Bundestagswahlkampf - Olaf Scholz und die Selbstverzwergung der Union

Die SPD und ihr Kanzlerkandidat liegen in den Umfragen stabil vor der politischen Konkurrenz – obwohl die bisherige Bilanz von Olaf Scholz mehr als durchwachsen ist. Um wichtige Themen macht der 63-Jährige wohlweislich einen Bogen. Aber die Deutschen scheinen genau das an ihm zu schätzen.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Ginge es in Politik und Medien wenigstens vor wichtigen Entscheidungen weitgehend rational zu, hätte Olaf Scholz unverändert keine Chance auf das Kanzleramt. Seine Bilanz in den bisherigen Ämtern: durchwachsen über schwierig bis grottenschlecht. Sein Programm: hochgefährlich für die Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung und für das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Sein Standing in der eigenen Partei: 45,3 Prozent von 100, als es um den Vorsitz ging. Seine jüngste Reaktion auf die Razzia im eigenen Ressort: ein dicker Hund, normalerweise ausreichend, einen Finanzminister an sensibelster Stelle in höchste Erklärungsnot zu bringen.

Aber die Umstände sind nicht normal. Nachdem Deutschlands Leitmedien ihren Traum von einer Grünen als Kanzlerin nach der zehnten Peinlichkeit endlich beerdigen mussten, brauchten sie keine 48 Stunden, um ohne jede Absprache auf ihren Plan B umzuschalten: Dann eben der Olaf. Vielleicht gar nicht so schlecht. Schlumpfige Schale, harter Kern. Denn Olaf Scholz bietet immer noch die größte Gewissheit, einen schrecklichen Bruch mit der Ära Merkel zu vermeiden, nachdem sich Armin Laschet hier unentschlossen gezeigt hat und als unsicherer Kantonist abgestempelt wurde. Die Aussicht auf einen SPD-Fraktionschef Kevin Kühnert findet man in vielen Funkhäusern und Chefredaktionen mindestens ebenfalls „spannend“. Das entschädigt locker für den (vorläufigen) Abschied vom grünen Traum.

Nur die Machttechnik zählt

Wenn Olaf Scholz eines von der Amtsinhaberin in 16 Jahren gelernt hat, dann dies: Wichtig ist es alleine, machttechnisch alles richtig zu machen. Dann kommt es auf die konkreten Ergebnisse der eigenen Politik gar nicht mehr an. Die Wähler sollen ein gutes Gefühl mit dem Kandidaten erhalten. Dass der nächste Kanzler der Bevölkerung zumindest die schlimmsten Krisen und ihre Folgen irgendwie vom Hals halten und Konflikte nach dem Modell Merkel mit Geld zuschütten wird – wie unrealistisch diese Option demnächst auch noch sein mag. Ist das erst einmal gewährleistet, spielen Skandale und Affären bis hin zu den Millionen- und Milliardenverlusten von Warburg-Bank und Wirecard unter den Augen von Scholz keine entscheidende Rolle mehr. 

Ähnlich miserabel seine Rolle seinerzeit als Hamburger Innensenator und später Erster Bürgermeister: Die Vorbereitungen der islamistischen Terrorzelle auf den 11. September 2001 vor seiner Haustür blieben komplett unbemerkt, was Deutschlands Verhältnis zu den USA bis heute schwer schadet. Und den G20-Gipfel vor vier Jahren mit seinen bürgerkriegsähnlichen Zuständen hatte er zuvor mit einem Hafengeburtstag verwechselt. 

Olaf Scholz grinst das weg mit einem minimal abgewandelten „Sie kennen mich“ und der Merkel-Raute. Damit bringt er die Konkurrenz zur Weißglut, die unschlüssig war und ist, wie sie mit dem Erbe dieser Frau und dieser Ära umgehen soll. Ein Vakuum, das der Sozialdemokrat dankend ausfüllte, bis es zuletzt selbst der Inhaberin der Markenrechte im Bundestag zuviel wurde. Was er noch zum Kompliment umzudeuten verstand.              

Um die Themen, die die Menschen vor dieser Bundestagswahl tatsächlich besorgen und umtreiben, macht der 63-Jährige einen möglichst großen Bogen. In Sachen Corona neigt er an geraden Tagen zu einem strengen Kurs, erinnert an ungeraden aber an die Notwendigkeit von Augenmaß und Ausgewogenheit und erweckt den Eindruck, einen weiteren Lockdown werde es mit ihm nicht geben. 

Den gefährlichen Anstieg der Inflationsrate erwähnt er nur, wenn er direkt darauf angesprochen wird („kein allzu großes Problem – nächstes Jahr alles wieder im Lot“), um gleichzeitig mit einem riesigen Anstieg der Neuverschuldung sowie weiterer ungebremster Verteuerung von Benzin, Strom, Gas und Diesel alles zu tun, um eben diese noch zu befeuern.

Unklare Haltung zu Asyl und Migration

Wenig greifbar auch die Position des SPD-Kanzlerkandidaten zu Asyl und Einwanderung. Zwar hätten Straftäter mit Abschiebung zu rechnen (ohne dass Scholz diesen Begriff in den Mund nähme). Syrer müssen nach seinen Worten aber ein dauerhaftes Bleibe- und Integrationsrecht erhalten. Generell habe sich Deutschland verantwortlich zu fühlen „auch für die  Flüchtlinge anderswo in der Welt“. 

Eine Bevölkerung, die nicht einmal aufmuckt, wenn Afghanistan und seine Taliban (Außenminister Maas neulich noch: „keinen Cent“) mal eben mit 600 Millionen Euro fresh money aus Deutschland gepampert werden sollen – mit der kann man, so der fatale Lernanreiz für die führenden Sozialdemokraten, wirklich alles machen.   

Die größten Risiken droht dem Land jedoch durch einen Bundeskanzler Scholz, der kein Problem damit hat, den Vertrag von Maastricht vollends in die Tonne zu treten, auch die letzten Barrieren einzureißen – jüngster Vorwand: Corona-Wiederaufbau – und Europa als Schuldenunion zu realisieren, die Schulden der Banken („Bankenunion“) gleich inbegriffen. Das immerhin sagt er auch ganz offen. 

Kein Plan hat mehr Potential als dieser, das Vertrauen in unsere parlamentarische Demokratie und die Glaubwürdigkeit unserer politischen und medialen Klasse gründlicher zu zerstören. Weder von der EU-Kommission noch von der Europäischen Zentralbank ist hier noch Widerstand zu erwarten. Im Gegenteil: Emmanuel Macron und Angela Merkel haben mit ihrer Personalpolitik längst ganze Arbeit geleistet. Olaf Scholz wäre nur noch das fehlende Puzzleteil. Verkauft werden soll uns das dann als „überfällige Vertiefung der Union“.

Anders als Armin Laschet und Annalena Baerbock ist es Scholz gelungen, den Eindruck zu erwecken, als wolle er nicht nur „Kanzler“, sondern könne es auch – was immer das im Ergebnis dann bedeuten werde. Damit ist es seiner Partei gelungen, einen Mann nach vorne zu stellen, der – zur eigenen Verblüffung inzwischen als einziger – nach allgemeiner Wahrnehmung beide notwendigen Bedingungen, „will“ und „kann“, für eine Siegchance erfüllt. 

Wenn die SPD-Funktionäre eines aus den Jammertälern der Jahre nach 2005 und den Niederlagen von Steinmeier, Steinbrück und Schulz gelernt haben, dann dieses: Wenigstens in der Kandidatenfrage kommt es nicht auf die eigenen Befindlichkeiten an, sondern auf Massenwirksamkeit und Persönlichkeit. Eine Lehre, die die CDU vom Jahr 1998 mit einem chancenlosen Helmut Kohl eigentlich noch kennen sollte, nun aber erneut schmerzhaft zu verinnerlichen hat.

Versteckt in der Besenkammer

Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans mögen keine großen intellektuellen Leuchten sein – als es aber um die Macht und die eigenen verbliebenen Karrierechancen ging, sprangen sie über ihre eigenen Schatten. Was gar nicht so schwer war, denn niemand weiß besser als sie: Olaf Scholz ist nicht die SPD. Das ganze Personal aus der ersten und zweiten Reihe mag zwar im Moment aus leninistischer Disziplin den Mund halten, aber sie werden am Wahlabend um 18.01 Uhr so sicher wieder hochpoppen wie eine Windows-Warnung nach gescheitertem Update. 

Dieser Moment wird sie entschädigen für die ganzen Wochen der stummen Verbannung in die Besenkammer der ältesten Partei Deutschlands, damit sie keinen öffentlichen Schaden anrichten. Bisher ist das äußerst gut gelungen. Und man mache sich auch in weiterer Hinsicht nichts vor: Sollte sich für Scholz mit dem 20. Deutschen Bundestag eine Möglichkeit ergeben, Kanzler zu werden, wird er sie nutzen – und sei es mit einer Stimme Mehrheit. 

Die Linke, sofern überhaupt wieder im Parlament vertreten, wird derart geschwächt sein, dass sie vom 27. September an gar nicht mehr weiß, wie „Nato“ geschrieben wird, und auch sonst jede Zumutung hinnehmen. Hauptsache, endlich im Bund mitregieren, weil die verbliebene Wählerschaft Dauer-Opposition, also selbstverordnetes Zuschauer- und Besserwissertum, endgültig nicht länger als Konzept zu akzeptieren bereit ist. 

Schwieriger wird es mit den Grünen. Aber hier wird spätestens die Basis jede Jamaika-Lösung zu verhindern versuchen, wenn Rot-Grün-Rot als Alternative lockt.

Ampel oder nicht?

Das alles wiederum bedeutet für die FDP: Sobald sie von Olaf Scholz vor die Wahl gestellt wird, eine Ampel-Koalition zu ermöglichen, weil nur sie und nur so Rot-Grün-Rot verhindern könnte, wird Christian Lindner mindestens Sondierungen nicht mehr ausweichen können. Wissend, dass Scholz und damit auch er selbst es mit einer SPD-Bundestagsfraktion zu tun haben werden, die nach dem Ausscheiden einer ganzen Reihe pragmatischer Genossen noch einmal deutlich linker ticken wird als die alte. 

Daraus wiederum folgt: Die FDP läuft in dieser noch theoretischen, aber mit jedem Tag wahrscheinlicheren Konstellation Gefahr, von Scholz als Mittel zum Zweck missbraucht zu werden, die Linke zu bändigen, um am Ende wie schon 2017 erneut mit leeren Händen dazustehen. Und das alles, weil sich die Union – so dieses Szenario – durch die Bestimmung eines wenig geeigneten Kandidaten selbst verzwergt hat.

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