Corona-Krise - Solidarität ist alternativlos

Gerade auch prekär lebende Minijobber und Solo-Selbstständige leiden unter der Corona-Krise. Jetzt auf Reichensteuern und Vermögensabgaben zu pochen, ist dennoch unrealistisch. Es braucht eine ganz neue Qualität gesamtgesellschaftlicher Solidarität.

Die Versuchung ist enorm, die Beschränkungen so schnell wie möglich zu lockern / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Einer jener Begriffe, die in Zeiten der Corona-Pandemie eine ebenfalls pandemische Verbreitung erleben, ist der „Rettungsschirm“. Abgesehen von jenen abhängig Beschäftigten, die sich in krisenunabhängigen Arbeitsverhältnissen befinden, fordert derzeit so ziemlich jeder eine staatliche Absicherung gegen mehr oder weniger existenzbedrohende Einbußen in Folge der Krise. Dabei werden längst vergessen geglaubte Ladenhüter wie die Mehrwertsteuersenkung für die Hotellerie ebenso aufs Tapet gebracht wie erhöhtes Kurzarbeitergeld oder die Absicherung freier Kulturschaffender und Gastronomen auf der Basis zuvor erzielter Umsätze.

Einigen eloquenten und gut vernetzten Gruppen, wie z.B. Zahnärzten, ist es bereits gelungen, entsprechende Zusagen zu erhalten, andere pochen bislang vergeblich auf ihre „Systemrelevanz“. Armen Menschen, die nunmehr kaum noch noch ihre Miete zahlen können, hat man hingegen lediglich eine Stundung und einen erleichterten Zugang zu Hartz IV-Leistungen eingeräumt, wohl wissend, dass das Problem damit nur aufgeschoben ist. 

Die neue Zauberformel

„Systemrelevant“ ist die neue Zauberformel. Wer diesen Status zuerkannt bekommt, kann sich über teilweise erhebliche Privilegien freuen, etwa bei der Kinderbetreuung und bei außertariflichern Gehaltszulagen. Das mag für die Betroffenen eine notwendige, große Erleichterung sein, verschärft aber systemische Schieflagen. Denn gerade die Kinder, die eine systematische Förderung und Integration in frühkindlichen und schulbegleitenden Betreuungseinrichtungen besonders dringend benötigen, fallen dabei durch den Rost.

Genau wie die vielen alleinerziehenden Mütter, die neben ihrem Full-Time-Home-Office-Job auch noch die Rundumbetreuung ihrer Kinder gewährleisten müssen, ohne dabei auf die Unterstützung durch Verwandte und Freunde zurückgreifen zu können. Auch im schulischen Bereich werden diese systemischen Ungleichheiten durch den Lock Down verschärft. Digitales Home Schooling verläuft in bildungsaffinen Haushalten mit entsprechender technischer Ausstattung eben etwas anders, als in in eher bildungsfernen Familien mit äußerst knappen materiellen Ressourcen. 

Den Geldhahn kurz aufgedreht

Keinerlei „Systemrelevanz“ haben auch die Kinder der großer Arbeitsmarktreformen, die unter dem Namen Agenda 2010 in die bundesdeutsche Geschichte eingingen. Denn neben dem neuen Alimentationssystem „Hartz IV“ wurde in dieser Phase auch ein riesiger „grauer Arbeitsmarkt“ geschaffen, vor allem durch prekäre Solo-Selbstständigkeit und Millionen Minijobs. Besonders letztere werden von den „Rettungsschirmen“ nicht erfasst und nur Berlin hat für die dort zahlenmäßig besonders große und für das politische Machtgefüge wichtige Gruppe der freischaffenden Mini-Entrepreneure den ganz großen Geldhahn mal kurz aufgedreht.      

Dass nicht jeder, der jetzt spezielle staatliche Hilfe für sein Segment einfordert, bedient werden kann, liegt auf der Hand. Schon jetzt rechnet Finanzminister Olaf Scholz (SPD) mit Krisenkosten im dreistelligen Milliardenbereich und dramatisch sinkenden Steuereinnahmen. Die Erfüllung aller jetzt erhobenen Klientelforderungen hätte ökonomische Größenordnungen, die außerhalb jeder Vorstellungskraft liegen. Die simple linke Forderung nach „Reichensteuern“und Vermögensabgaben greift da mit Sicherheit viel zu kurz und hat derzeit ohnehin keine Chancen auf Realisierung. 

Föderaler Flickenteppich

Natürlich ist in so einer vertrackten Situation der Druck und die Versuchung enorm, die Ausgangsgang- und Betätigungsbeschränkungen so schnell und so weitgehend wie möglich zu lockern. Doch auch bei den ersten, vorsichtigen Schritten in diese Richtung entstehen merkwürdige Verzerrungen. Ohnehin ist die am vergangenen Mittwoch stolz verkündete „gemeinsame Linie von Bundes- und Länderregierungen“ längst wieder zu einen föderalen Flickenteppich geworden.

Und warum Autohäuser, Fahrradhändler und Buchhandlungen unabhängig von ihrer Größe wieder öffnen dürfen, andere bislang geschlossene Geschäfte aber nur bis zu einer Ladenfläche von 800 Quadratmetern, ist kaum nachvollziehbar. Und Wochenmärkte, auf denen sich bei schönem Wetter Tausende von Menschen tummeln, dürften wohl kaum einen besseren Infektionsschutz bieten als die nach wie vor geschlossenen Außenanlagen von Gaststätten, bei denen man Abstandsregeln wesentlich besser einhalten könnte. Jenseits aller ökonomischen Überlegungen sollte man auch die enormen psychischen Belastungen, die die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen vor allem bei zunehmender Dauer bedeuten, als ausgesprochen bedrohlich einschätzen.

Absage des Oktoberfests ein starkes Signal

Doch was tun? Wer jetzt „Königswege“ aus der Tasche zaubert, ist – man muss es so deutlich sagen – ein gefährlicher Scharlatan. Das neue Virus und seine Ausbreitung ist Realität, die Forschung steht noch ziemlich am Anfang, bisherige Erkenntnisse sind teilweise widersprüchlich, ein Impfstoff ist nach wie vor in weiter Ferne. Um überhaupt verlässliche Datengrundlagen zu haben, müsste man testen, testen und nochmal testen, sowohl auf eine akute Infektion als auch auf Antikörper, um die Zahl derjenigen einigermaßen realistisch zu erfassen, die die Erkrankung bereits weitgehend unbemerkt überstanden haben.

Nichts wäre in der derzeitigen, fragilen Situation fataler, als eine unkontrollierbare zweite Welle aufgrund verfrühter Lockerungen. Wenn jetzt über Gottesdienste, Urlaubsreisen oder Bundesligaspiele diskutiert wird, zeigt das nur, dass einige den Schuss noch nicht gehört haben. Die Absage des Münchner Oktoberfestes ist dagegen ein starkes und ausgesprochen positives Signal.

Die Corona-Pandemie bedeutet eine riesige gesellschaftliche Herausforderung, die große, auch individuelle Belastungen mit sich bringt und auf unabsehbare Zeit weiter mit sich bringen wird. Um deren Ausgestaltung darf und muss gerungen werden. Es braucht eine ganz neue Qualität gesamtgesellschaftlicher Solidarität und den unbedingten Willen, diese globale Krise, die ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat, zu meistern. Und das ist nun wirklich alternativlos.          

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