Das Thema Corona im Wahlkampf - Dröhnendes Schweigen

Im Bundestagswahlkampf spielt die Corona-Pandemie eine seltsam randständige Rolle. Das suggeriert, Grundrechtsbeschränkungen würden als Normalität akzeptiert. Doch Wähler wollen wissen, ob ein zukünftiger Kanzler auf eine freie, selbstverantwortliche Gesellschaft oder den rundumbetreuenden, vorschreibenden Sicherheitsstaat setzt.

Teilnehmer einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen im Mai in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Gut, es gab auch andere Themen in diesem Jahr. Die jüngste Flutkatastrophe etwa. Oder Afghanistan. Aber im Großen und Ganzen werden die Schlagzeilen dieses Landes, Europas und der Welt seit nunmehr 19 Monaten von einem Thema beherrscht: Corona.

Das mag ärgerlich sein oder zumindest langweilig, verwunderlich ist es nicht. Denn egal, wie man die Pandemie medizinisch einschätzen mag – dass sie die größte ökonomische, soziale und gesamtgesellschaftliche Herausforderung seit Jahrzehnten darstellt, ist unbestritten. Es geht um Gesundheit, um wirtschaftliches Überleben und individuelle Freiheitsrechte. Entsprechend beherrscht das Thema die Schlagzeilen.

Ein Kessel Buntes

Nur bei einer Veranstaltung spielt Corona eine seltsam randständige Rolle: im Wahlkampf. Stattdessen geht es – natürlich – um das Klima, manchmal um die Energiewende, um Bildung oder Digitalisierung. Ansonsten aber um den Kessel Buntes, aus dem das aktuelle Tagesgeschehen irgendein Stichwort in die Headlines spült: Hochwasser, Migration, Afghanistan, Mehrwertsteuer, Meldeportale für Steuerbetrug. Was auch immer. Und die Wahlkampfkarawanen hecheln hinterher.

Erstaunlich. Dabei wurden in den vergangenen Monaten die Freiheitsrechte der Bürger in einer Weise eingeschränkt, wie es sich noch vor zwei Jahren niemand hätte vorstellen können. Menschen wurden gezwungen, ihre Geschäfte zu schließen. Private Begegnungen wurden unterbunden. Die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Grenzen geschlossen. Um die ökonomischen Folgen dieser Maßnahmen abzufedern, wurden Schulden in schwindelerregenden Höhen gemacht.

Die Finanzminister liefen mit der Gießkanne durch den Garten. Kinder durften nicht in die Schule und wurden in einen nicht selten mediokren Digitalunterricht gezwungen. Eine ganze Generation insbesondere sozial Schwächerer droht nachhaltigen Schaden zu nehmen. Zugleich greift der Staat immer weiter in die Autonomie des Bürgers ein. Die digitale Rundumüberwachung wird erstmals konkret greifbar. Einlass? Nur noch mit digitalem Impfzertifikat. Man kann zu all diesen Stichworten ja stehen wie man will.

Man kann die Schließung von Schulen für sinnvoll halten oder nicht. Lockdowns für die einzige Lösung oder für maßlos übertreiben. Gesundheits-Apps für eine zukunftsweisende Technik oder eine echte Gefahr. Für alles gibt es mehr oder minder gute Gründe. Klar ist jedoch, dass die dahinterstehenden Themen von zentraler, um nicht zu sagen: überragender Bedeutung für unsere Gesellschaft und die Zukunft dieses Staates sind.

Keine tagespolitische Petitesse

Denn hier geht es nicht um irgendwelche tagespolitischen Petitessen. Persönliche Freiheit, digitale Überwachung, Einschränkung der Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken – all das sind Grundthemen unseres Gemeinwesens. An diesen Themen entscheidet sich, welche Gesellschaft wir wollen. Wenn über etwas gestritten werden sollte in diesem Wahlkampf, dann über diese Fragen.

Doch wo ist die Debatte? Wo werden die Alternativen klar erkennbar? Man tut, als wäre nichts gewesen, debattiert ein wenig über Maskenpflichten und den Schulunterricht im Herbst – ansonsten Fehlanzeige.

Und darin liegt das eigentlich Unheimliche dieses dröhnenden Schweigens: dass es suggeriert, die massiven Grundrechtsbeschränkungen und Eingriffe in das Wirtschaftsleben würden anscheinend schon als Normalität akzeptiert, über die zu debattieren nicht lohnt. Oder schlimmer noch: über die allenfalls nur Spinner streiten.

Zugegeben: Die Zurückhaltung in Sachen Corona hat auch damit zu tun, dass sich die Frontlinien quer durch die Parteien ziehen. Vorsichtige auf der einen und eher Freiheitliche auf der anderen Seite gibt es in allen Lagern. Doch das sollte die Kanzlerkandidaten, also Menschen, die sich um ein Amt bewerben, aus dem heraus die Grundlinien der Politik der nächsten Jahre bestimmt werden, nicht abhalten, sich klar zu positionieren. Stattdessen eiert man herum. Was Scholz denkt, bleibt auch bei diesem Thema sein Geheimnis. Frau Baerbock gibt sich eher undifferenziert. Allein Armin Laschet lässt gelegentlich Sympathien für mehr Lockerung erkennen.

Das ist zu wenig. Nicht auszuschließen nämlich, dass die Wähler wissen wollen, welches Ideal einem zukünftigen Kanzler vorschwebt: eine freie, selbstverantwortliche Gesellschaft. Oder der rundumbetreuende, vorschreibende Sicherheitsstaat. Doch zur Beantwortung dieser Frage fehlt den Bewerbern offensichtlich der intellektuelle Mut.

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