Chaos-Hauptstadt - Ist Berlin eine failed Stadt?

Wahldesaster, Silvester-Chaos – Deutschlands Hauptstadt gilt vielen als dysfunktional. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Berlin schon immer anders strukturiert war als andere Städte, erklärt der Historiker Felix Escher. Und warum es in der Stadt ab der Jahrtausendwende richtig abwärts ging.

Chaos und Randale an Silvester: Dit is Berlin! / dpa
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Prof. Dr. Felix Escher lehrte Mittelalterliche Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Er ist Mitglied der Historischen Kommission zu Berlin. Der Historiker hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Berliner Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit vorgelegt.

Wahldesaster und Silvester-Chaos sind aktuelle Beispiele. Vielen gilt Berlin als dysfunktionale Stadt. War das schon immer so? Was sind die Ursachen?

Die Ursachen liegen in der dysfunktionalen Stadtpolitik. Dabei gibt es kurzfristiges Versagen und grundsätzliche strukturelle Missstände. Denken Sie an die missglückten Wahlen, sowas gab es noch nicht, bisher liefen alle Wahlen in Berlin eigentlich störungsfrei ab, auch unter schwierigen Bedingungen. Aber die wahren Probleme liegen tiefer.

Was sind die strukturellen Ursachen für Berlins Misere?

Es lohnt der Blick zurück in die Geschichte. Das heutige Berlin, wie wir es kennen, wurde schon 1920 aus verschiedenen Städten und Dörfern gebildet. Damals war die Demokratie in Deutschland gerade frisch implantiert worden und entsprechend sollte nun auch diese neue große Stadt demokratisch verwaltet und regiert werden. Und wie macht man das auf so einer großen Fläche? Zudem galt im damaligen Preußen noch die alte Städteordnung. Deswegen musste auch für die neue Einheitsgemeinde Berlin ein Magistrat und eine Stadtverordnetenversammlung gebildet werden. Doch einige bis dahin eigenständige Städte wie Spandau, Charlottenburg oder Neukölln wollten das ganz und gar nicht. Deswegen und wegen der enormen Ausdehnung der Stadt wurde das zweistufige System zusätzlich mit den Bezirken und Bezirksversammlungen gebildet. Mit weitreichenden Folgen bis heute.

Das Kompetenzgerangel zwischen Senat und Bezirken gilt vielen als Ursache für die Dysfunktionalität. Wieso ist das nicht besser geregelt?

Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte die Vier-Mächte-Verwaltung Berlin vom Umland. Es entstand eine selbstständige Einheit. Davor stand Berlin unter der Kommunalaufsicht Preußens, die fiel weg. Das Land Berlin und die Kommune verschmolzen zu einer Einheit. Die Bezirke sind formal seitdem nur Teil der Verwaltung. Diesen Zustand wollte man nach der Wende ändern, aber die Fusion mit Brandenburg scheiterte.

Wäre das der richtige Weg gewesen?

In meinen Augen wäre die Fusion der richtige Weg gewesen, aber es gab keine Mehrheiten dafür.

Der Berliner Webfehler liegt also in diesem merkwürdigen Konstrukt mit den Bezirken?

In der Tat ist mir keine zweite Stadt in Deutschland bekannt, die so organisiert wäre wie Berlin. Formal sind Abgeordnetenhaus und Senat von Berlin zugleich Parlament und Regierung für das Land und die Kommune. Die Bezirksverordnetenversammlungen sind also formal gar keine Parlamente, die Bezirke auch keine Kommunen. Hierhin wird die Verwaltung nur delegiert, was aber eben nicht richtig funktioniert.
 

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Nun gibt es noch andere große Städte, die regiert werden müssen. Wie sieht es da aus?

In Hamburg gibt es einige große Bezirke, die als untere Verwaltungseinheiten dienen. Dort wird aber nicht wie in Berlin Politik gespielt, so dass es zu einem vergleichbaren Gerangel käme. In Wien etwa gibt es viele sehr kleine Bezirke, um die Nähe zum Bürger zu ermöglichen, die aber nicht politisch stark in Erscheinung treten.

Wieso funktioniert Hamburg besser?

Hamburg hat eine ganz andere Tradition. Hamburg war immer ein Staat, nicht nur eine Stadt. Die Hamburger fühlen sich auch als Staat, nicht so sehr als Kommune. Das hat zur Folge, dass es eine ganz andere Reputation mit sich bringt, sich in der Hamburger Politik einzubringen. Und der Respekt vor der Stadt ist größer. Auch gibt es nicht so viele Reibungsflächen, weil Hamburg deutlich kleiner ist als Berlin. Dieses Kompetenzgerangel zwischen Bezirken und Senat, das gibt es in Berlin, das gibt es in Hamburg nicht.

Wie kommt es genau zu diesem Berliner Kompetenzgerangel?

Das Berliner Behörden-Ping-Pong sehe ich auch als eine Folge der Politisierung der Verwaltung an, die ist in Berlin viel stärker ausgeprägt als in anderen Kommunen. Und diese Politisierung ist in den letzten beiden Jahrzehnten wesentlich schärfer geworden. Der Gegensatz zwischen links und rechts war in der Zeit der Teilung in Westberlin zumindest in der Verwaltung nicht so stark vorhanden. Dieser breite Konsens ist zerbrochen.

Es gibt noch eine Besonderheit. Die Bezirke haben als Spitze ein sogenanntes Kollegialgremium. Die Parteien besetzen die Bezirksstadträte als Verwaltungschefs. Jeder bekommt was ab. Die Wahlen ändern kaum etwas. Wie kann das sein?

Die Wahlen machen schon etwas aus, denn je nach Stärke der Parteien werden die Posten vergeben. Tatsächlich bekommt dann aber jede Partei unabhängig von Koalitionen einen oder mehrere Stadtrats-Posten, wenn sie eine gewisse Stärke erreicht. Das führt dazu, dass in Berlin der AfD Stadträte zustehen. Diese Idee der kollegialen Behörde ist eigentlich eine preußische Tradition.

In den Berliner Bezirken wählen so genannte Zählgemeinschaften, also eine Art Koalition, den Bezirksbürgermeister. Doch unabhängig davon bekommen alle Fraktionen einen Stadtrats-Posten. Das ist noch ziemlich ungewöhnlich, oder?

In der Tat, das gibt es in dieser Form sonst in Deutschland so nicht.

Eine weitere Berliner Kuriosität ist, dass die Bezirksstadträte zwar Chefs der örtlichen Verwaltung sind, aber keine Qualifikation vorweisen müssen.

Das ist ein ganz großes Problem. Ursprünglich dachte man, es sei selbstverständlich, dass nur kompetente Personen zu Stadträten gewählt würden, dass sich das sozusagen selbst regelt. Das ist aber nicht der Fall. Das ist eine neue Entwicklung, dass man in die Verwaltungsspitze Stadträte ohne entsprechendes Vorwissen wählt.

2004 gab es in Berlin eine Verwaltungsreform, es wurde die direkte Aufsicht des Senats über die Bezirke abgeschafft. Wie kann das sein?

Es war der Versuch, die Bezirke zu stärken. Doch im Ergebnis wurde durch das Weniger an Aufsicht, die Politisierung noch weiter in alle Ebenen hinein getrieben. Geblieben ist nur das sogenannte Einspruchsrecht aus der alten Magistratsverfassung, mit dem der Senat Dinge an sich ziehen kann.

Historiker Felix Escher. /privat

Also kann man sagen, Berlin ist die einzige Kommune in Deutschland ohne Kommunalaufsicht?

In Bremen und Hamburg ist das natürlich auch anders geregelt. Nur gibt es da nicht die starken Bezirke. Die Berliner Absurdität ist, dass die Bezirke gar keine eigene Rechtspersönlichkeiten sind. Also einerseits wird die Bezirksverwaltung stark politisiert, andererseits ist sie letztlich selbst gar nicht rechtsfähig.

Nun finden aber Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen statt. Was sind das dann für Wahlen?

Es sind auf jeden Fall keine Parlamentswahlen. Oft wird von Bezirksparlamenten geredet und geschrieben, das ist in der Tat irreführend. Die Möglichkeiten der Bezirksverwaltung und der Bezirksverordnetenversammlung sind ja recht bescheiden.

Also zusammengefasst: Ist Berlin gescheitert?

Nein, so würde ich das nicht sagen. Es hat lange gut funktioniert, diese Verwaltung hat Großes geleistet. Die Einheitsgemeinde von 1920 hat funktioniert, trotz dieser großen Zahl von Siedlungen, die zusammengeführt wurden. Der Bruch kam eigentlich nach der Jahrtausendwende. Es gab einen Niedergang in der Qualität des politischen Personals, aber auch einen Niedergang in der Qualität der Verwaltung. Vielleicht ist Berlin da aber auch nur Vorbote einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Das politische Ehrenamt hat einen enormen Ansehensverlust erlebt. Spitzenpersonal geht häufig lieber in die Wirtschaft als in die Politik. Das ist aber weniger Berlin-spezifisch.

Es gibt auch eine andere Wahrnehmung von Berlin, die sich mit „arm, aber sexy“ beschreiben lässt. Manchmal hat man den Eindruck, der Berliner will es gar nicht anders, er liebt das Chaos. Was meinen Sie?

Vielleicht ist es ein bisschen so. Das, was andere als Chaos ansehen, so möchte ich es sagen, wird in Berlin nicht unbedingt als Chaos gesehen. Diese Mentalität ist ein Produkt aus vielen Widrigkeiten, die auf Berlin eingewirkt haben? Kriege und Diktaturen, die Teilung mit ihren Krisen. Die Wendezeit mit den sehr widersprüchlichen Entwicklungen.

Welche Rolle spielt Zuwanderung?

Berlin war immer auf Zuwanderung angewiesen, war nie lebensfähig ohne Zuwanderung. Das muss man sich immer vor Augen halten. Und dann es natürlich ganz unterschiedliche Einflüsse. Nehmen sie die Zuwanderer aus Westdeutschland in die geteilte Stadt, die kamen in Scharen. Das waren junge Männer, die der Wehrpflicht entgehen wollten - und die waren zum großen Teil links eingestellt. Diese jungen Männer kamen nun in eine Stadt, die so ganz anders war, als sie es zu Hause im schönen Schwabenland oder in der Pfalz oder Bayern oder sonstwo gewohnt waren, sie kamen gerade aus Kleinstädten, aus ländlichen Gebieten. Und sie sagten sich: Diese andersartige Stadt Berlin muss doch erhalten bleiben, weil sie ein Gegenmodell zur vermeintlich spießigen Heimat darstellte. Berlin sollte auch gesellschaftlich etwas anderes werden, ein linkes Projekt. Dieser Geist herrscht bisweilen noch immer.

Was meinen Sie, wie wird sich Berlin entwickeln?

Ich hoffte nach der Wende, dass mit Berlin als Bundeshauptstadt vieles anders würde. Ich hoffte auf Veränderungen in der Stadtgesellschaft. Die hat es aber so noch nicht gegeben. Es gibt weiterhin ein gewisses gegenseitiges Ressentiment gegenüber Westdeutschland, wie man hier sagt, und auch gegenüber den neuen Bundesländern. Also es gibt wenig Interesse, etwa in der Politik, auch Leute von außen zum Zuge kommen zu lassen. Das wirkt sich negativ auf die Lage aus. Insofern wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis Berlin eine neue Entwicklung nimmt.

Die Fragen stellte Volker Resing.

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