Bündnis Sahra Wagenknecht - Wollen Sie immer noch den Kapitalismus überwinden, Frau Mohamed Ali?

Im ausführlichen Cicero-Interview spricht Amira Mohamed Ali, Vereinsvorsitzende des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), über ihre Kindheit, ihre Trennung von der Linkspartei und ein aus ihrer Sicht gerechtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.

BSW-Vorsitzende Amira Mohamed Ali mit Namensgeberin Sahra Wagenknecht / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Die streitbare Politikerin Sahra Wagenknecht ist mit weiteren Abgeordneten aus der Linkspartei ausgetreten. Daraus ergeben sich gleich zwei Zukunftsfragen für die deutsche Parteienlandschaft. Erstens: Wie geht es nun weiter mit der Partei Die Linke, die sich in einer veritablen Krise befindet? Und zweitens: Wie geht es weiter mit Sahra Wagenknecht und ihrem Bündnis, das derzeit noch ein Verein ist, kommendes Jahr aber zur Partei werden soll

Eine der entscheidenden Protagonistinnen dieser Gemengelage ist Amira Mohamed Ali, derzeit Vereinsvorsitzende des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW). Die Tochter eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist in Hamburg geboren und aufgewachsen, der Liebe wegen aber nach Oldenburg gezogen. Bemerkenswert: Ihre politische Karriere begann erst im Jahr 2016. Was folgte, war ein rasanter Aufstieg auf der Karriereleiter. Zuletzt war sie Fraktionsvorsitzende der Die Linke im Bundestag. Mittlerweile ist sie ebenfalls aus der Partei ausgetreten und wird voraussichtlich Parteivorsitzende der noch zu gründenden Wagenknecht-Partei. 

Cicero hat ausführlich mit Mohamed Ali gesprochen. Über ihre Kindheit, ihre politischen Überzeugungen und über die Frage, welche Ziele sie mit der Wagenknecht-Partei mittelfristig erreichen will. Denn kommendes Jahr wird in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt, außerdem finden die Europawahlen statt. Hauptziel scheint zwar der Einzug in den Bundestag in zwei Jahren. Gleichwohl betont Mohamed Ali, dass das BSW eine bundesweite Partei werden will; also auch in die Landtage einziehen möchte. Für Wagenknecht, Mohamed Ali und ihre Mitstreiter gibt es derzeit also viel zu tun. 

Frau Mohamed Ali, Sie sind die Tochter eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter. Wie war Ihre Kindheit?

Ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen. Bildung war meinen Eltern, besonders meinem Vater sehr wichtig. Eine gute Schulbildung, studieren, auf eigenen Beinen stehen. Finanziell war es bei uns oft knapp. Ich hatte aber zum Glück immer viel Rückhalt von meiner Familie. Mein Vater war ein sehr gebildeter Mann, der mich immer unterstützt hat und mir viel erklären konnte, auch über Politik.

Also haben Sie zuhause viel über Politik gesprochen?

Das war so, ja. Soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, gute Löhne, gute Renten. Das waren Themen, die uns wichtig waren. Politisch standen wir darum der SPD sehr nah, die damals, in den 80er Jahren und Anfang der 90er Jahre für diese Themen stand. Das hat sich mit der Politik der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder aber geändert. Die SPD hat sich damit von ihren Grundüberzeugungen leider verabschiedet.

Wenn man mit Politikern über ihre Politisierung spricht, hört man sehr oft davon, dass sich diese Menschen schon in der Schule, später in der Uni politisch engagiert haben oder Jugendorganisationen von Parteien beigetreten sind. Tatsächlich sind Sie erst im Januar 2016 in die Linke eingetreten. Warum hat das bei Ihnen so lange gedauert?

Die ehrliche Antwort ist: Ich war damit beschäftigt, meine Ausbildung abzuschließen und in den Beruf zu starten. Als Studentin habe ich nebenbei viel gearbeitet. Da blieb für politisches Engagement – wie Sie es gerade skizziert haben – kaum Zeit. Bei meiner heutigen Arbeit als Politikerin kommen mir die vielen Jahre Berufserfahrung in der freien Wirtschaft aber tatsächlich sehr zugute.

Warum sind Sie damals der Die Linke beigetreten?

Ich bin der Linken beigetreten, weil sie für mich zum damaligen Zeitpunkt die Partei war, die die Themen, die mir wichtig waren – und bis heute sind – am glaubwürdigsten verkörpert hat.

Was hat sich in der Zwischenzeit – wir reden hier von gerade einmal sieben, acht Jahren – so fundamental verändert bei der Linken, dass Sie schließlich gesagt haben: Nein, ich kann das nicht mehr mit meinen politischen Vorstellungen vereinbaren?

Da sind mehrere Dinge zusammengekommen. Ich bin damals in Die Linke eingetreten, weil ich dachte, die Partei vertritt das, wofür ich stehe, entschieden und geschlossen. Als ich für den Bundestag kandidierte, war Sahra Wagenknecht die Spitzenkandidatin, was ich super fand. Ich wusste zwar, dass es in einer Partei auch Konflikte gibt. Aber dass die Fronten so verhärtet sind, dass so viel Energie in destruktive Selbstbeschäftigung fließt, war mir nicht bewusst. 

Es war auch ein Schock, als ich in die Bundestagsfraktion kam, und gesehen habe, was da für Tribunale regelmäßig in den Sitzungen über Sahra Wagenknecht abgehalten wurden. Da habe ich mir wirklich gedacht: „Wir wollen doch gemeinsam die Welt besser machen. Mit was beschäftigt ihr euch denn bitte den ganzen Tag?“

Dabeigeblieben sind Sie aber erstmal.

Ja. Denn die Arbeit, die wir in der Fraktion gemacht haben, war trotzdem wirklich gut. Ich habe später für den Fraktionsvorsitz kandidiert, weil ich die Hoffnung hatte, dass ich als relativ neue Person - unbelastet von den alten Konflikten - helfen kann, dass wir gemeinsam nach vorn gehen. Dann kamen Parteitage, Wahlen für den Parteivorsitz und ich habe leider gesehen, dass seitens der Parteiführung der Wunsch gar nicht bestand, die Lager zu versöhnen. 

Im Gegenteil wurden aus dem Parteivorstand sogar öffentliche Kampagnen gegen Parteikollegen unterstützt. Ich erinnere da nur an die unsägliche Kampagne „Nicht euer Ernst“, als gemeinsam mit einigen Grünen-Mitgliedern wie zum Beispiel Luisa Neubauer verhindert werden sollte, dass Klaus Ernst Ausschussvorsitzender wird. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt, um die nächste Empörungswelle losschicken zu können.

Mohamed Ali, damals noch Fraktionsvorsitzender der Die Linke im Bundestag / dpa

Was hat das Fass zum Überlaufen gebracht?

Als es den Beschluss des Parteivorstandes gab, dass Sahra nicht mehr in der Partei sein sollte, war für mich das Maß voll. Es wurde so getan, als ginge es hier lediglich um eine Person, aber das war nicht der Fall. Es ging darum, die ganze politische Linie, für die Sahra steht, aus der Partei zu drängen. 

Damals habe ich entschieden, nicht erneut für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren, denn für so eine Partei wollte ich nicht mehr vorne stehen. Als nach all den krachenden Wahlniederlagen nicht einmal die verlorene Landtagswahl in Hessen auch nur zum Hauch einer Selbstkritik bei der Parteiführung führte, sondern die Schuld wieder mal bei Sahra abgeladen wurde, habe ich entschieden, die Linke zu verlassen.

Jetzt sind Sie Vereinsvorsitzende des Bündnis Sahra Wagenknecht. Warum?

Jetzt ist die Chance da, etwas Neues zu machen und für eine andere Politik zu sorgen. Es braucht dringend eine neue politische Kraft in diesem Land, die die riesige Repräsentationslücke schließt. Der Verein bereitet dafür die notwendigen Strukturen vor. Als Vereinsvorsitzende bringe ich mich mit voller Kraft dafür ein und ich freue mich auch, dass sich so viele Menschen bei uns melden und uns unterstützen wollen.

Wen möchten Sie repräsentieren?

Diejenigen, die sich von keiner Partei mehr vertreten fühlen. Das sind inzwischen weite Teile der hart arbeitenden Mitte, kleine und mittelständische Unternehmer und natürlich auch die, die absolut nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein großer Teil der Menschen nicht einmal mehr zu Wahlen hingeht, weil sie die Hoffnung verloren haben, dass eine Wahlentscheidung für sie irgendwas ändert. Das betrifft vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Das darf im Interesse unserer Demokratie so nicht bleiben. 

Ich möchte den Menschen ein Angebot machen, mit einer Partei, die für Vernunft steht, für die Belange der Mehrheit; eine Partei, der zugetraut wird, dass sie wirklich etwas zum Positiven verändern kann. Es gibt auch viele Menschen, die aus Gewohnheit oder aus Mangel an Alternativen bestimmte Parteien wählen, aber mit deren Politik eigentlich nicht einverstanden sind. Es ist ja bekannt, dass viele die AfD wählen, nicht, weil sie deren rechten Positionen teilen, sondern weil sie wütend sind. Wenn man es schafft, diese Wählerinnen und Wählern von uns und damit von einer seriösen Partei zu überzeugen, würde ich das richtig gut finden.

Als Frau Wagenknecht damals „Aufstehen“ initiierte, äußerten Sie zwar Sympathien, hielten sich aber zurück und haben sich das Ganze lieber aus der Ferne angesehen. Woher ihr plötzlicher Aktivismus?

(lacht) Ich war damals ganz frisch im Bundestag und habe mir das von außen angesehen. Das war ein Verein, der kaum Strukturen hatte und damit auch kaum Regeln, an die sich die Leute halten mussten. Das ist dann schnell chaotisch geworden. Der Unterschied zum Bündnis Sahra Wagenknecht liegt unter anderem darin, dass wir hier etwas auf sehr geordnetem Weg voranbringen und, anders als bei Aufstehen, keine Bewegung, sondern ganz klassisch eine Partei gründen wollen. 

Sahra Wagenknecht hat den Begriff der „Lifestyle-Linken“ geprägt. Was halten Sie davon?

Das ist ein Begriff, der zuspitzt und von dem sich einige vielleicht auch vor den Kopf gestoßen fühlen. Was Sahra damit sagen möchte, finde ich aber richtig, nämlich, dass sich ein als links verstehendes Milieu etabliert hat, das sein Linkssein weniger über Verteilungsfragen definiert, sondern in erster Linie über Lifestyle-Fragen und kulturelle Themen. Menschen, die gewisse Erfahrungen selbst nicht gemacht haben, aber sehr schnell sind mit ihren Werturteilen anderen gegenüber; die überheblich und maßregelnd gegenüber denen auftreten, die nicht ihren Vorstellungen von einem politisch korrekten Leben entsprechen. Die Wahrheit ist aber: Nicht jeder kann es sich leisten, ökologisch nachhaltig einzukaufen oder vom Auto aufs Lastenfahrrad umzusteigen. Ich habe den Eindruck, dass sich im linken Milieu einiges gewaltig verschoben hat.

Haben Sie ein konkretes Beispiel aus ihrer ehemaligen Partei?

Wir hatten in der Linken mal einen riesigen Konflikt beim Thema Senkung der Mehrwertsteuer. Ich war immer der Auffassung, es sei eine linke und vor allem vernünftige Position, dass Verbrauchersteuern gesenkt werden müssen, weil sie am meisten diejenigen belasten, die ihr Einkommen für die Dinge des täglichen Bedarfs vollständig ausgeben müssen. Da kamen sofort massive Anfeindungen aus Teilen der Linken, weil von einer Mehrwertsteuersenkung ja auch Millionäre profitieren würden und weil damit auch Sprit günstiger werden würde, was zu autofreundlich sei und das sei ja ökologisch nicht zu verantworten. Allgemein lässt sich sagen: Mittlerweile überlagern in linken Debatten häufig Lifestyle-Themen die wichtige Fragen, den Alltag der Mehrheit betreffen.

Aber ist das dann überhaupt noch links? Ich meine, Sie selbst haben zum Beispiel die Grünen schon als „neoliberale Partei“ bezeichnet.

Früher gab es diese eindimensionale Einordnung in linke und rechte Parteien. Heute haben wir es mit zwei Achsen zu tun. Wir haben eine wirtschaftspolitische, eine verteilungspolitische Achse Links-Rechts. Und eine gesellschaftspolitische Achse Links-Rechts, wo es dann um Themen wie das Gendern geht. Die Grünen sind ein gutes Beispiel dafür: Wirtschaftspolitisch haben die Grünen nicht sehr viel für die Menschen im Angebot, aber gesellschaftspolitisch begreifen sie sich als links. Ich würde diese Einteilung „das ist links – das ist nicht mehr links“ nicht machen wollen. Das bin ich aus der Linken auch leid, dass man ständig in schwarz und weiß sortiert.
 

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Wollen Sie eigentlich immer noch „den Kapitalismus überwinden“?

Ich möchte eine Gesellschaft, in der das Gemeinwohl wichtig ist, die Interessen der hart arbeitenden Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht die Profitgier einiger weniger Großaktionäre.

Ich frage auch deshalb, weil es viele Menschen da draußen gibt, die vieles von dem, was Sie sagen, genauso oder zumindest ähnlich sehen: Vernunft, soziale Gerechtigkeit und mehr. Aber wie kann ich denn sicher sein, dass Sie nicht heute von Vernunft sprechen und das Bündnis Sahra Wagenknecht morgen den Marxismus zum politischen Leitbild erklärt?

Ich weiß, dass solche Ängste zum Beispiel gerade aus AfD-Kreisen geschürt werden, die behaupten, da kämen jetzt die Kommunisten. So ein Blödsinn! Wir haben schon jetzt ein Grundsatzprogramm und später wird es Partei- und Wahlprogramme geben, in denen jeder nachlesen kann, für was wir stehen und was wir konkret verändern wollen.

Aber Sie wollen schon Konzerne teilweise verstaatlichen oder zerschlagen.

Nicht generell. Ich finde es falsch, dass Themen wie Daseinsvorsorge, wie Wohnen, Energieversorgung, Telekommunikation allein dem Markt überlassen werden. Insbesondere Energieversorgung und Wohnungsbau sollten in einem solchen Maß in öffentliche Hand kommen, dass der Staat darauf unmittelbaren Einfluss nehmen kann, um die Daseinsvorsorge abzusichern und bezahlbar zu halten. Ich habe nichts gegen Marktwirtschaft, habe selbst zehn Jahre in der Privatwirtschaft gearbeitet. Marktwirtschaft und Wettbewerb sind in vielerlei Hinsicht sinnvoll, aber eben nicht überall.

Nehmen wir mal den Wohnungsbau: Im linken Spektrum haben sich Wohnungsbaukonzerne und „Spekulanten“ als zentrale Feindbilder etabliert. Wenn man genauer hinsieht, stellt man dann fest, dass die allermeisten Wohnungsbauprojekte in Berlin nicht wegen irgendwelcher Investoren nicht vorangehen, sondern weil die Politik versagt.

Da haben Sie insofern Recht, dass es natürlich darum gehen muss, Konzerne nicht per se als Feindbild zu betrachten. Und in der Tat: Es gibt für die Kommunen Vorschriften, die den Wohnungsbau unnötig erschweren. Ich schaue zum Beispiel in meine Heimat Oldenburg. Hier bräuchte es dringend eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, die auch selber bauen kann. Denn es braucht ja vor allem bezahlbaren Wohnraum. Gebaut werden aktuell aber vor allem sehr teure Eigentumswohnungen von privaten Investoren. So ist es in vielen Städten unseres Landes. 

Was die Wohnungskonzerne angeht: Einige sollten sich nicht darüber wundern, dass sie nicht besonders beliebt sind, wenn sie im großen Stile Menschen aus ihren Wohnungen „herausmodernisieren“, um dann teurer weitervermieten zu können. Nun kann ich einem Wirtschaftsunternehmen nicht vorwerfen, dass es alle Möglichkeiten, die es gesetzlich gibt, auch nutzt, um möglichst viel Gewinn zu machen. Aber deshalb ist es an der Politik, die entsprechenden Regeln zu schaffen.

Ein Faktor ist auch, dass durch die große Zahl von Migranten heute deutlich mehr Menschen um Wohnraum konkurrieren als früher.

Es ist schon seit vielen Jahren so, dass wir ein wachsendes Problem auf dem Wohnungsmarkt haben. Und inzwischen hat sich das derart zugespitzt, dass die meisten Menschen keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Viele müssen umziehen, weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen können. Und wenn auf diesen Wohnungsmarkt noch mehr Menschen hinzukommen, dann führt das zu einer weiteren Anspannung der Situation. Für die Ursachen dieses Problems können aber die Leute, die herkommen, nichts.

Das sagt auch keiner.

Doch, das höre ich von Rechtsaußen immer wieder. Unabhängig davon sind die Probleme, die durch Zuwanderung verschärft werden, aber real und nicht nur im Wohnungsbereich. Viele Gemeinden in Deutschland sagen längst, dass sie die derzeitigen Migrationszahlen nicht mehr stemmen können. Das ist ein Problem, wo es auf der einen Seite richtig wäre, die betroffenen Städte und Gemeinden mit mehr Geld auszustatten. Aber das allein wird nicht reichen. Ich sehe es so, dass unbegrenzte Migration nicht möglich ist.

Pressekonferenz zur Vereinsgründung im Oktober / dpa

Sind Sie trotzdem immer noch „generell gegen Abschiebungen“?

Nein, ich denke ganz ohne Abschiebungen geht es nicht. Man muss aber sehen, dass die aktuelle Abschiebepraxis teilweise vollkommen absurd ist. Dass zum Beispiel Menschen, die seit Jahren integriert sind, die hier friedlich leben und arbeiten, deren Kinder hier zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen, in Nacht-und-Nebel-Aktionen abgeschoben werden. Das geht wirklich nicht. 

Auch dass Menschen jahrelang in Asylverfahren festhängen und nicht wissen, ob sie nun bleiben dürfen oder nicht. Deshalb bin ich für eine humanistische Flüchtlingspolitik. Menschen, die neu zu uns kommen, brauchen schnellere Verfahren und damit eine schnelle Rechtssicherheit. Und wenn man dann zu dem Ergebnis kommt, dass jemand kein Bleiberecht hat, dann muss auch abgeschoben werden.

Da klangen Sie früher anders.

Die Situation hat sich in den Städten und Gemeinden in den letzten fünf Jahren stark verändert. Darum bewerte ich das heute auch anders.

Was halten Sie denn von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen?

Ich glaube, diese Verfahren sind notwendig. Wichtig ist, dass man dann Sorge trägt, dass es rechtsstaatliche und zügige Verfahren sind und Menschen nicht, wie jetzt unter schlimmen Bedingungen monate- oder gar jahrelang an den Grenzen oder in Lagern ausharren müssen. Diejenigen, die anerkannt werden, brauchen zudem einen sicheren Weg nach Europa. Aktuell haben wir ja die Situation, dass sich Menschen unter lebensgefährlichen Bedingungen auf den Weg machen. Unabhängig davon, ob sie ein Recht auf Asyl haben oder nicht. Das darf nicht sein.

Zurück zum Bündnis: Welche Leute hätten Sie denn gerne in Ihren Reihen?

Menschen, die unsere politischen Inhalte und Ziele teilen, die mit uns gemeinsam wirklich etwas verändern wollen.

Welche Leute wollen Sie nicht?

Alle, die das nicht tun. (lacht) Es ist ja so: Eine neue, eine junge Partei kann natürlich auch ein Anziehungspunkt für Leute sein, die nur aus egoistischen Motiven mitmachen wollen; zum Beispiel, um möglichst schnell irgendein Mandat abzugreifen, um sich finanziell abzusichern. Und es ist auch so, dass eine neue Partei auch Projektionsfläche sein kann für Leute, die alles Mögliche in uns sehen wollen, sich mit unseren Inhalten aber noch gar nicht beschäftigt haben.

Kommendes Jahr wird in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. Macht es strategisch Sinn, direkt bei allen drei Landtagswahlen anzutreten? Oder macht es mehr Sinn, erstmal Thüringen zu erobern, weil Frau Wagenknecht einen besonderen Bezug zum Bundesland hat?

Sinn würde es schon machen, bei allen drei Landtagswahlen anzutreten. Ob wir das organisatorisch hinbekommen, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht sagen. Man braucht ja nicht nur Landesverbände und gute Kandidaten, sondern auch die finanziellen Mittel, um Wahlkämpfe stemmen zu können. Aber wir wollen uns natürlich bundesweit etablieren. Da gehören die Landesparlamente dazu.

Aber das oberste Ziel ist der Bundestag?

Es ist ein wichtiges Ziel für uns, mit einem guten Ergebnis in den Bundestag einzuziehen. Auch das ist Teil der bundesweiten Etablierung.

Wenn Menschen ihre Partei aus Sympathie für Frau Wagenknecht wählen, wird Frau Wagenknecht trotzdem nicht gleichzeitig in allen Landtagen, im Bundestag und im EU-Parlament sitzen können. Das heißt, Sie müssen erstens Kandidaten finden, die Ihre Inhalte teilen, aber zweitens auch Kandidaten, die mit Sahra Wagenknecht identifiziert werden können.

Ja, das stimmt. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass uns das gelingen wird.

Wie viel Meinungspluralismus kann sich eine Partei nach innen leisten, die  nach einer einzelnen Politikerin benannt ist?

Wir sind eine demokratische Partei. Da muss und darf es natürlich Debatten und auch unterschiedliche Meinungen zu einzelnen Themen geben. Klar ist aber natürlich, dass wir politisch gemeinsam in die gleiche Richtung gehen müssen, dass wir die gleichen Grundsätze teilen und uns gemeinsam hinter unserem Parteiprogramm versammeln können. Verbitterte Lagerkämpfe und destruktive Selbstbeschäftigung, wie ich es bei der Linken erlebt habe, will ich für unsere neue Partei nicht. Und da sind wir uns auch alle einig. Wir haben eine große Verantwortung für unser Land. Das ist uns sehr bewusst.

Haben Sie trotzdem ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass Sie der Die Linke jetzt den Todesstoß versetzen?

Nein. Mit unserem Austritt sind wir tatsächlich ja der Aufforderung der Parteiführung gefolgt, die wieder und wieder forderte, Sahra und ihre Leute sollen bitte endlich gehen. Was das für die Linke nun bedeutet, wird man sehen, liegt aber ausschließlich in der Hand der Partei Die Linke. Ich jedenfalls freue mich auf die Aufgaben und Herausforderungen, die in der neuen Partei vor uns liegen.

Das Gespräch führte Ben Krischke. 

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