzlich an. Sie spricht von einer „Verzerrung der Länderergebnisse“. Und sie hat dafür möglicherweise sogar gute Argumente. Unmittelbar vor der Testung waren die Schulen in Brandenburg coronabedingt für zwei Monate ganz geschlossen und zwei weitere Monate nur im Wechselunterricht. „Andere Bundesländer mit einem späteren Testzeitraum befanden sich zum Zeitpunkt der Testung schon länger wieder im normalen Präsenzunterricht“, lässt sie offiziell mitteilen. Das könnte immerhin den deutschlandweit beispiellosen Bildungsabstieg ihres Bundeslands erklären. Dann würden die Ergebnisse für Brandenburg aber gar nicht so viel über die Qualität seines Schulsystems, sondern über die verheerenden Auswirkungen von Schulschließungen sagen.

Dazu, ob tatsächlich eine solche „Verzerrung“ vorliegt, äußert sich das IQB indes nicht. Das gebe das Studiendesign einfach nicht her. Dennoch widersprechen die Bildungsforscher letztlich der Behauptung aus Brandenburg: „Einen statistischen Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und den -terminen finden wir in den Daten nicht, demnach haben also später Getestete keine besseren Leistungen erzielt.“ Das allerdings war auch gar nicht die Behauptung aus Brandenburg. Es ging nicht um die Frage, wann getestet wurde, sondern darum, wie viel regulären Unterricht die Schüler in den Ländern vor der Testung in Anspruch nehmen konnten. Und welchen Effekt dies auf die Ergebnisse hatte. Aber ausgerechnet diesen Effekt kann das IQB „nicht genau bestimmen“. Nur so viel könne man sagen: Es spreche viel dafür, „dass die ungünstigen Veränderungen teilweise mit der Coronavirus-Pandemie zusammenhängen“. Das allerdings ahnte man auch schon vorher. Ohne wissenschaftliche Studie und Kosten in Millionenhöhe.

Die Pisa-Erkenntnis

Eigentlich sollte, beginnend mit Pisa 2000, in Sachen Bildung alles anders und besser werden in Deutschland. Damit verbunden war ein ganz neuer Ansatz der Steuerung des Schulsystems. Früher, vor Jahrzehnten also, funktionierte das so: Es gab in den Fächern relativ verbindliche Rahmenpläne. In denen stand, was die Lehrer den Schülern beizubringen hätten. In der Wissenschaft wird das auch als „Input-Steuerung“ bezeichnet: Das, was hinten rauskommt, soll das Ergebnis dessen sein, was man vorne hineingibt.

Dann gab es mit Pisa 2000 zwei Probleme: Erstens erwies sich das durchschnittliche Leistungsniveau als zu gering, und zweitens erwiesen sich die Unterschiede zwischen den Ländern und innerhalb der Länder zwischen den Schulen trotz verbindlicher Rahmenpläne als zu groß. Das Niveau sollte also steigen, der Abstand zwischen den Ländern und Schulen gleichzeitig verringert werden: hohe Leistung für möglichst alle also.

Vom Wissen zur „Kompetenzorientierung“

Eine ganze Generation empirischer Bildungswissenschaftler machte sich daher auf den Weg, der Bildungspolitik die „Output-Steuerung“ zu empfehlen. Im Kern bestand der Strategiewechsel aus drei Elementen: Erstens wurden die verbindlichen Rahmenpläne abgeschafft, und zweitens sollte jede Schule und jeder Lehrer im Grunde selbst entscheiden dürfen, was er unterrichtet. Drittens wurden Kompetenzen festgelegt, deren Erreichung anhand von Bildungsstandards extern überprüft werden sollte. Mehr Freiheit für Lehrer und Schulen – und mehr objektivierter Druck von außen: Das sollte die Probleme lösen. Es komme künftig eben nicht mehr so sehr auf das Wissen, sondern auf das Können an, heißt es seit rund zwei Jahrzehnten mit großer Selbstverständlichkeit in vielen Lehrerzimmern dieser Republik – „Kompetenzorientierung“ nennt man das. Wie man allerdings etwas können kann, ohne etwas zu wissen, bleibt ein gewisses Rätsel. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann merkte in diesem Zusammenhang einmal spöttisch an: „Lernen ohne Inhalte ist wie Kochen ohne Zutaten.“

 

 

Im ersten Jahrzehnt nach Pisa schien das aber irgendwie trotzdem zu funktionieren: Deutschland holte auf. Seinerzeit lobten sowohl Bildungswissenschaftler als auch Bildungspolitiker ihren eigenen Reformeifer. Aber im zweiten Jahrzehnt nach Pisa ist nun alles anders. Die Leistungen nehmen nicht zu, sondern ab. Und das tun sie nicht erst seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 und Corona, sondern schon davor. Und zwar deutschlandweit statistisch signifikant.

Eigentlich wäre es dann logisch, der Frage nachzugehen, ob die kompetenzorientierte Output-Steuerung vielleicht an ihr Ende gekommen ist. Ob die gute alte Schule vielleicht doch nicht so schlecht war wie ihr Ruf. So wie im ersten Jahrzehnt nach Pisa ein Leistungsanstieg auch umgekehrt als Erfolg gewertet wurde. Von derartigen Selbstzweifeln wollen aber weder die Macher der Studie noch die Kultusminister etwas wissen. Karin Prien (CDU), Präsidentin der Kultusministerkonferenz, nennt die Befunde zwar „ernüchternd“, lässt aber keine grundsätzlichen Zweifel am eingeschlagenen Weg erkennen. Petra Stanat vom IQB liefert für den Mangel an Selbstzweifeln auf Anfrage von Cicero sogar eine methodische Begründung: Da die Studie ja gar kein Erklärungswissen liefere, könne man mit ihr logischerweise auch nicht nachweisen, ob der Leistungsrückgang irgendetwas mit der „Kompetenz­orientierung“ zu tun habe. Die Sache hat nur einen logischen Haken: Wenn das stimmt, hätte es vor 20 Jahren mit den Daten von Pisa auch keinen empirischen Befund gegeben, der den vollzogenen Paradigmenwechsel hin zu „Kompetenzorientierung“ wissenschaftlich rechtfertigt.

Auswege gesucht

Klaus Zierer von der Universität Augsburg kann angesichts solcher Aussagen daher nur den Kopf schütteln. „Die Aufgabe der Wissenschaft besteht ja gerade darin, Erklärungs- und nicht nur bloßes Beschreibungswissen zu liefern. Wozu sollten sonst all die vielen Millionen ausgegeben werden? Nach der Erhebung der Daten kommt in der Wissenschaft deren erklärende Interpretation. Wer nur Fliegenbeine zählt, wird nie ein Verständnis von einer Fliege entwickeln können“, meint Zierer. Vielleicht, so seine Vermutung, gebe es für die analytische Schwäche der IQB-Studie auch einen ganz einfachen Grund. Viele empirische Bildungsforscher seien nämlich gar keine Lehrer gewesen, hätten die Schule zuletzt als Schüler gesehen. Damit fehle trotz empirischer Expertise die Kenntnis bildungstheoretischer und -praktischer Zusammenhänge: „Wer das Feld nicht kennt und von Schule keine Ahnung hat, der wird aus seinen Zahlen auch nichts Vernünftiges ableiten können.“ Es ist dann ganz so, als wenn der Arzt seinem Patienten bloß die Symptome minutiös erklärt, ihn aber ohne Therapie wieder nach Hause schickt. 

 

 

Alle Hoffnungen der Politik ruhen daher jetzt auf der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission ( StäWiKo ) der KMK. Für Dezember 2022 werden von ihr Vorschläge für eine Reform des Schulsystems erwartet. Man kann nur hoffen, dass die Deutschstunden nun nicht überall verringert werden, um endlich so gut zu werden wie Sachsen.

Derzeit spricht also nichts dafür, dass der eingeschlagene Weg von Politik und Wissenschaft noch einmal grundsätzlich überdacht wird. Brandenburg hat direkt im Anschluss an die Ergebnisse der Studie zwar einen „12-Punkte-Plan“ veröffentlicht. Aber der ist keine „Bazooka“, sondern die allseits bekannte Sammlung von bildungspolitischen Allgemeinplätzen. Entwickeln sich die Dinge also, wie sie sollen, werden die Ergebnisse als Beleg für die Richtigkeit des eigenen Handelns bewertet. Ist das Gegenteil der Fall, scheint das Heilmittel bloß noch nicht ausreichend hoch dosiert. 

Die Grenzen der Trickserei

Und wenn in den nächsten Jahren alle Stricke reißen und sich einfach keine besseren Leistungen einstellen sollten, gibt es natürlich noch einen anderen Weg zur Lösung des Problems: Man könnte dann die Testverfahren an den neuen, weniger leistungsstarken Kohorten der Zukunft neu normieren. Die Grundschüler des Jahres 2026 starten dann einfach wieder bei einem Mittelwert von 500 Punkten, obwohl ihr tatsächliches Leistungsvermögen noch sehr viel mehr unter dem des Jahrgangs 2011 liegt als heute schon. Der Öffentlichkeit wird man wahrscheinlich gut verkaufen können, warum die Tests einfach alle 15 Jahre neu aufgesetzt werden müssen. Das Wissen veralte heute doch immer so schnell. Daher komme es auf verbindliches Wissen ja auch nicht mehr so an.

Aber es wird einen Evaluator geben, den man dadurch nicht austricksen kann: Es sind die Handwerker, sonstigen Arbeitgeber und Hochschulen dieses Landes, die gesellschaftliche Realität also. Die wird sehr schnell und auch schmerzlich merken, wie gut die Mitarbeiter und Studenten von morgen noch rechnen, lesen und schreiben können. Und das alles wird Konsequenzen haben. 

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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