Corona-Aufarbeitung - Staatsdenker auf Linie

Die Freiheitseinschränkungen in der Coronakrise und die Rufe nach einer Impfpflicht waren autoritär und ethisch unbegründet. Leider haben dabei auch Moralphilosophen und der Ethikrat Schützenhilfe geleistet.

Fand die Corona-Maßnahmen spitze: Philosoph Jürgen Habermas / dpa
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Autoreninfo

Uwe Steinhoff ist Professor am Department of Politics and Public Administration der Universität Hongkong sowie Senior Research Associate im Oxford University Programme on the Changing Character of War. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Freedom, Culture, and the Right to Exclude – On the Permissibility and Necessity of Immigration Restrictions“.

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Im Rückblick auf die empirischen Fakten zeigt sich heute, dass vieles, was Bürgern von Politikern und den von ihnen und den Leitmedien bevorzugten Experten als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ bezüglich des Coronavirus, seiner Gefährlichkeit, seiner maßgeblichen Überträger, der Wirksamkeit von Masken und Lockdowns oder der „sterile Immunität“ versprechenden Wirkung „nebenwirkungsfreier“ Impfungen gesagt wurde, alles andere als „wissenschaftlich gesichert“ und oft schlicht gelogen war. Und wir wissen, dass dissidente Wissenschaftler ausgegrenzt und diffamiert wurden. Erst recht aber Bürger, die auf ihrer Freiheit beharrten und für diese protestierten. Ruhe war wieder einmal die erste Bürgerpflicht.

Wenn immer aber in Deutschland der Autoritarismus fröhliche Urständ feiert, sind die ihn pflichtschuldigst legitimierenden staatstragenden Philosophen nicht weit. Auch darauf lohnt ein Rückblick.

Habermas’ imaginierter Vorrang des Rechts auf Leben

Jürgen Habermas etwa machte aus seiner Verachtung gegenüber den demonstrierenden Bürgern keinen Hehl: „Wegen ihres rechtsradikalen Kerns sind die scheinliberal begründeten Proteste der Corona-Leugner gegen die vermeintlich konspirativen Maßnahmen einer angeblich autoritären Regierung nicht nur ein Symptom für verdrängte Ängste, sondern Anzeichen für das wachsende Potential eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte, der uns noch länger beschäftigen wird.“ Ein Schelm, wer in solch einer Aussage einen angesichts renitenter Bürger verängstigen linksradikalen Autoritarismus entdeckt, wie er uns bereits seit Marx und Lenin und immer noch bei Paus und Faeser beschäftigt.

Habermas polemischer Überschuss verrät den Mangel an Argumenten für die von ihm verteidigten massiven Freiheitseinschränkungen während der Coronakrise. So erklärt er, dass es in „Ausnahmesituationen“ wie der Pandemie „einen Prima-facie-Vorrang des Rechts auf Leben und Gesundheit vor allen übrigen Grundrechten“ gebe, welcher die Abwägung des Lebensschutzes gegen diese, also gegen Freiheitsrechte, nicht nötig mache. Allerdings fehlt es in seinem Text an jedweder Begründung sowohl dafür, dass es diesen (von Verfassungsrechtlern, wie er selbst weiß, bestrittenen) Vorrang überhaupt gibt, wie auch dafür, dass er sich auf Ausnahmesituationen beschränkt. Es bleibt bei bloßen Behauptungen.

Wenn der Staat nicht für die Kugeln von Terroristen verantwortlich ist, dann auch nicht für die Viren von Partygängern

Deren Irrigkeit lässt sich umgekehrt sehr wohl begründen. Tatsächlich sieht Habermas selbst, dass seine Position Konsequenzen haben könnte, die er gern vermeiden würde. So will er offenbar nicht bestreiten, dass der Staat in der Ausnahmesituation des deutschen Herbstes das moralische und verfassungsmäßige Recht hatte, den Forderungen der Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer nicht nachzukommen: „Zwar mag die Zurückweisung der erpresserischen Forderungen nach einem Austausch der RAF-Gefangenen für die Terroristen ein Grund dafür gewesen sein, so zu handeln, wie sie gehandelt haben; aber die Regierung hat die Terroristen durch ihre Ablehnung keineswegs zu dieser Konsequenz genötigt. In diesem Fall lag kein ursächlicher Zusammenhang vor …“

Aber natürlich gab es einen Kausalzusammenhang, es war lediglich kein unmittelbarer. Wenn jedoch das Fehlen eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen staatlichem Handeln oder Unterlassen und einem Schaden den Staat von seiner Verantwortung für letzteren entbindet, dann verpufft Habermas’ Versuch, aus einem ohnehin imaginierten Vorrang des Lebensschutzes eine staatliche Pflicht zur Freiheitseinschränkung abzuleiten. Schließlich zwingt die Weigerung des Staates, die Bürger einzusperren und vom Feiern abzuhalten, diese nicht zum Ausgehen und zum Feiern. Der Staat wäre also – welch radikal rechter Gedanke! – für die Folgen des Gebrauchs der Freiheitsrechte nicht verantwortlich.

Der Verteidigungsfall kennt keinen Vorrang des Lebensschutzes vor der Freiheit

Zudem ist das Paradigma einer staatlichen Ausnahmesituation jenes der kriegerischen Aggression durch einen anderen Staat. Dies wirft für Habermas ein Problem auf. In dem von Theoretikern des gerechten Krieges diskutierten Gedankenexperiment der „unblutigen Invasion“ versichert eine Invasionsarmee der Bevölkerung auf der gegnerischen Seite glaubhaft, dass sie dieser nur deren Ressourcen und Freiheit, nicht aber das Leben nehmen will – es sei denn, sie stößt auf Widerstand, in diesem Fall droht sie glaubhaft mit tödlicher Gewalt. Habermas müsste angesichts seiner Verabsolutierung des Lebensschutzes in Ausnahmesituationen von jedem so zu Unrecht angegriffenen Staat die Kapitulation verlangen. Das mag sich mit Habermas’ Äußerungen zum Ukraine-Russland-Konflikt gut vereinbaren lassen, aber weder mit der Theorie des gerechten Krieges noch mit dem deutschen Grundgesetz noch mit der Haltung von Ukrainern, die bereit sind, ihr Leben für die Verteidigung der Freiheit zu riskieren.

Der Bioethiker Julian Savulescu bemerkt, Menschen könnten eingezogen werden, wenn die Existenz und die Freiheit der gesamten Bevölkerung auf dem Spiel stehen, und leitet daraus ab: „Wenn Menschen gegen ihren Willen in den Krieg geschickt werden können, ist unter bestimmten Umständen ein gewisses Maß an Zwang im Kampf gegen das Virus gerechtfertigt.“ Tatsächlich aber muss dieses Argument, auch gegen Habermas, vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wenn es um der Freiheit der Bevölkerung willen zulässig ist, eine Minderheit von Menschen zu zwingen, dorthin zu gehen, wo viele von Feinden absichtlich getötet werden, dann ist es umgekehrt erst recht zulässig, das unbeabsichtigte Sterben einer ebensolchen Minderheit von Menschen an einer Virusinfektion lediglich billigend in Kauf zu nehmen, um absichtliche zwangsbewehrte Einschränkungen der Freiheit der gesamten Bevölkerung gerade zu vermeiden. Tatsächlich tut man dies seit jeher bei der Grippe.

Täter-Opfer-Umkehr: Die infame Rede von der „Tyrannei der Ungeimpften“

Bemerkenswert bei den Apologeten des Corona-Autoritarismus ist auch die Täter-Opfer-Umkehr. So sprach Frank Ulrich Montgomery, seinerzeit Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, von einer „Tyrannei der Ungeimpften.“ Peter Dabrock, Theologe und einst Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, sprang ihm begeistert bei, wobei er über ungeimpfte Bürger in einer Weise herzog, die Habermas’ Äußerungen weit in den Schatten stellen.

 

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Tatsächlich aber haben die Ungeimpften niemanden gezwungen, zu Hause zu bleiben. Sie haben es jedem überlassen, eigenverantwortlich für sich selbst zu entscheiden. Der Staat hingegen setzte auf Zwang. Er hat Schulen geschlossen, Versammlungen und Besuche verboten, das Tragen von Masken geboten und Reisebeschränkungen verhängt. Hätte er dies nicht getan, wären viele, vielleicht sogar die meisten Menschen immer noch vielen (nicht allen) der Aktivitäten nachgegangen, die der Staat nun per Gesetz oder Verordnung untersagte oder welche übereifrige Polizeibeamte oft auch ganz ohne Grundlage in einem von beiden verhinderten. Die Tyrannei ging also nicht von ungeimpften Privatleuten, sondern vom Staat und seinen bewaffneten Beamten aus.

Frei erfundene Moralprinzipien für die Begründung der Impfpflicht

Für die Impflicht argumentiert Dabrock, indem er, angeblich „in der kantischen Tradition“, „eine starke moralische Pflicht“ postuliert, „etwas zu tun, wenn der Aufwand dafür gering, der Nutzen für einen selbst und mittelbar auch für andere und die Gesellschaft als ganze hoch ist, bei Unterlassen die Wirkung dieser Handlung nachlässt, vergleichbar effektive und effiziente Alternativen nicht vorliegen und zugleich das Risiko der Selbstschädigung gering ist“.

Die Absurdität dieses Postulats lässt sich daran erkennen, dass es die Einführung der berüchtigten „Überlebenslotterie“ des Philosophen John Harris zur moralischen Pflicht erhebt. Bei dieser Lotterie wählt ein Computer von Zeit zu Zeit zufällig eine Person aus einer großen Bevölkerungsgruppe aus. Die Organe dieser Person würden entnommen, um mit ihnen eine größere Anzahl von Menschen zu retten, die Organe benötigen. Die Wahrscheinlichkeit, ausgewählt zu werden, ist gering, allerdings sind die Kosten bei der Auswahl hoch. Die Existenz der Lotterie würde also die statistischen Überlebenschancen aller erhöhen, aber einige umbringen, die sonst überlebt hätten. (Das trifft – im günstigsten Fall – auch auf Coronaimpfungen zu.) Tatsächlich aber widerspricht die Überlebenslotterie sowohl der Kantischen Philosophie also auch üblichen moralischen Intuitionen und Konventionen. Menschen gehen nicht gern das Risiko ein, und sind dazu auch nicht verpflichtet, zum Vorteil anderer ausgeweidet zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn das Eingehen des Risikos ihre eigenen Überlebenschancen erhöht. Aber als Mitglied des Ethikrates muss man das vermutlich nicht wissen.

Die Abneigung des Ethikrates gegen individuelle Abwehrrechte wider staatlichen Zwang

Apropos Ethikrat. Dieser erklärt: „Freiheit besteht zunächst darin, innere wie äußere Einflüsse, Eingrenzungen oder Zwänge abzuwehren.“ Aber nicht individuelle Abwehrrechte gegen den Staat möchte man betonen – wo käme man da auch hin? – sondern das, was Dabrock „soziale Freiheit“ nennt, hinter der, versteht sich, Individualrechte zurückzustehen haben: „Vielmehr verdankt sich die individuelle Freiheit jeder einzelnen Person überhaupt erst einem freiheitsermöglichenden bzw. -förderlichen Zusammenleben mit allen anderen. Die Pandemie führt diesen grundsätzlichen Sachverhalt vor Augen: Ein funktionierendes Gesundheitswesen, das durch eine solidarische Gesellschaft gewährleistet wird, ist im Falle einer schweren Erkrankung eine wesentliche Voraussetzung, um individuelle Freiheit zu behalten oder gegebenenfalls wiederzuerlangen.“

Es ist allerdings zu betonen, dass dies im Hinblick auf die Freiheit von durch andere Menschen ausgeübtem Zwang ein Irrtum ist. Man wäre auch frei von Zwang, wenn man allein auf einer Insel lebte. Umgekehrt bräuchte man, um in einer Gesellschaft unter den Bedingungen einer Pandemie frei von Zwang zu sein, einen liberalen Staat, der einen vor sanktionsbewehrten Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit, der Versammlungsfreiheit und der Freizügigkeit schützt statt diese Verletzungen selbst zu begehen. Der Ethikrat will diese Art von Freiheit eher nicht fördern und ermöglichen.

Irreversible staatliche Impfeingriffe in die eigene körperliche Konstitution

Vielmehr scheinen ihm Handlungsoptionen vorzuschweben. Und es ist richtig, dass Robinson Crusoe auf seiner Insel zwar frei von Zwang durch andere ist, aber nicht die Möglichkeiten von Menschen in einer industrialisierten und technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft hat. Ebenso haben die Menschen bei einer weit verbreiteten Impfverweigerung (wenn die Impfung denn wirkt) nicht mehr die Möglichkeit, ihr Haus bei nur relativ geringem Infektionsrisiko zu verlassen, sondern müssen ein etwas höheres eingehen.

Umgekehrt wird den Menschen mittels der Impfpflicht aber durch absichtlichen staatlichen Zwang (also nicht nur kollateral als bloße Nebenfolge der Freiheitsausübung anderer) die Möglichkeit genommen, ohne Risiko der Bestrafung an der ursprünglichen, nicht durch erzwungene chemische Injektionen dauerhaft veränderten Konstitution ihres Körpers festzuhalten. (Dieser Aspekt des staatlich erzwungen Eingriffs in die angeborene Konstitution des Körpers wird insbesondere von dem in Australien forschenden Ethiker und vehementen Impfpflichtgegner Michael Kowalik hervorgehoben, aber vom Ethikrat und Dabrock völlig ignoriert.) Solange sie sich nicht impfen lassen, haben sie beide Möglichkeiten, denn sie können sich ja noch impfen lassen. Danach aber ist die Impfung und ihre Wirkung nicht mehr reversibel. Da es sich also auf beiden Seiten um einen Ausschluss von Optionen handelt, ist der lediglich kollaterale dem absichtlich erzwungenen vorzuziehen.

Die egozentrische „Solidarität“ der Impfpflichtbefürworter und das Liniendenken der Staatsphilosophen

Dementsprechend scheint die „Solidarität“, die Impfpflichtbefürworter wie der Ethikrat und Dabrock salbungsvoll beschwören, auch eher als Einbahnstraße zu ihren Gunsten intendiert zu sein. Eine naheliegende Entgegnung auf deren Ansinnen wäre schließlich: „Damit ich das richtig verstehe: Sie wollen mich absichtlich dazu zwingen, eine fremde Substanz, die ich aus meinem Körper heraushalten möchte, definitiv in meinen Körper aufzunehmen, damit Sie einen nur zufälligen oder wahrscheinlichen Kontakt mit einer Substanz vermeiden können, die Sie aus Ihrem Körper heraushalten möchten? Sie sind ein wahrer Ausbund an Solidarität, Autonomie und Fairness, nicht wahr?“

Wenn also Habermas am Ende seiner Legitimationsversuche in der Coronakrise meint, die „derartig für den Zeitraum der Pandemie gerechtfertigten Maßnahmen könnten wohl nur von Corona-Leugnern als Auswuchs einer Biopolitik verteufelt werden“, so sind vielmehr umgekehrt solche Aussagen Auswüchse eines autoritären Untertanentums, das sich zu allem Überfluss auch noch als „kritische Theorie“ verkauft. „Mehr Schweden, weniger DDR“ wäre eine gute Maxime gewesen. Ein großes Problem der Coronazeit war jedenfalls weniger das Querdenken renitenter Bürger und Twitterkonten, als vielmehr das Liniendenken devoter Leitmedien und Staatsphilosophen.
 

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