Corona-Proteste in München - „Wir wollen einen Weg aus der Krise, der die Gesellschaft nicht zerreißt“

Trotz Verbots sind in München rund 5000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Corona-Maßnahmen und eine gesetzliche Impfpflicht zu demonstrieren. Cicero-Redakteur Ben Krischke war vor Ort. Mit Melchior Ibing von der Initiative „München steht auf“ sprach er am Morgen danach über die von ihm organisierten Corona-Demos, eine postmoderne Linke und Wege aus der Pandemie.

Gegner der Corona-Politik sind in der Innenstadt von München am 29. Dezember 2021 angehalten und eingekesselt worden. / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Der Infektionsschutz hat höchste Priorität“, dröhnt es im Minutentakt blechern aus einem Polizeilautsprecher. Ein früher Abend an einem Mittwoch in München, 17 Uhr. Die Ansage der Polizei hallt zwischen den Mauern am Geschwister-Scholl-Platz, direkt vor der Ludwig-Maximilians-Universität, wider. Nah und fern leuchten Blaulichter.

Die Polizei ist an diesem 29. Dezember 2021 mit über 1000 Beamten im Einsatz, um illegale Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und eine gesetzliche Impfpflicht zu verhindern, die als sogenannte „Spaziergänge“ getarnt sind. Der Freistaat hat also ordentlich aufgefahren. Erinnerungen werden wach an die G20-Proteste in Hamburg, bei denen der Autor dieser Zeilen als Journalist vor Ort war. Vor allem, als plötzlich ein Helikopter am Himmel kreist und das auch die kommenden Stunden tun wird.

Polizei und Staatsanwaltschaft lesen mit

Die Polizei hat sich in der Münchner Innenstadt an neuralgischen Punkten positioniert, vor allem an den großen Plätzen, dem Königsplatz, am Stachus und auf dem Marienplatz. Weitere Einsatzgruppen fahren zwischen unterschiedlichen Schauplätzen hin und her. Denn im Laufe des Abends liefern sich unzählige kleine Grüppchen ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und widersetzen sich damit einer Allgemeinverfügung der Stadt München, die die „Spaziergänge“ und ähnliche Proteste in Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz untersagt hat. Es drohen Bußgelder bis zu 3000 Euro.

Trotzdem sind, so schätzt die Polizei später, rund 5000 Menschen auf den Beinen, die nicht nur aus München, sondern aus ganz Oberbayern und von noch weiter her angereist sind. Viele von ihnen organisieren sich über Telegram. Im Messengerdienst hat die Initiative „München steht auf“ eigene Kanäle. Einfacher macht das die Sache für die Protestler nicht unbedingt. Denn die Chats sind öffentlich einsehbar. Polizei und, davon ist auszugehen, Staatsanwaltschaft lesen mit. Das bekommen die Demonstranten auch zu spüren: Kaum ist ein Standort gepostet, zu dem irgendein User andere Teilnehmer rufen will, ist die Polizei schon zu selbigem unterwegs.

Plätze füllen und leeren sich wieder. Viele Menschen, viel Polizei, aber bis auf einzelne „Freiheit“-Rufe passiert zwei Stunden lang nicht viel. Die einen, die Demonstranten, trauen sich ob der geballten Staatsmacht erst nicht so recht, aufzumucken. Die anderen, die Beamten, können gleichzeitig nur einzeln eingreifen, weil eben lange Zeit keiner weiß, wer da einfach nur in der Gegend herumsteht und wer wirklich illegal protestiert. Denn die Münchner Innenstadt ist gut besucht. Und die Demonstranten geben sich zunächst nicht als solche zu erkennen.

Trillerpfeifen, Rufe und Pfiffe

Erst gegen 19.30 Uhr kristallisieren sich der Stachus und der Marienplatz, unteres und oberes Ende der Münchner Einkaufsmeile, als zentrale Schauplätze heraus. Hier kommt es dann auch zu ersten, zuschauerwirksamen Konfrontationen zwischen Polizei und „Spaziergängern“. Und immer wieder hallt dieser eine Satz durch die dunkle, regnerische Nacht: „Der Infektionsschutz hat höchste Priorität“. Die Demonstranten reagieren mit Trillerpfeifen, Rufen und Pfiffen. Für die Einsatzkräfte wird es ein langer Abend werden.

Am Donnerstagmorgen zieht die Polizei in einer Pressemitteilung Bilanz: 1300 Platzverweise seien ausgesprochen und 450 Identitäten festgestellt worden. In über 220 Fällen, heißt es weiter, musste „unmittelbarer Zwang durch Schieben und Drücken“ angewendet werden. Die Teilnahme an den per Allgemeinverfügung für illegal erklärten Versammlungen ist eine Ordnungswidrigkeit. Manchen Teilnehmern drohen nun Bußgelder von bis zu 3000 Euro.

„Ich bin klassisch linksliberal“

Cicero hat am Morgen nach den Mittwochsprotesten mit Melchior Ibing gesprochen. Ibing ist Versammlungsleiter der Initiative „München steht auf“ und damit einer der Köpfe hinter den Corona-Protesten in der bayerischen Landeshauptstadt. Vor Ort war er an erwähntem Mittwoch nicht. Die Stadt München hatte ihm und seiner Initiative als Ersatz für einen gewünschten Demonstrationszug durch die Innenstadt zwar eine stationäre Veranstaltung auf der Theresienwiese angeboten, doch das Angebot wurde abgelehnt. Wohlwissend, dass die Demonstranten nun auf eigene Faust werden protestieren gehen; „spazieren“, wie sie es nennen.

Herr Ibing, Sie waren am Mittwochabend zwar nicht in München dabei, als Versammlungsleiter von „München steht auf“ dürften Sie die Geschehnisse aber trotzdem verfolgt haben. Wie lautet denn Ihr Fazit?

Als hundertprozentigen Erfolg würde ich die Proteste am Mittwoch nicht verbuchen. Was aber erfolgreich war, ist, dass sich die Menschen ihr Versammlungsrecht trotz widrigster Bedingungen nicht haben nehmen lassen. In meinen Augen hat sich der Staat gestern lächerlich gemacht, weil die Polizei völlig überzogen reagiert und einen riesigen Aufwand für den Steuerzahler und die Münchner Bürger verursacht hat. Das wäre nicht nötig gewesen.

Sie spielen auf die über 1000 Beamten im Einsatz an, inklusive eines Polizeihubschraubers, der über München kreiste. Mich hat die Situation ein wenig an die G20-Proteste in Hamburg erinnert; mit den abgesperrten Straßen und alledem. Aus Ihrer Sicht war das also nicht verhältnismäßig?

Absolut nicht.

Die Stadt München hatte den von Ihnen bevorzugten Protest, im Rahmen eines Umzugs zu demonstrieren, zuvor verboten. Ihnen wurde stattdessen eine stationäre Veranstaltung auf der Theresienwiese angeboten. Zuerst mit 2000, dann mit maximal 5000 Teilnehmern. Warum haben Sie dieses Angebot ausgeschlagen?

Die Menschen sehen einen dort nicht, weil die Theresienwiese zentrale Peripherie ist. Der Zweck der Proteste ist aber, dass man mit friedlichen Massen auf der Straße Einfluss auf das Meinungsklima nimmt. Und das geeignete Mittel dafür ist ein Demonstrationszug.

Fühlen Sie sich als Corona-Demonstrant ungerecht behandelt? Etwa im Vergleich zu anderen Demonstrationen, die in München zuletzt stattgefunden haben?

Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen haben grundsätzlich das Problem, dass die Demonstranten dazu genötigt werden, Auflagen zu akzeptieren, die Dinge beinhalten, gegen die sie eigentlich protestieren. Was das Tragen von Masken anbelangt, ist die wissenschaftliche Faktenlage ganz klar die, dass die Ansteckungsgefahr im Freien gegen Null geht. Und die Demonstranten wissen das natürlich. Durch solche Auflagen fühlen sie sich daher schikaniert.

Eines Ihrer Schreiben an das Kreisverwaltungsreferat (KVR), das Sie auch veröffentlich haben, wurde von der Bild-Zeitung als Drohung gegen die Stadt München gewertet. Sie schrieben, dass die Menschen kommen werden, auch wenn die Stadt den Demonstrationszug verbietet.

Was heißt „Drohung“? Wenn wir die Demonstration unter den Bedingungen, die das KVR gefordert hat, veranstaltet hätten, wären FFP2-Masken immer noch verpflichtend gewesen. Hinzu kommt, dass das KVR die Veranstaltung auf der Theresienwiese in Planquadrate zu je 500 Teilnehmern aufgeteilt hätte. Wenn wir solche Bedingungen annehmen, machen wir uns bei den Demonstranten unglaubwürdig. Ich finde, dass solche Auflagen demokratie- und wissenschaftsfeindlich sind. Denn Massen auf den Straßen sind ein überaus demokratisches Mittel, das uns nach dem Grundgesetz auch zusteht. Dass immer wieder der Infektionsschutz bemüht wird und die Polizisten missbraucht werden, um die Versammlungsfreiheit einzuschränken, ist ein undemokratisches Verhalten.

Aber Demokratie läuft nicht nur in eine Richtung. Demokratie bedeutet auch, dass man sich auf gemeinsame Spielregeln, wie das Maskentragen, einigt und sich alle daran halten.

Wenn die Auflagen wären, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu nutzen, statt eine FFP2-Maske, und Abstand zu halten, dann würden sich die Demonstranten auch daran halten. Und da muss man auch realistisch sein: Wenn ich mir den diesjährigen Christopher-Street-Day in Berlin ansehe, dann hielten sich viele Menschen ebenfalls nicht an die Auflagen der Behörden. Trotzdem wurde die Versammlung nicht behindert.

Hatten Sie denn Sorge, dass die Lage am Mittwoch deutlich mehr eskalieren könnte?

Ich war zuversichtlich, dass nicht viel passieren wird. Ich halte grundsätzlich nichts davon, Polizeiketten zu durchbrechen, das sage ich auch immer wieder. Man muss aber auch sagen, dass es am 22. Dezember, wo es in München zu einem massiven Durchbruch durch eine Polizeikette gekommen ist, nie die Absicht gab, einen Beamten zu verletzen. Die Absicht war, laufen zu können und die Versammlungsfreiheit vollgültig wahrzunehmen. Und nach allem, was ich von Mittwoch weiß, habe ich großen Respekt vor den Teilnehmern. Sie haben sich von dieser Drohkulisse nicht provozieren lassen.

Dafür gab es ein sehr anstrengendes Katz-und-Maus-Spiel. Viele kleine Grüppchen waren unterwegs. Die Polizei besetzte neuralgische Punkte und Einsatzgruppen fuhren ständig hin und her. Ein solches Chaos kann doch auch nicht der Sinn von Protest sein, oder?

Aus meiner Sicht untermauert das unsere Forderungen nach einem regulären Protest, der zu Bedingungen stattfindet, die die Demonstranten auch akzeptieren können. Je öfter man versucht, diese Demonstrationen rigoros einzuschränken, desto schwieriger wird es in Zukunft, allein schon eine Maskenpflicht durchzusetzen. Denn die Demonstranten machen die Erfahrung: Es geht auch anders. Und ja, es kann nicht der Sinn sein, dass Demonstrationen so ablaufen. Aber ich sehe das aktuell als eine Auseinandersetzung um die Versammlungsfreiheit. Es gab auch schon Aussagen von der sächsischen Polizeigewerkschaft, die klargestellt hat, dass sie nicht dafür da ist, ständig das Versammlungsrecht einzuschränken. Und man hört auch immer mehr Aussagen derart, dass die Polizei überfordert ist. Das wäre nicht so, wenn die Versammlungen regulär stattfinden könnten.

Ich frage auch deshalb, weil ich nicht das Gefühl hatte, es vor Ort mit Demo-Veteranen zu tun zu haben, die genau wissen, wie solche Proteste ablaufen, welche Grenzen sie überschreiten können und welche nicht. Wie können Sie persönlich denn auf die Demonstranten einwirken, dass es zum Beispiel nicht zu einer Eskalation kommt, weil, sagen wir, es manche einfach nicht besser wissen?

Ich wirke größtenteils über unseren Telegram-Kanal auf die Menschen ein. In meinen Augen hat das auch einigermaßen funktioniert. Im Chat finden sich immer wieder Stimmen, die ganz anders klingen als das, was am Mittwoch passiert ist; bei denen man den Eindruck hat, die wollen unbedingt Polizeiketten durchbrechen und ihre harte Seite zeigen. Aber unsere Einwirkung und die Einwirkungen vieler friedlicher Demonstranten helfen. Sie haben aber Recht: Das sind keine Demo-Veteranen. Wir sind nicht die Antifa oder demoerfahrene, junge Linke wie bei den G20-Protesten. Das Publikum ist bei uns ein ganz anderes. Das geht querbeet durch die gesamte Gesellschaft, und viele dieser Leute sind weit über 40 Jahre alt. Die sind nicht darauf aus, „taktisch“ zu demonstrieren oder mit Gewalt. Klar, einige waren auch schon bei anderen Demonstrationen, in Berlin zum Beispiel. Aber es kommen immer mehr Menschen dazu, die in ihrem Leben vielleicht auf einer oder zwei Demos waren.

Lassen Sie uns dabei mal bleiben. Wie würden Sie die Leute also beschreiben, die im Rahmen der Initiative „München steht auf“ auf die Straße gehen? Wer demonstriert da?

Das ist für mich die Schönheit dieser Protestbewegung: Die Menge ist extrem bunt, extrem heterogen. Das ist ein Protest, der alle Schichten, alle Klassen und auch einen Großteil der alten politischen Lager übergreift. Gemeinsam stehen sie gegen etwas ein, das für sie ein Unrecht ist, und für eine freiere und offenere Gesellschaft.

Im Zuge der Corona-Proteste deutschlandweit kommt es allerdings immer wieder zu Relativierungen des Holocaust. Es marschieren auch mal Neonazis mit, die eindeutig als solche zu erkennen sind. Eine Kritik an Initiativen wie der Ihren lautet, Sie distanzieren sich nicht ausreichend vom rechten Rand oder von Extremisten. Was entgegnen Sie?  

Ich habe früher schon Demonstrationen gemacht und für mich war immer klar: kein Hass, kein Extremismus, keine Gewalt. Ich selbst bin Enkel einer deutschen Jüdin und halte schon deshalb nichts von Holocaust-Vergleichen oder ähnlichem. Wir wurden von opponierenden Versammlungsteilnehmern mal darauf aufmerksam gemacht, dass als rechtsextrem geltende Leute bei uns mitmarschieren. Wir sind dann auf die Polizei zugegangen, um uns zu erkundigen, wie wir damit umgehen können; ob wir sie von der Demonstration aussperren können. Die Polizei sagte uns, sie könne nach dem bayerischen Versammlungsrecht erst aktiv werden, wenn Straftaten vorlägen. Die Versammlungsleitung kann niemanden von der Versammlung entfernen.

Und was können Sie stattdessen tun?

Was wir tun können, ist, dass wir den Leuten kein Rederecht geben. Und wir äußern immer ganz klar bei unseren Mittwochsumzügen, dass wir uns bei unserem Protest gegen jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit richten. Sei es aufgrund der Herkunft, sei es wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung – oder wegen des Impfstatus. Damit grenzen wir uns klar ab von Rassismus und Gewalt. Dadurch, dass diese Menschen bei uns mitmarschieren, werden sie bestimmt nicht weiter radikalisiert, sondern eher im Gegenteil. Wir bieten ihnen keine Bühne. Und sie haben keine Chance, uns zu unterwandern. Als die Zahl der Teilnehmer auf einmal größer wurde, tauchten eben auch Sachen auf, die wir davor nie hatten. Darunter bestimmte Schilder oder diese „Ungeimpft-Sterne“. Wir haben dann zum 15. Dezember schon massiv darauf eingewirkt, dass diese Sachen sofort wieder verschwinden. Da muss man auch mal die Zahlenverhältnisse sehen. Die Zahl derjenigen, die rechtsextrem sind und ebenfalls demonstrieren, ist verschwindend gering. Der einzige Weg, der da noch bleiben würde, ist Mobbing. Und das finde ich fürchterlich. Alle Menschen haben Rechte.

Wo sehen Sie sich denn politisch?

Klassisch linksliberal.

Was heißt das für Sie?

Das heißt für mich, dass ich in erster Linie liberal bin. Ich denke, dass Menschen in Freiheit am besten funktionieren; dass Freiheit das Beste aus den Menschen herausholt. Und links in dem Sinne, dass die Übergriffe seitens des, ich sage mal, Großkapitals auf die Freiheit der Menschen von staatlicher Seite verhindert werden muss. Der Staat hat für eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, sollte den Menschen ansonsten aber ihre Freiheit lassen.

Ein Gedanke treibt mich im Zuge dieser Corona-Debatte immer wieder um: Menschen, die sich als links oder linksliberal definieren, verhalten sich plötzlich sehr staatskonform. Sogar ein Jürgen Habermas, der eigentlich aus der systemkritischen Sphäre kommt, zählt plötzlich zu den größten Verteidigern der „neuen Normalität“. Können Sie mir erkären, warum das so ist?

Ich denke, das sind diese postmodernen akademischen Narrative, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Man lehnt erstmal alle großen Narrative ab, weil man sie als gefährlich betrachtet, und sucht stattdessen überall nach eventuellen Ungleichbehandlungen und nach Diskriminierungen, und hat sich dabei … (Ibing beendet den Satz abrupt) … Das ist das große Rätsel für mich in dieser ganzen politischen Situation. Das ist das erstaunlichste, was überhaupt passiert und wirklich wahnsinnig schwierig zu erklären.

Sahra Wagenkecht spricht in dem Zusammenhang von „Lifestyle-Linken“.

Was in Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ steht, kann ich so gut wie alles unterschreiben. Ich sehe hier eine unglaubliche Selbstgerechtigkeit. Ich rede in dem Zusammenhang auch gerne von der „Arroganz der Spätgeborenen“, die einfach für sich ausschließen, dass sie in die Gefahr kommen könnten, in eine totalitäre Richtung zu gehen, weil sie für sich die totalitäre Richtung kategorisch ablehnen. Diese Leute gehen so weit, dass sie selbst nicht mehr merken, wie dogmatisch sie eigentlich werden.

Wie dogmatisch sind Sie im Zuge der Corona-Proteste denn geworden?

Aus meiner Sicht stehe ich immer noch da, wo ich vorher stand. Aber ja, es gibt diese Tendenzen innerhalb der Protestbewegung, dass Leute dogmatisch werden; dass sie ausgrenzend werden zum Beispiel gegenüber Geimpften. Ich sehe das so: Jeder Mensch will sich selbst im Spiegel ansehen. Kein Mensch hält sich selbst für einen Unmenschen. Ich finde, man muss sich deshalb allgemein die Mühe machen, zu versuchen, die Menschen zu verstehen, auch den politischen Gegner. Und das ist eben das, was bei den postmodernen Linken immer weniger geschieht.

Was meinen Sie?

Man verurteilt die anderen, weil sie eine andere Meinung haben, und deklariert sie als Gefahr. Man macht sich nicht die Mühe, nachzuvollziehen, warum andere Leute wie denken. Ein Beispiel: Es ist ja viel die Rede von diesem „Great Reset“, wo sich viele Maßnahmenkritiker auch im Kampf dagegen sehen. Ich denke nicht, dass ein Klaus Schwab (Gründer und Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums und Autor des Buches „Covid19: The Great Reset“ – Anm. d. Red.) etwas Böses will. Die Menschen wollen die Welt retten und aus ihrer Sicht etwas Gutes tun. Man muss sich schon die Mühe machen, sich in sie hineinzuversetzen. Das tun aber viele nicht. Wenn sie das täten, könnten wir besser miteinander reden.

Meines Wissens gibt dieser „Great Reset“, von dem Klaus Schwab schreibt, das auch gar nicht her, was ihm rund um das Buch alles unterstellt wird. Da bewegen wir uns bisweilen ja in dieser Sphäre von der Neuen Weltordnung. Eine Erzählung, die sich seit dem Attentat auf das World Trade Center einer gewissen Beliebtheit in Verschwörungskreisen erfreut. Vielleicht kamen da bei Klaus Schwab und seinem Buch auch einfach ein paar unglückliche Zufälle zusammen?

Für einen unglücklichen Zufall halte ich das nicht. Schwab sagt ganz klar, dass wir diese Krise nutzen müssen, um die Gesellschaft umzubauen und zukunftsfähig zu machen im Sinne einer Agenda 2030. Er sagt, wir müssen diese Gelegenheit für einen „Great Reset“ nutzen. Alles, was ich über diesen „Great Reset“ gelesen habe, erinnert mich sehr an „Homo Deus“ von Yuval Harari. Der Autor wirft darin einen Blick in die Zukunft. Dort sieht er, dass immer mehr Menschen … Jetzt sind wir ganz schön tief im Philosophischen drin.

Bei Cicero können wir das machen.

In Ordnung. Also, Harari sieht hier ganz klar die Gefahr, dass wir eine wachsende Klasse der, in Anführungszeichen, „Nutzlosen“ haben. Dass also immer weniger Menschen eine sinnvolle Beschäftigung finden und die Maschinen immer mehr mögliche Aufgaben übernehmen. Man kann diese Menschen über ein allgemeines Grundeinkommen zwar materiell absichern, das halte ich für möglich. Ihnen aber eine Aufgabe zu geben, die sinnvoll ist, ist sehr viel schwieriger. Und ich denke, dass Klaus Schwab dieser Herausforderung ausweicht; dass dieses Problem bei diesem ganzen „Great Reset“ gar nicht angegangen wird, sondern eine Gesellschaft aufgebaut wird, die damit klar kommt, dass ein großer Teil der Menschen keine sinnvolle Aufgabe mehr haben wird. 

Demo-Organisator Melchior Ibing / privat

Lassen Sie uns das einmal auf die Corona-Debatte übertragen: Das heißt, den Leuten fehlt zunehmend eine sinnvolle Aufgabe, weshalb sie sich in schwarz-weiße Denkmuster flüchten oder in übergeordnete Missionen wie die Rettung der Welt vor dem Virus?

Wir brauchen ja immer die großen Narrative. Heute zum Beispiel die Klimarettung oder seit zwei Jahren auch die Bekämpfung des Corona-Virus. Gerade die postmodernen Linken finden darin ein großes Narrativ, das sie nicht als solches beschreiben müssen, dem sie sich aber unterordnen können. Damit sind wir, denke ich, der Antwort vielleicht ein Stück näher, warum die postmoderne Linke so staatstreu agiert. Aber ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus.

Bitte.

Wir haben immer mehr virtuelle Welten und immer mehr Selbstverwirklichung, die im virtuellen Raum stattfindet, nicht mehr in der Realität. Eine Industrie 4.0 und ein allgemeines Grundeinkommen, ohne dass wir unsere Gesellschaft in anderer Hinsicht massiv umbauen, führt für mich dahin, dass man die „Nutzlosen“ immer mehr mit virtuellen Welten beschäftigt und so davon abhält, an der Gestaltung des Lebens teilzunehmen.

Was wäre der bessere Weg?

Ich fände es sinnvoller, wenn man die Menschen einbindet in die Gestaltung der Gesellschaft. Dafür bräuchte es aber auch einen massiven Umbau des politischen Systems. Das ist jetzt aber nichts, was unmittelbar mit den Corona-Protesten zusammenhängt. Mir geht es bei diesen erstmal um die Freiheit, darum, die Übergriffigkeit des Staates zurückzudrängen. Und mir geht es eben nicht um einen „Konflikt mit dem Staat“, von dem der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter gesprochen hat. Aber die tieferliegenden Probleme sind eben da.

Vielleicht noch ein weiterer Punkt: Was mich immer wieder überrascht, ist, dass wir ja nie in der Geschichte der Menschheit so viele Möglichkeiten hatten, uns so umfangreich zu informieren und so viele andere Perspektiven kennenzulernen. Von all diesem Wissen sind wir nur ein paar Mausklicks entfernt. Doch anstatt uns das zunutze zu machen und die Welt als das zu begreifen, was sie ist, nämlich ein sehr komplexer Ort mit sehr komplexen Menschen, die dort herumlaufen, sehe ich eine Tendenz, die Welt krampfhaft zu vereinfachen. Ein Beispiel: Sind Sie ein „Corona-Leugner“?

Nein.

Aber trotzdem fällt dieser Begriff in Zusammenhang mit den Corona-Protesten immer wieder. Und ich frage mich, wie wir all diese Schubladen, die bereits aufgemacht und in die wir Menschen bereits hineingesteckt haben, wie man die irgendwann wieder auflösen kann. Ich habe nämlich eher den Eindruck, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Das bereitet mir durchaus Sorgen. Ihnen auch?

Ja, das macht mir auch Sorgen. Eine Teilantwort darauf bieten für mich die Gedanken demokratischer Reformer. Haben Sie sich mal mit David van Reybrouck beschäftigt?

Nicht wirklich.

„Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ ist ein sehr interessantes Buch. Darin nimmt er etwa Bezug auf Aristoteles, der davon sprach, dass Wahlen zu einer Aristokratie gehören. Und zu einer Demokratie gehört das Los. Reformer wie Reybrouck haben diese Idee, angelehnt an Athen, aufgenommen und für die Moderne weiterentwickelt. Und das halte ich für eine mögliche Teilantwort auf unser System.

Inwiefern?

Dadurch würden Menschen aus unterschiedlichen Filterblasen zusammenarbeiten. Es gab zum Beispiel einen Politiker im Osten Belgiens, der sich Sorgen machte, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Der hat dann einfach gesagt: Okay, wir müssen die Bürger stärker beteiligen und dafür losen wir Menschen für einen Bürgerdialog aus. Ein Los hat einen Über-70-Jährigen getroffen, der extrem wählte, wahrscheinlich rechtsextrem. Ein Freund riet ihm dennoch, da hinzugehen. Also ist er hingegangen, hat das ausprobiert und ganz schnell festgestellt, dass er mitdenken, mitreden und mit Menschen zusammenarbeiten kann, die ganz andere politische Hintergründe haben. Durch die Zusammenarbeit mit diesen Menschen hat er einen neuen Blick auf die Welt entwickelt. Wenn man solche Arten der politischen Entscheidungsfindung auf verschiedensten Ebenen installiert, dann, denke ich, kann man ganz vielen Menschen Sinn geben und sie produktiv in ein gemeinschaftliches Zusammenwirken einbinden. Am Ende werden diese Menschen vielleicht feststellen, dass all diese Gräben, von denen wir immer reden, gar nicht wirklich existieren.

Das heißt, Sie wünschen sich mehr Möglichkeiten für eine politische Teilhabe in einer Zeit, in der die Menschen zunehmend orientierungslos sind? Und sich vielleicht auch genau deshalb in ihre Filterblasen und in ihrem Schwarz-Weiß-Denken verrennen?

Das klingt jetzt so plakativ, aber ich finde: Wir sollten die Ideen nicht den wirtschaftlichen Eliten überlassen. Wir sollten die Menschen einbinden. Gerade bei den großen Herausforderungen, die uns bevorstehen, zum Beispiel Umweltprobleme. Menschen sollten sich nicht über ihr Köpfe hinweg behandelt fühlen. Das kann nicht im Sinne einer Demokratie sein.

Hier schließt sich auch wieder der Kreis zu unserem eigentlichen Thema: Versucht der Staat, eine Pandemie vor allem alleine zu lösen, oder versucht er, sie in Kooperation mit der eigenen Bevölkerung zu lösen? Das ist eine Frage, die, denke ich, eigentlich die Grundsatzfrage ist, die wir derzeit diskutieren. Was fordern Sie denn konkret vom Staat?

Ich erlebe den Staat in der Corona-Pandemie als enorm übergriffig. Ich möchte aber eigenverantwortlich handeln dürfen. Plakativ gesagt: Der Staat kann hergehen und die Gesellschaft wegsperren, dann sind alle geschützt. Was dann aber geschehen kann, sehen wir in Australien, wo im Sinne der Pandemie-Bekämpfung autoritäre Verhältnisse herrschen. Da kann man nicht mehr von einer Demokratie sprechen. Der epidemiologisch einzig sinnvolle Ansatz ist, denke ich, die evolutionären Schwächen des Virus auszunutzen und strategisch damit umzugehen. Außerdem sollte man den Menschen überlassen, ob sie sich schützen wollen oder nicht. Man muss halt die Möglichkeiten dafür schaffen, indem man zum Beispiel Hotels anmietet, um diese als Quarantänezentren zu nutzen. Das Geld dafür ist ja offensichtlich da, wenn Olaf Scholz mal eben die Bazooka auspacken kann. Und parallel müsste man das Gesundheitssystem wieder auf gesunde Füße stellen, indem man zum Beispiel die Pflegekräfte besser bezahlt.

Abschließend: Was sind denn Ihre Ziele mit „München steht auf“ für das kommende Jahr?

Wir senden ja seit einiger Zeit Botschaften, dass wir den Dialog suchen und einen runden Tisch wollen. Wir wollen darauf hinwirken – das ist unser oberstes Ziel –, dass wir einen Weg aus der Krise finden, der funktioniert und die Gesellschaft nicht zerreißt. Dafür haben wir uns bemüht, rhetorisch abzurüsten, was wir auch von den Politikern fordern. Und ich finde, die Protestbewegungen in ganz Deutschland müssen auch einen Schritt auf die Politik zugehen und denen ermöglichen, aus nicht-funktionierenden Strategien, in die sie sich verrannt haben, wieder heraus zu kommen.

Das heißt?

Es müssen neue Konzepte auf den Tisch. Denn Lockdowns haben das Problem offenbar nicht gelöst, auch Zero-Covid, wie in Australien, nicht. Auch die Impfkampagne löst das Problem offensichtlich nicht, wenn Länder trotz einer Impfquote von 90 Prozent wieder in Lockdowns gehen. Gibraltar zum Beispiel hat eine Impfquote von 100 Prozent, aber Wahnsinns-Inzidenzen. Hinzu kommt, dass dieses Virus sehr schnell mutiert. Da muss man also die Schubladen mal wieder aufmachen und reingucken, ob das so alles noch stimmt, wie man es da hineingesteckt hat. Liebe Leute, lasst uns doch bitte schauen, wie wir es anders machen können.

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