Überfällige Debatte - Atomkraft ja bitte? Die taz wagt den Tabubruch

Eine Lebenslüge der Grünen beginnt zu bröckeln: Könnte es sein, dass Kernkraft angesichts des Klimawandels das kleinere Übel ist? Die der Ökopartei nahestehende „Tageszeitung“ (taz) fordert eine offene Debatte ohne Tabus.

Bollwerk der Anti-AKW-Bewegung: Stimmungswandel bei der „Tageszeitung“ (taz) / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Die Berliner „Tageszeitung“ (taz) ist das Zentralorgan der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland. 1978 als linksalternative Gegenstimme zum damals noch deutlich konservativeren Presse-Mainstream gegründet, war der Kampf gegen die Atomkraft von Anfang an eines der Kernthemen und Herzensanliegen des Blattes. Das letztendlich selbst die CDU auf diesen Kurs umgeschwenkt ist und sich nicht einmal Friedrich Merz traut, den von Angela Merkel durchgesetzten und bald vollendeten Atomausstieg in Frage zu stellen, ist auch ein Ergebnis der Beharrlichkeit, mit der die taz die Risiken dieser Technologie aufgebauscht und den „Atomstaat“ bekämpft hat.

Ausgerechnet jetzt, während sich Klimaminister Robert Habeck dazu aufschwingt, den Windmühlenstaat zu errichten, rückt die taz von einer ihrer Grundüberzeugungen ab. Nicht die gesamte Redaktion sicherlich, aber das Blatt öffnet sich der dringend notwendigen Debatte, die in anderen Ländern schon längst viel offener und pragmatischer geführt wird: „Was wäre, wenn die anderen, die Atomkraftbefürworter*innen, recht hätten? Wenn die Bedeutung der AKWs und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, in Zeiten des Klimawandels, der großen Überlebensfrage für die Menschheit, neu bewertet werden müssen?“, fragt die taz-Journalistin Silke Mertins in einem lesenswerten Meinungsbetrag.

Angesichts der verheerenden CO2-Bilanz der bisherigen Energiewende, bei der Kohle- und künftig Gaskraftwerke die abgeschalteten nahezu CO2-freien Kernkraftwerke ersetzen, ist diese Frage mehr als berechtigt. Die Idee, Deutschland könne sich vollständig und zuverlässig mit heimischen Wind- und Solarstrom versorgen, hat sich als Irrglaube erwiesen. Das wissen selbst die Grünen, auch wenn sie die Bullerbü-Idee vom energieautarken Ökoparadies weiterhin vor sich hertragen.

Habecks Pläne sind abenteuerlich

Robert Habeck, der nicht nur Klima- sondern auch Wirtschaftsminister ist, wird sich angesichts rasant steigender Strom-, Gas- und Ölpreise sowie einer wachsenden Blackout-Gefahr bald auch damit beschäftigen, wie unsere Energieversorgung sicher und bezahlbar bleibt. taz-Journalistin Mertins, die selbst über sich schreibt, sie habe „immer gerne gegen AKWs sowie Atommülltransporte protestiert“, beziehe „selbstverständlich Ökostrom und hätte optisch nichts gegen ein Windrad im Hinterhof einzuwenden“, wundert sich, warum kaum jemand ihrer Kollegen Habecks abenteuerliche Pläne, im Rekordtempo etliche neue Windkraftanlagen und gleichzeitig neue Gaskraftwerke errichten zu lassen, kritisch hinterfragt.

„Habeck kann noch so viel in seiner Lieblingsrolle als Draußenminister durchs Land reisen und mit Menschen sprechen, es wird nicht reichen. Denn auch wenn es zeitnah gelingt, Genehmigungsverfahren zu verkürzen, wird es nach gültiger Rechtslage immer noch eine gewisse Zeit dauern, bis Anlagen genehmigt und gebaut sind“, schreibt sie und kommt zu dem Schluss: „Es dauert viel zu lange, neue Kraftwerke zu bauen und in Betrieb zu nehmen, um den Klimawandel in der entscheidenden Phase bis zum Kipppunkt noch positiv zu beeinflussen.“

Silke Mertins endet mit einem mutigen Plädoyer für eine Laufzeitverlängerung der noch bestehenden deutschen Atomkraftwerke. „Die Bedrohung durch die Klimakrise verlangt uns einiges ab, womöglich auch die Aufgabe liebgewonnener Positionen“, schreibt sie. „Angesichts der Erderhitzung kann nichts mehr tabu sein, wir können uns keine ideologische Verbohrtheit leisten. Deutschland wird dieses und wohl auch nächstes Jahr die Klimaziele nicht erreichen. Deshalb ist Pragmatismus gefragt, und pragmatisch wäre es, die ohnehin vorhandenen AKWs ein paar Jahre länger laufen zu lassen, um Zeit zu gewinnen.“

Joschka Fischer und die finnischen Grünen als Vorbild

Es wird spannend, ob die Atom-Debatte bei den Grünen nun geführt wird. Wenn Robert Habeck politische Größe hat, wird er den Ball bald aufnehmen. So wie einst Joschka Fischer den Kosovokrieg nutzte, um seiner Partei den Radikalpazifismus auszutreiben, könnte Habeck die sich zuspitzende europäische Energiekrise dazu dienen, die Grünen von ihrem anachronistischen Anti-Atom-Kurs abzubringen.

Vorbild wäre die Schwesterpartei in Finnland. „Nicht alle in der Partei sind mitgegangen, aber 2020 haben wir die Anti-Atomkraft-Haltung gestrichen. Wir sagen, dass wir alle nachhaltigen Technologien nutzen müssen, um fossile Energien loszuwerden“, sagte der Fraktionschef der finnischen Grünen im Interview mit der Welt am Sonntag.
 

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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