Aufarbeitung der Pandemie - Ein bisschen „Sorry!“ wird nicht reichen

Immer mehr Politiker fordern eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie – nur um mit dem nächsten Halbsatz weiter an der gesellschaftlichen Spaltung zu arbeiten. Wie aber kann ein Weg aus der Krise wirklich gelingen?

Im Dezember 2021 greift die bayerische Polizei auch härter durch gegen friedliche Demonstranten / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

So erreichen Sie Ralf Hanselle:

Anzeige

Die Welt zerfällt grob in zwei Teile: Da ist auf der einen Seite die hehre und glasklare Wahrheit, auf der anderen aber grassiert Dichtung, Intrige und böses Spiel. Während Teil eins dieser bipolar gestörten inneren Weltordnung aktuell vornehmlich von Politikern aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen bewohnt wird (ihre Einwohner finden sich aber auch in sämtlichen anderen Parteien des Deutschen Bundestages), ist Teil zwei vor allem für „rechte Gruppen“, „Verschwörungserzähler“ und selbstverständlich auch für die gemeine „Querdenkerei“ eine mindestens geistige Heimat. Und seit neuestem gesellen sich sogar noch „fremde Regierungen“ oder „ausländische Nachrichtendienste“ zur rundheraus bösen Seite des Daseins. Das sagt nichts Genaueres, doch man ahnt gewiss Böses.

Janosch Dahmen etwa, gesundheitspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, raunte jüngst das Folgende: „Wir wollen uns vor der Einflussnahme ausländischer Nachrichtendienste schützen.“ Ein gewiss gutes, ein wichtiges Vorhaben, das der 42-jährige Arzt und Notfallmediziner da am vergangen Montag auf dem Kurznachrichtendienst X bekannt gab. Schließlich kennt sich Dahmen mit derlei „Einflussnahmen ausländischer Nachrichtendienste“ ganz gut aus. So gestand er etwa jüngst dem Berliner Tagesspiegel, dass er 2020 den im Februar verstorbenen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ärztlich versorgt habe, als der damals mit einer akuten Nowitschok-Vergiftung am Berliner Flughafen Tegel eintraf. Nawalnys Tod, so der einstige Unfallchirurg noch am Abend der schockierenden Nachricht vom 16. Februar 2024, dürfe nicht ohne Reaktion bleiben.

Die Verschiebung der Felder

Und jetzt also wird reagiert – nicht auf dem Gebiet deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wo eine solche Reaktion gewiss angemessen wäre, sondern bei der Pandemieaufarbeitung. Zu den jüngst vom Online-Magazin Multipolar freigeklagten RKI-Krisenstabsprotokollen nämlich sagte der Grüne Gesundheitsexperte, um den es nach Ende der Pandemie recht ruhig geworden war, die skandalhungrigen Debatten um die sogenannten RKI-Files seien Ausdruck von „Desinformation, um uns zu spalten“. Ganz ähnlich verrutschen dieser Tage auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die politischen Felder: Corona-Aufklärung sei gut und richtig, schrieb der rheinische Gesundheitsökonom ebenfalls auf der Plattform X, „aber wir dürfen nicht durch Einmischung fremder Regierungen Verschwörungstheorien in Sozialen Medien entstehen lassen“.

Der Feind also ist damit benannt; und die Welt bleibt weiterhin übersichtlich und handlich zweigeteilt. Hüben stehen die mit der Wahrheit, drüben die mit fremdgesteuerten Verschwörungen. Hier die beinharten Realisten, dort die fehlgeleiteten „Bullshiter“. Warum man dann eigentlich noch gemeinsam und als Gesamtgesellschaft die vergangene Corona-Pandemie aufarbeiten möchte, wie es jetzt, genau vier Jahre nach dem ersten Lockdown, von überall in Politik und Medien tönt, scheint da fast schon eine Art Rätsel zu sein. Man gibt sich in Sachen Schnelltests, Masken oder Lockdowns zwar irgendwie offen für neue Antworten, kettet sich aber sonst weiterhin fest an ein bekanntes Credo Lothar Wielers, nach dem einmal aufgestellte Regeln nicht mehr hinterfragt werden sollten.

Die totale Verwirrung

Koan würde man ein derart kryptisches Denkspiel wohl im japanischen Zen-Buddhismus nennen: Der Meister stellt dem Schüler eine Aufgabe, die dieser mit Logik allein nicht lösen kann. Doch was im Zen zur inneren Leere führen soll, bringt in der Politik nur immer weitere Double-binds hervor. Denn so löblich es ist, dass nun selbst bei einstigen Engstirnern der Ruf nach Aufarbeitung – nach Enquete-Kommission, Expertengremium oder gar Untersuchungsausschuss – laut wird, so unnütz wird das Ganze verklingen, wenn man nun ausgerechnet im Land der einstigen Aufarbeitungs- und Bewältigungsmeister an der Zweiteilung einer zuvor feinsäuberlich zerrissenen Welt festhält. Denn die Sollbruchstelle, so klingt es dieser Tage aus nahezu allen Statements heraus, soll doch Bitteschön bleiben!

Und so ist am Ende nur weiteres Unheil zu befürchten: Katrin Göring-Eckardt etwa, während der Pandemie noch bekennende Impfpflicht-Anhängerin („Da gibt es eine Anweisung, und dann muss man das machen“), will sich laut eines Interviews mit der Funke-Mediengruppe nun zwar auch allmählich für Aufarbeitungsaufwärmübungen interessieren, scheint aber zugleich den Ernst der Lage zu befürchten: „Wie mit der Pandemie noch heute Stimmung gegen unsere parlamentarische Demokratie gemacht wird, besorgt mich“, so die Bundestagsvizepräsidentin nach kurzer Besinnung bereits wieder schnatterig nudgend. Und weiter: „Eine Aufarbeitung sollte nicht missbraucht werden, um Handelnde in Politik, Ärzteschaft, Wissenschaft zu diffamieren, sondern um für die Zukunft zu lernen.“

Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!

So richtig es ist, auf ein Fair Play im anstehenden Ajourierungsprozess zu verweisen, so grundlegend falsch wäre es aber auch, die „Opfer“ der vergangenen Jahre ausschließlich auf der einen Seite der moralisch halbierten Republik zu suchen. Nach den Regeln von „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ wird Pandemieaufarbeitung gewiss nicht gelingen. Diffamiert nämlich wurde allenthalben: Die einen waren „Horrorclowns“ und „völlig irre“, die anderen „Tyrannen“, „Bekloppte“, „Gefährder“, im Zweifelsfall sogar „Todesengel“. 


Das könnte Sie auch interessieren:


Vielleicht also sollte die Politik nach all den Bekenntnissen der letzten Tage nun erst einmal ehrfürchtig zu schweigen beginnen. Zuhören als eine erste Übung in demokratischer Demut. Die vulnerable Gesellschaft, die 2020 mit dem gewiss hehren Ziel angetreten war, ihre schwächsten und verletzlichsten Glieder zu schützen, sucht nach neuen Orten und Ausdrucksweisen, um sich ihre tief geschlagenen Wunden zu zeigen. 

Da sind zum Beispiel noch immer die Ungeimpften, die man Vogelfreien gleich in Talkshows und auf Meinungsseiten verhetzen durfte; da sind die Kinder und Jugendlichen, für die jeder weitere Lockdown nur ein weiterer Horrortrip gewesen ist; da sind die, die ohne Tagestestung nicht mehr Bus- und nicht mehr Bahnfahren durften (und das ohne belastbare Evidenz); ferner sind da die Impfgeschädigten, die noch heute an nahezu allen Türen abgelehnt werden und deren Leiden man am liebsten verschweigen würde. Vor allem aber sind da die, die unermüdlich von ihrem demokratischen Recht, ja ihrer Pflicht zum Schutz der Demokratie Gebrauch gemacht haben – und die sich gerade deshalb als „undemokratisch“, ja als „verschwurbelt“ oder gar „politisch rechts stehend“ beschimpfen lassen mussten. 

21 Prozent, der sogenannten „Querdenker“, so hätte man bereits 2020 aus Befragungen des Baseler Soziologen Oliver Nachtwey wissen können, haben sich damals den Grünen politisch nahe gefühlt. Will man diese Menschen zurückholen, so wird man sich nun wohl selbst zurückholen müssen. Die Wahrheit nämlich, sie liegt weder hüben noch drüben. Sie ist nicht das rein Gute, so wie auch ihr gegenüber nicht das spiegelbildlich rein Böse liegt. Die Wahrheit, die demokratische allzumal, ist letztlich immer das Ganze. Wer also jetzt Aufarbeitung fordert, der wird immer das Ganze ein-, ja auffordern müssen. Ein bisschen „Sorry!" wird da nicht reichen. Weder hüben, aber auch nicht drüben. 
 

Anzeige