Deutsche Außenpolitik - Außen vor

Der deutschen Außenpolitik fehlt es an einer langfristigen strategischen Ausrichtung und an der Fähigkeit, eigene Interessen zu definieren. Für eine Neuausrichtung braucht es einen tief greifenden Bewusstseinswandel

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Kann eine deutsch-franzsösische Zusammenarbeit Ordnung in die EU-Politik bringen? / picture alliance
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Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Die Begründung, die Bundesaußenminister Heiko Maas Ende Juli für die Absage an eine deutsche Beteiligung an einem amerikanischen Militäreinsatz im Persischen Golf zum Schutz des Handelsverkehrs anführte, war eindeutig: Man wolle nicht die US-Strategie des maximalen Drucks auf den Iran unterstützen. Vorausgegangen war dieser Erkenntnis eine tagelang wabernde Diskussion im Konjunktiv, bei der eine Beteiligung der deutschen Marine von verschiedenen Seiten auch mit dem Argument in Aussicht gestellt worden war, man könne nicht abseitsstehen. Die britische Regierung hingegen war zu einem anderen Schluss gelangt: Sie hat für die Royal Navy in der Straße von Hormus eine führende Rolle an der Seite der Vereinigten Staaten übernommen, mit der Begründung, dass sie unter dem Schutz des Völkerrechts die größtmögliche internationale Unterstützung für freie Seewege zustande bringen wolle und sich an den Grundlinien der bisherigen britischen Iranpolitik nichts geändert habe.

Es ist nicht das erste Mal, dass führende europäische Staaten in grundlegenden außenpolitischen Fragen getrennte Wege gehen. In Zeiten der transatlantischen Entfremdung hat dies weitreichende Auswirkungen. Damit verbindet sich die Diskussion über Stil und Schwerpunkte der deutschen Außenpolitik aufs Engste mit der gegenwärtigen Krise Europas. Die Einsicht, dass diese Krise wohl überhaupt nur dann gelöst werden könne, wenn Deutschland seiner Verantwortung und Führungsrolle gerecht werde, wird in Deutschland nicht gerne gehört – sie ist dafür im Ausland umso häufiger anzutreffen.

Das Erbe der deutschen Teilung

Schon immer hat die deutsche Außenpolitik nur ungern scheinbar Bewährtes infrage gestellt. Je mehr sich die Welt verändert, neue Unsicherheiten wie asymmetrische Bedrohungen, die Auswirkungen der Globalisierung oder die Auflösung der traditionellen Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik die Rahmenbedingungen verschieben und den Anpassungsdruck erhöhen, wird die Vorliebe vieler Deutscher für ein einfaches „Weiter so“ zum Hemmnis. Das ist zunächst ein Analyseproblem, weil die Neigung der Deutschen, Außen- und Sicherheitspolitik auf weite Sicht zu formulieren, eher gering ist – und sie stellt politische Führung zunehmend vor die beträchtliche Herausforderung, die innere Basis für Außenpolitik, nämlich den gesellschaftlichen Konsens zu verbreitern, das Bewusstsein für erforderliche Anpassungen zu schärfen und Diskussionen anzustoßen.

Die Antwort auf die Frage, warum sich die Deutschen mit Außenpolitik so schwertun, muss zunächst bei einigen grundsätzlichen Erwägungen ansetzen. Außenpolitisches Desinteresse hat in Deutschland historische Gründe. Die alte Bundesrepublik war, wie Henry Kissinger 1965 schrieb, ein Staat ohne Außenpolitik. Diese Beschränkung war zuallererst den politischen Umständen nach dem verlorenen Weltkrieg zuzuschreiben. Außenpolitische Interessen beschränkten sich vorrangig auf wirtschaftspolitische Ziele. Das eigentlicheFeld deutscher Politik hieß Deutschlandpolitik und handelte vor allem von Rechtsfragen und humanitären Erleichterungen. Die alte Bundesrepublik war ein zutiefst westlicher Staat gewesen. Die Deutschen in der DDR hingegen waren vier Jahrzehnte einem gezielt antiwestlichen Einfluss ausgesetzt. Dies wirkt bis heute in den Mentalitäten nach und erklärt manche bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen – etwa in der Einstellung gegenüber Russland oder den Vereinigten Staaten. Zu diesem Erbe gehört auch, dass Deutschlands Haltung gegenüber Russland von seinen ostmitteleuropäischen Partnern besonders kritisch betrachtet wird und in der öffentlichen Russlanddebatte bisweilen rein wirtschaftlich motivierte, nicht­strategische Betrachtungen – auch bei so zentralen Projekten wie Nordstream 2 – durchscheinen. Nach Rapallo jedoch führt kein Weg zurück.

Undiplomatische Twitter-Forderungen

Die Lage nach 1990 unterschied sich grundlegend von der Welt des Kalten Krieges. Das Geschenk der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit war ganz überraschend gekommen. Das fortan bestimmende Mantra hatte Helmut Kohl vorgegeben: Deutsche Einheit und europäische Integration seien zwei Seiten derselben Medaille. Folgerungen aus der veränderten Lage wurden nur allmählich und zumeist als Ergebnis schwieriger Entscheidungsprozesse getroffen. „Et hätt noch immer jot jejange“ – das ungeschriebene Gesetz der rheinischen Republik wurde mit dem Umzug an die Spree stillschweigend auf die Berliner Republik übertragen. Die wirklichen außenpolitischen Debatten seit der Wiedervereinigung sind an einer Hand abzuzählen. Es ist kein Zufall, dass sie entlang zweier großer Themenbereiche stattfinden. Zum einen ist dies der Erfordernis geschuldet, als Bündnispartner der Nordatlantischen Allianz sowie als gestaltendes Mitglied der Europäischen Union und der Vereinten Nationen in robusteren Einsätzen auch militärische Verantwortung zu übernehmen, insbesondere im ehemaligen Jugoslawien, in Zentralafrika, dem Nahen Osten oder Afghanistan. Zum anderen ergaben sich mehr und mehr Entscheidungsfragen aus dem Umstand, dass zu einer echten europäischen Verteidigung auch der Aufbau von eigenen europäischen Rüstungskapazitäten und die Zusammenarbeit mit europäischen Schlüsselpartnern bei der Entwicklung, Herstellung und dem Export von militärisch nutzbarem Gerät gehören.

Die undiplomatische Twitter-Forderung Donald Trumps, Deutschland möge seiner wiederholt zugesagten Nato-Verpflichtung, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent seines Bruttonationalproduktes zu steigern, endlich nachkommen, bleibt bislang uneingelöst und wird weiter für innenpolitischen Streit sorgen. Die Stimmen aus dem Ausland sind fordernder geworden. Die seit der Reichsgründung 1871 in Variationen wiederholte Frage „Wer hat Angst vor Deutschland?“, die sich mit der Hybris und den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands als allzu berechtigt erwies, hat sich heute in die Doppelfrage verkehrt, ob Deutschland für seine Größe und sein wirtschaftliches Gewicht genug für andere tue und ob nicht deutsche Schwäche das eigentliche Problem unserer Zeit sei. Einfach beiseitezuwischen oder befriedigend zu beantworten sind diese Fragen nicht. Als 1989 die Beteiligung zweier deutscher Firmen an einer Giftgasfabrik Muammar al Gaddafis im libyschen Rabta ruchbar wurde, verlieh der Kommentator der New York Times mit dem Begriff „Ausch­witz-in-the-sand“ seinem Argument, die Bundesregierung möge sich mit dem Fall beschäftigen, den größtmöglichen Nachdruck.

Eigene Interessen definieren und durchsetzen

Die Schwierigkeiten bei der Definition von nationalen Interessen und der Bestimmung von Rang und Rolle haben viel mit der bis heute anhaltenden außenpolitischen Malaise zu tun. Sie mögen teilweise auch erklären, weshalb eine große gesellschaftliche Debatte, ein über das klassische Ressortdenken hinausgehender gesamtpolitischer Zugriff auf Außenpolitik in Deutschland schwerer fällt als anderswo. Eine parteiübergreifende Kommission des Deutschen Bundestags zur Prüfung der Tauglichkeit der vorrangigen Instrumente wie dem Auswärtigen Dienst oder dem Bundesnachrichtendienst hat es nach 1990 nicht gegeben. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Tendenzen der strategischen Unsicherheiten und anarchischen Erscheinungsformen des Staatensystems, die Erschwernisse der multilateralen Zusammenarbeit durch den Aufstieg illiberaler Systeme und der Zunahme nationaler Egoismen die Stolpersteine auf dem Weg zur zunehmenden Verrechtlichung in den kommenden Jahren vergrößern. Der durch Globalisierung und Machtverschiebung erzeugte Druck, auch die Frage der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in der Welt, werden zudem dazu führen, dass der Preis für versäumte Anpassungen und notwendige Reformen hoch ausfallen wird, wenn ein tief greifender Bewusstseinswandel ausbleibt.

Außenpolitik muss deshalb zunächst die Erscheinungen der Gegenwart – technologische Entwicklungen, weltwirtschaftliche Trends, Entwicklung der Finanzmärkte, Fragen der Umwelt und der Entwicklung – als eine Einheit begreifen. Und sie hat ein nationales Anpassungs- und Umsetzungsproblem, das die Frage der Elitenbildung ebenso umfasst, wie es die Beschäftigung mit einfachgesetzlichem und grundgesetzlichem Änderungsbedarf einschließt. Mit der Neigung, große außenpolitische Fragen einvernehmlich parteiübergreifend zu lösen, sind die Deutschen bislang gut gefahren. Dieses Prinzip kommt aber dort an seine Grenzen, wo dynamische Integrationsentwicklungen behindert werden und die Berufung auf nationale Rechtsgrundlagen – Auslandseinsätze und Rüstungsexporte sind hier nicht von ungefähr ganz vorne bei den Beispielen – zum Anlass für ein Beiseitestehen genommen wird. Eine langfristige strategische Ausrichtung der Politik an den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen setzt die Fähigkeit voraus, eigene Interessen zu definieren und durchzusetzen, die Bereiche miteinander zu verknüpfen und die budgetären Voraussetzungen zu schaffen, damit die künftig noch besser miteinander verbundenen Instrumente mit den Mitteln ausgestattet werden können, die sie zur Erfüllung ihrer veränderten Aufträge brauchen.

Unordentliche Europapolitik

Die beste politische Konzeption ist aber folgenlos, wenn der richtigen strategischen Analyse keine entsprechende Umsetzung folgt. Dazu gehört insbesondere die Einsicht, dass Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Militärstrategie in ein und demselben Rahmen operieren und von einem einheitlichen Konzept geleitet werden. Die großen technologischen Entwicklungen unserer Zeit – Digitalisierung, Blockchain und künstliche Intelligenz – ebenso wie die Zukunftsfragen von Umwelt und Natur kommen als Beschleuniger von Veränderungsprozessen daher und können nur in einem politik­übergreifenden Gesamtansatz bewältigt werden. Genau dies aber erfordert weitere strukturelle und mentale Anpassungen an die sich verändernde Wirklichkeit, einen konsequenten ressortübergreifenden Ansatz in der Sicherheitspolitik, ein Bekenntnis zur Bundeswehr, das sich in gesellschaftlicher Wertschätzung, Mittelausstattung und strategischer Aufgabenzuweisung niederschlägt, ebenso wie einen noch viel intensiveren Dialog mit der Öffentlichkeit – auch den Abschied von Frage- und Denkverboten und der Pflege von Steckenpferden.

Auf dieser Basis kann sich die deutsche Außenpolitik den beiden überwölbenden Herausforderungen widmen, die den Bezugsrahmen für alle anderen Punkte der außen- und sicherheitspolitischen Agenda bilden: Europa und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Noch nie war in der Europapolitik so viel in Unordnung wie heute. Das künftige Verhältnis der Europäischen Union zu Großbritannien ist ungewiss, die deutsch-französische Zusammenarbeit hat schon bessere Tage gesehen, in entscheidenden Fragen der strategischen Ausrichtung – Verhältnis zu Russland und zum aufstrebenden China, Finalität Europas, Verhältnis zu Trumps Amerika – ebenso wie in Grundsatzfragen seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Orientierung (etwa in Migrationsfragen, Angelegenheiten der Haushaltsdisziplin oder darüber, ob es künftig mehr oder weniger Integration geben soll) ist Europa heute gespalten. Ursula von der Leyens Vision, als Brückenbauerin Europa wieder in die richtige Balance zu bringen, ist auch ein Arbeitsauftrag an die deutsche Außenpolitik, hinreichend bindende Kräfte nach innen zu entfalten und eine sichtbare und konsistente strategische Ausrichtung nach außen zu vertreten. Eine wahrnehmbare Stärkung Europas, das vor allem seine Verantwortung für außereuropäische Räume vom afrikanischen Mittelmeerraum über den Nahen Osten nach Russland und Asien wahrnimmt, in den Vereinten Nationen insbesondere bei den Themen Frieden und Entwicklung als Vorreiter wirkt, ist zugleich der beste Beitrag für funktionierende transatlantische Beziehungen.

Notwendiger Dialog

In den transatlantischen Beziehungen herrscht heute Sprachlosigkeit zu einem Zeitpunkt, wo Dialog mehr denn je gefragt wäre. Die alten Personennetzwerke der Atlantik-Brücke versagen mehr und mehr ihre guten Dienste, nicht zuletzt, weil die sie prägenden Generationen weithin abgetreten sind. Es fehlen gegenseitige Kenntnis und Verständnis. Was vor allem fehlt, ist eine wahrnehmbare deutsche und europäische Präsenz in Amerika, die sich mit guten Argumenten in unbequeme Diskussionen begibt, für den europäischen Standpunkt wirbt und ohne erhobenen Zeigefinger Amerika an die gemeinsamen Werte erinnert, wie sie auch im Eintreten für eine regelbasierte, multilaterale Ordnung zum Ausdruck kommen. Es wäre zu einfach, den gegenwärtig schlechten Zustand der deutsch-amerikanischen Beziehungen allein den bekannten Verhaltensmustern und einschlägigen Äußerungen Donald Trumps zuzuschreiben.

Denn der Prozess der gegenseitigen Entfremdung hat bereits wesentlich früher eingesetzt und reicht in der Konsequenz von einer rückläufigen amerikanischen Truppenpräsenz bis zu gelockerten Bindungen in der Wissenschafts- und Forschungskooperation weiter zurück. Der „pivot to Asia“ wurde in Deutschland nur nach und nach verstanden, der Blick auf Präsident Obamas Desinteresse an Europa von seiner Popularität in Europa verstellt. Trumps „America First“ ist zuvörderst eine nach innen gerichtete Ansage, sich vorrangig auf die innenpolitischen Probleme zu konzentrieren. Es bietet aber auch die Chance, in einen neuen Dialog über ganz unterschiedliche Themen einzutreten und sich mit Vorschlägen der Lastenteilung als neuer Partner zu empfehlen. An den transatlantischen Beziehungen zeigt sich zumal, dass alles, was die deutsche Außenpolitik betrifft, zugleich eine europäische Dimension hat. Denn die Kehrseite der Klimaverschlechterung ist zunehmende Ungeduld der Vereinigten Staaten mit den Europäern, eine Art Desinteresse Amerikas am Projekt der europäischen Integration.

Der deutsch-französische Motor

Die Priorität Europas liegt auf der Hand, denn ohne ein funktionierendes, wettbewerbsfähiges und im Inneren ausgewogenes Europa, das die Nationalstaaten weder überflüssig macht noch gängelt, sind fast alle anderen Ziele der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Makulatur.

Als Weg zu diesem Ziel bietet sich vor allem anderen die deutsch-französische Zusammenarbeit an. Dies entspricht der außenpolitischen Tradition der Bundesrepublik, bietet die Möglichkeit, in Europa eine steuernde Kraft zu entfalten und die Europäische Union zu dem zu befähigen, was sie heute noch nicht ist, aber spätestens morgen schon sein müsste, um sich in einer rapide verändernden Welt zu behaupten. Die deutsch-französischen Initiativen können zudem Magnetwirkung auch auf andere Partner entfalten, wenn sie sich nicht als exklusives Zweierbündnis verstehen und die wiederkehrend aufschimmernden nationalen Egoismen überwinden. Ohne strategische Steuerung und parlamentarisch-politische Überzeugungsarbeit wird dies aber nicht gelingen. Es ist zudem an Einigkeit über die Beschreibung der Rahmenbedingungen, die außen- und sicherheitspolitischen Zielsetzungen, die Rolle von Streitkräften und den gemeinsamen strategischen Ansatz gebunden. Der deutschen Außenpolitik stünde dies nicht schlecht an. François Mitterrand hat diese Vision schon vor Jahren skizziert und mit einem in eine Sentenz verpackten klugen Rat verbunden: „Es liegt in der Natur einer großen Nation, große Entwürfe zu verfassen.“ 

Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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