Coronavirus - „Eine Durchseuchung bei Kindern ist sehr riskant"

Kürzlich empfahl die Europäische Arzneimittelkommission die Zulassung des Biontech-Impfstoffes für Kinder ab fünf Jahren. Der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz legt im Interview seine Einschätzung dar und erklärt, warum eine Impfpflicht angesichts der neuen Omikron-Variante nötig werden könnte.

„Nur auf Hygienekonzepte in Schulen zu setzen, ist nicht ausreichend" / dpa
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Autoreninfo

Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Markus Scholz ist Professor am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig.

Herr Scholz, die Zahl der Neuinfektionen und die Inzidenzen stagnieren seit einigen Tagen, gehen sogar leicht zurück. Haben wir ein Plateau erreicht?

Es ist ein Effekt der Einschränkungen, die jetzt bestehen. Wenn man die nicht getroffen hätte, wären die Zahlen nach unseren Modellprognosen noch etwas weiter gestiegen – zwar nicht mehr sehr viel, weil wir bereits Herdeneffekte haben, aber eine Verdopplung der Fallzahlen hätten wir ohne die nun geltenden Maßnahmen noch erwartet.

Sie gehen davon aus, dass die Fallzahlen aufgrund der Maßnahmen nicht mehr weiter steigen werden?

Mit der Kombination aus Herdeneffekten und den Beschränkungen sollte es keinen deutlichen Anstieg mehr geben.

Nun fallen die Beschränkungen in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich aus. In Sachsen gelten viel schärfere Regelungen als in Berlin. Lässt sich in Sachsen erkennen, dass die Maßnahmen zu einem stärkeren Abfall der Fallzahlen geführt haben?

In Sachsen sind die Maßnahmen tatsächlich stärker. Dort sehen wir einen Rückgang der Fallzahlen. Das ist natürlich ein Effekt der Maßnahmen, die Durchseuchung ist nach unseren Modellen aber auch einfach stärker fortgeschritten. Also führt auch hier die Kombination aus Herdeneffekten und Maßnahmen zu einem Rückgang der Zahlen. Wir sehen die Auswirkungen des Herdeneffekts höher an als die durch den Lockdown. Das sind zwar Einschränkungen, aber sie sind nicht so stark wie im letzten Jahr. Auch die Mobilitätsdaten zeigen, dass die Wirkung des Lockdowns nicht zu stark sein kann. Der Rückgang rührt eher von den Durchseuchungseffekten her, aber auch von der Erweiterung der Impfkampagne.

Markus Scholz / Universität Leipzig

Damit sind die Durchseuchung und die Boosterimpfungen die wichtigsten Faktoren?

Ja, sie sind nach unserer Einschätzung wesentliche bremsende Faktoren. Die Einschränkungen haben nur noch einen zusätzlichen Beitrag.

Intensivmediziner schlagen immer wieder Alarm. Christian Karagiannidis vom Deutschen Intensivregister teilte jüngst mit, dass die Zahl der freien Intensiv- und Beatmungsbetten in Deutschland auf den niedrigsten Stand bisher gesunken sei. Wird sich die Lage mit den stagnierenden Zahlen in den nächsten Wochen etwas entspannen?

Die Hospitalisierungszahlen laufen der Entwicklung der Infektionszahlen hinterher, sodass wir das schlimmste Szenario noch nicht haben. Wir erwarten bis Weihnachten noch kritischere Zustände. Danach müsste sich der Abfall der Infektionszahlen auch in den Krankenhäusern auswirken.

Haben Sie die Sorge, dass das Gesundheitssystem um Weihnachten kollabieren könnte?

Das Problem ist, dass die Versorgung schon seit längerer Zeit eingeschränkt ist, was man zum Beispiel an der Absage von Operationen sieht. Das ist schon schlimm genug, weil dadurch andere Versorgungsbereiche beeinträchtigt werden und die Heilungschancen dann schlechter sind, weil Operationen verschoben werden müssen. Seit einigen Wochen haben wir diese Situation, damit sind wir schon bei einer Überlastung des Systems. Das wird sich zu Weihnachten noch verschärfen.

Vor kurzem sprachen wir bereits über die neue Omikron-Variante. Können Sie mittlerweile mehr zur Gefährlichkeit und der Ausbreitung dieser Mutation sagen?

Es zeichnet sich ab, dass sich Omikron auch in den europäischen Ländern ausbreitet, die bisher von der Delta-Variante dominiert werden. Deshalb ist davon auszugehen, dass sich Omikron möglicherweise durchsetzen und Delta verdrängen wird. Das können wir gerade in Großbritannien beobachten. Dort sind meine Sorgen also größer geworden. Momentan haben wir mit Delta das Hauptproblem, aber es ist durchaus möglich, dass Omikron Delta ablösen wird, was eine weitere Welle zur Folge haben könnte. Zudem ist beunruhigend, dass es durch Omikron Reinfektionen gibt. Ein weiteres Problem ist, dass es Hinweise darauf gibt, dass Omikron möglicherweise auch den Kinder- und Jugendbereich stärker befällt. Und im Jugendbereich haben wir nun mal kaum Impfungen.

Auch zur Impfwirkung ist bisher noch nichts klar. Es gibt die Daten von Sandra Ciesek, nach denen die Antikörperwirkung gegen die neue Variante geringer ist nach der Impfung. Das bedeutet aber nicht, dass die Impfung keinen Schutz bietet. Es gibt keinen Grund, an den Impfungen zu zweifeln, man sollte sich trotzdem impfen und boostern lassen. Durch Boostern sind die Antikörper nochmal aufgefrischt. Wie die anderen Immunreaktionen gegen Omikron ausfallen, zum Beispiel die T-Zellen-Reaktion, ist noch nicht ganz klar. Da gibt es aber noch keinen Grund zur Panik. Man kann davon ausgehen, dass es eine Impfwirkung gegen Omikron gibt, sie könnte im Vergleich zu Delta aber reduziert sein.

Christan Drosten hat sehr drastisch formuliert, dass es „nicht gut aussieht für zweimal Geimpfte“. Eine dritte Dosis sei laut Drosten erforderlich. Können Sie das bestätigen?

Drostens Aussage beruht auf den Ciesek-Daten, dass die Antikörper-Wirkung nach sechs Monaten nicht mehr vorhanden ist. Das heißt aber nicht, dass es dann keinen Impfschutz mehr gibt. Es gibt auch noch andere Immunreaktionen, die relevant sind, um einen Schutz gegen schwere Verläufe zu haben. Dazu gibt es aber noch keine Daten. Ich würde davon ausgehen, dass es eine gewisse Impfwirkung gegen Omikron gibt. Der Schutz vor Ansteckung ist wahrscheinlich deutlich reduziert, der Schutz vor schweren Verläufen könnte aber intakt sein.

Wie beurteilen Sie Drostens Formulierung? Ist sie nicht angsteinflößend?

Man sollte sie nicht so interpretieren, dass man als doppelt Geimpfter überhaupt keinen Schutz mehr hat. Drosten bezog sich auf Daten, nach denen die Antikörperwirkung weg ist. Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass es gar keinen Schutz mehr gibt.

Anthony Fauci, der wichtigste Corona-Berater von US-Präsident Joe Biden, wird mit dem Satz zitiert, dass „Omikron nahezu sicher nicht schlimmer ist als Delta“. Bezieht er sich damit auf die Sterblichkeit?

Das betrifft die klinischen Verläufe, die wohl nicht viel schwerer sind als bei Delta. Wobei die Datenlage da sehr dünn ist. Es gibt momentan aber keinen Hinweis darauf, dass Omikron deutlich schwerere Verläufe oder mehr Todesfälle hervorbringen würde. Was wirklich beunruhigend ist, wie schnell sich Omikron ausbreitet, gerade in den Ländern, die von Delta dominiert sind.

In welchen Ländern sieht man das besonders stark?

In Großbritannien. Dort haben wir eine Verdopplung der Zahlen alle zwei Tage, das ist sehr schnell.

Und diese Verdopplung ist auf Omikron zurückzuführen?

Omikron verdoppelt sich alle zwei Tage. Das macht mir Sorgen, auch wenn es noch niedrige Zahlen sind. Es steigt stark auf einem niedrigen Niveau. Ob es dauerhaft so weitergeht, lässt sich noch nicht extrapolieren. Man muss aber auch dazu sagen, dass es in Großbritannien überhaupt keine Einschränkungen mehr gab. Wie die Ausbreitung in Deutschland sein wird, das wird man dann noch sehen.

Die Hoffnung, die stets verbreitet wurde, war, dass die Pandemie im Frühjahr vorbei sein könnte. Durch Omikron wird sie nun in Frage gestellt, oder?

Der saisonale Charakter wird schon bleiben, ab Frühjahr wird es eine Entspannung geben. Es könnte sich aber herausstellen, dass die Impfwirkung nicht ausreichend ist gegen Omikron. Dann müssen die Impfstoffe adaptiert werden und im Herbst 2022 eine neue Impfkampagne gestartet werden.

Im November hat die Europäische Arzneimittel-Agentur die Zulassung für Biontech-Impfungen bei Kindern ab fünf Jahren empfohlen. Ist die Impfung von Kindern der richtige Schritt, um die Pandemie einzudämmen?

Das Problem ist, dass wir derzeit im Kinder- und Jugendbereich sehr hohe Fallzahlen haben. Klar ist, dass Kinder und Jugendliche selten schwer erkranken, aber was wir im Moment haben, ist, dass dort praktisch eine Durchseuchung stattfindet, was ich wiederum für ziemlich riskant halte. Es läuft daraus hinauf, dass sich nahezu alle Kinder und die ungeimpften Jugendlichen anstecken, und dann sind auch seltene schwerwiegende Fälle relevant. Das ist der eine Aspekt. Zum anderen wissen wir über Long Covid relativ wenig, inwiefern Langzeitfolgen auftreten, wie schwer die sind bei Kindern und Jugendlichen. Viele Spätfolgen von Virus-Erkrankungen kommen erst Jahre später auf. Auch von diesem Aspekt her halte ich es für riskant, eine natürliche Durchseuchung anzustreben. Wenn man das nicht möchte, muss man impfen.

Wenn die Ständige Impfkommission eine Empfehlung ausspricht, würden Sie dazu raten, dass auch Kinder geimpft werden?

Zunächst könnte man im Jugendbereich noch deutlich nachholen. Denn da ist die Impfquote sehr niedrig. Das würde ich als Erstes intensivieren, zum Beispiel durch Impfteams in Schulen. Und für den Kinderbereich muss man Abwägungen treffen. Es ist schwierig, bei hohen Fallzahlen Schulen offen zu lassen und nicht zu impfen. Wenn man sagt, Schulen sollen offen bleiben, dann muss man in dem Bereich auch Impfungen anbieten, um die Schulen sicherer zu machen. Sonst bedeutet es Durchseuchung. Das halte ich für zu riskant. Man muss gesellschaftlich entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen. Und wenn wir zu dem Schluss kommen, dass uns Präsenzunterricht wichtig ist, dann muss man auch etwas tun, um die Schulen sicher zu machen. Und dazu gehört die Impfung. Das ist meine Einschätzung.

Das Argument, dass die Kinder für die nichtgeimpften Erwachsenen herangezogen werden, teilen Sie nicht, weil es auch um den Gesundheitsschutz der Kinder geht? Und nicht, wie häufig postuliert, um das Erreichen einer bestimmten Impfquote.

Richtig. Ich halte die stillschweigende Durchseuchung im Kinderbereich für sehr riskant. Wir haben im Kinder- und Jugendbereich in Sachsen Inzidenzen von über 3000. Was das für Langzeitfolgen und schwere Fälle induziert, können wir nicht sagen. Wir brauchen dort eine andere Strategie. Und eine Eindämmung ist eben nur mit Impfung möglich. Es kommt hinzu, dass uns durch Omikron eine Durchseuchung gar nichts nützen könnte, wenn sich alle wiederanstecken können mit dieser neuen Variante. Die Zeichen gehen genau in diese Richtung, dass man sich mit Omikron reinfizieren kann. Nach meinem Dafürhalten muss man mit Impfungen gegensteuern.

Ohne Impfung besteht also die Gefahr einer Dauerinfektionsschleife?

Ja, das könnte sich entwickeln. Klar sind schwere Fälle bei Kindern selten. Aber bei Millionen Kindern in Deutschland sind auch seltene Ereignisse zu viel. Wir wollen doch nicht, dass Kinder im Krankenhaus behandelt werden, selbst wenn sie nicht versterben. Und nur auf Hygienekonzepte in Schulen zu setzen, ist nicht ausreichend. Das sehen wir vor allem bei hohen Inzidenzen. Dann muss man eben impfen, das ist die Strategie, die man hat, wenn man an Präsenzunterricht festhalten möchte. Das scheint ja gesellschaftlicher Konsens zu sein, dann sollte auch zu dem Konsens dazu gehören, dass man impft.

Wird es ohne Impfpflicht gehen?

Nicht, wenn es zu regelmäßigen Neuinfektionen von Genesenen kommt. Wenn es keine Neuinfektionen von Genesenen gäbe, dann bräuchten wir die Impfpflicht nicht. Bei den Ungeimpften bekommen wir durch die aktuelle Welle eine Durchseuchung. Aber wenn die sich wieder infizieren können, zum Beispiel durch Omikron, haben wir es nicht mehr unter Kontrolle. Dann brauchen wir eine Pflicht.

Zum Abschluss etwas Optimismus: Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, trotz Omikron, wir werden den Kampf gegen die Pandemie gewinnen. Entspricht das auch Ihrer Einschätzung?

Die Omikron-Angst sollten wir noch nicht zu sehr haben. Es war uns klar, dass immer wieder neue Varianten entstehen können. Ich gehe davon aus, dass es zu einem Szenario kommt, in dem wir durch regelmäßige Impfungen Corona im Griff behalten werden, wie die Grippe auch. Ausrotten wird nicht gehen, aber mit der jährlichen Auffrischungsimpfung können wir das Problem beherrschen. Das wird sich 2022 sicherlich entwickeln. Klar wird es dann weiterhin schwere Verläufe und Todesfälle geben. Das Ziel muss sein, die Gefährlichkeit von Corona auf das Grippeniveau zu senken. Und das sollte möglich sein mit den Impfungen.

Die Fragen stellte Jonas Klimm.

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