Bundestag ehrte Missbrauchs-Täter - Irrwege des Gedenkens

Letzte Woche wurde bekannt, dass der Bundestag beim Holocaust-Gedenken im Jahr 2023 einen wegen Missbrauchs verurteilten Mann geehrt hat. Wie sich nun herausstellt, war das kein Versehen. Die Öffentlichkeit wurde bewusst getäuscht.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas spricht am 27. Januar 2023 zum Holocaust-Gedenktag / dpa
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Autoreninfo

Dr. Alexander Zinn (Foto Katja Pietrusky) ist Historiker und forscht zur Verfolgung Homosexueller. 2018 erschien seine Monographie „Aus dem Volkskörper entfernt? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus“. Für das Dresdner Hannah Arendt Institut und das Frankfurter Fritz Bauer Institut entstanden überdies Regionalstudien zur Situation Homosexueller in der NS- und in der Nachkriegszeit. Von 2008 bis 2023 war Zinn Mitglied im Internationalen Beirat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

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Vor einem Jahr gedachte der Deutsche Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar der homo- und transsexuellen Menschen, die während der NS-Zeit ausgegrenzt, diskriminiert und zum Teil auch strafrechtlich verfolgt und in Konzentrationslager deportiert wurden. Damit stellte man „eine Opfergruppe in den Mittelpunkt, die lange um Anerkennung kämpfen musste“, so Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Für „unsere Erinnerungskultur“ sei es aber „wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen“. 

Für die Opfergruppe schwuler Männer wurde der Auschwitz-Überlebende Karl Gorath geehrt. Doch dabei blieben entscheidende Aspekte unerwähnt: Wie vergangene Woche bekannt wurde, war Gorath nicht wegen einvernehmlicher Homosexualität mit Männern verurteilt worden, sondern wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen

Nun hat der Historiker Lutz van Dijk, der die Gedenkfeier initiiert und in langjähriger Lobbyarbeit durchgesetzt hatte, eingeräumt, dass ihm die Missbrauchsvorwürfe bekannt waren. Dennoch verschwieg er sie in der von ihm verfassten Gedenkrede – eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit. Weiterhin offen ist die Frage, warum das Bundestagspräsidium van Dijks Konzeption trotz verschiedener Warnzeichen übernahm.

„Unzüchtige Handlungen“ mit Kindern

Die Warnzeichen waren eigentlich unübersehbar: Lange war bekannt, dass Gorath zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden war, die er in Celle verbüßt hatte. Zuchthausstrafen wurden jedoch nicht in Fällen „einfacher“ Homosexualität nach § 175 verhängt, sondern dann, wenn es um „qualifizierte“ Homosexualität nach § 175a ging, so insbesondere um die „Verführung“ Jugendlicher. Warum wurde hier also das Naheliegende unterlassen: eine Anfrage beim Landesarchiv Niedersachsen? 

Eine solche hätte Goraths Zuchthaus-Akte zutage gefördert, die seine Vorstrafen en detail dokumentiert. Demnach war Gorath 1934 erstmals verurteilt worden: nach § 176 wegen „unzüchtiger Handlungen“ mit Kindern. Seit 1931 hatte der damals 18-Jährige im Christlichen Verein Junger Männer mit „mehreren noch nicht 14 Jahre alten Schülern wechselseitige Onanie betrieben“. Überdies hatte er „die Kinder zum Teil auch zwischen den Oberschenkeln und in dem After gebraucht“. Überdies hatte man ihn damals wegen Verleumdung bestraft, weil er einen Schulleiter, der ihn offenbar angezeigt hatte, seinerseits der Homosexualität bezichtigte. 

 

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Es folgte eine Verurteilung wegen Unterschlagung und Betrugs, bevor Gorath dann 1939 erneut ins Visier der Polizei geriet: In einem Versorgungsheim, in dem er als Krankenpfleger arbeitete und auch Jugendliche beaufsichtigte, hatte er einen 15-Jährigen sexuell bedrängt. Wie sich im Zuge des Verfahrens herausstellte, hatte er auch noch andere ihm anvertraute Jugendliche belästigt. Das Landgericht Verden verurteilte ihn schließlich wegen „Verführung“ Jugendlicher nach § 175a zu insgesamt drei Jahren Zuchthaus. Die Strafe fiel auch deswegen so hart aus, weil Gorath das zwischen ihm und den Jugendlichen bestehende „Autoritätsverhältnis“ in den Augen des Gerichts „schmählich missbraucht“ hatte.

Der Historiker wirft Nebelkerzen

All dies hätte man wissen können. Und Lutz van Dijk wusste es auch, wie er nun in einem Beitrag für Welt online offenbart hat. Dennoch verschwieg er die Missbrauchsvorwürfe. Lieber stilisierte er Gorath zu einem Märtyrer, der angeblich wegen einvernehmlicher Homosexualität nach § 175 verurteilt wurde, weil er sich „mit anderen Männern“ getroffen hatte. Die Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs verharmloste er in der von Jannik Schümann vorgetragenen Gedenkrede im Bundestag mit der Formulierung: „Zwei Jungen eben …“. Als wäre Gorath zum Zeitpunkt der Taten selbst noch ein Kind gewesen. 

Van Dijk rechtfertigt sich jetzt, indem er Nebelkerzen wirft: So erklärt er, die NS-Justiz sei gleichgeschaltet gewesen, weshalb es sich bei Missbrauchsvorwürfen bloß um „nationalsozialistische Narrative“ handele. Mehr noch: Van Dijk behauptet, Kindesmissbrauch sei nicht mehr als ein „historisches Stereotyp“, das es zu „demaskieren“ gelte. Damit macht er es sich allerdings zu einfach. 

Reale Missbrauchsfälle sollen vertuscht werden

Richtig ist, dass über Homosexuelle viele Vorurteile im Umlauf waren – auch schon vor 1933. Dazu zählte unter anderem die Vorstellung vom schwulen „Knabenschänder“. Das heißt aber nicht, dass es keinen sexuellen Missbrauch durch Homosexuelle gegeben hätte. Wer glaubt, man könne Vorurteile bekämpfen, indem man reale Missbrauchsfälle vertuscht oder schönredet, ist auf dem Holzweg. Vielmehr liefert man damit nur die Munition für all jene, die Homosexuelle als „Kinderficker“ diffamieren.

Letztlich kommt auch Lutz van Dijk nicht daran vorbei, einzugestehen, dass Gorath Sex mit Kindern und Jugendlichen hatte. Im nächsten Moment spekuliert er aber schon wieder, ob dieser nicht auf „Wechselseitigkeit“ beruht haben könnte. Womit er wohl sagen will, der Sex könnte einvernehmlich gewesen sein. So relativieren auch Missbrauchstäter ihr Handeln

Doch Sexualkontakte mit Kindern und mit Jugendlichen in Abhängigkeitsverhältnissen sind immer strafbar, egal ob „wechselseitig“ oder nicht. Dafür gibt es gute Gründe, und mit „NS-Gedankengut“ hat das nichts zu tun. Insgeheim weiß das auch Lutz van Dijk. Sonst hätte er die Missbrauchsvorwürfe nicht verschwiegen.

Ambivalente Aspekte von Opferbiografien 

Zu seiner Verteidigung führt van Dijk überdies an, die Gedenkstunde des Bundestages sei nicht von ihm allein konzipiert worden. Vielmehr habe ein „politisch unabhängiger Arbeitskreis von zehn Experten und Expertinnen sowie Aktivisten und Aktivistinnen einen Vorschlag fürs Bundestagspräsidium“ erarbeitet. Auch die von ihm verfassten Redetexte seien „von ausgewiesenen Historikern und Historikerinnen kritisch vorab gegengelesen“ worden. 

Das allerdings macht die Sache nicht besser, sondern wirft nur neue Fragen auf: Wie kann es sein, dass „ausgewiesene Historiker“ Goraths Verurteilungen wegen Kindesmissbrauchs übersahen? Und was läuft im Bundestagspräsidium falsch, wenn man sich allein auf „Experten und Expertinnen sowie Aktivisten und Aktivistinnen“ verlässt, denen es offenbar so schwer fällt, über den „queeren“ Tellerrand zu schauen, dass sie die Brisanz des Falles Gorath nicht erkennen können? 

Kritik hat es zur Genüge gegeben

Die Debatte über die schwule und lesbische Erinnerungskultur ist nicht neu. Im Gegenteil: Kritik hat es in den vergangenen Jahren zur Genüge gegeben. So insbesondere an der Tendenz zur Übertreibung und Dramatisierung der NS-Verfolgung Homosexueller. Und an der Neigung, bei der Aufarbeitung von Opferbiografien „unschöne“ Aspekte auszublenden. 

Überdies ist der Fall Gorath nicht der erste, bei dem sexueller Missbrauch verschleiert wurde. Schon vor 30 Jahren hatte das Schwule Museum den KZ-Überlebenden Heinz Dörmer in einer Ausstellung als ein „Opfer nazistischer Strafwillkür“ inszeniert und den eigentlichen Verfolgungsgrund vernebelt: Auch Dörmer war wegen Kindesmissbrauchs vorbestraft.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte in der Gedenkstunde am 27. Januar 2023 gefordert, wir müssten „in der Erinnerungskultur neue Wege gehen“. Doch der von ihr gewählte Weg hat sich als ein Irrweg erwiesen. Die ambivalenten Aspekte von Opferbiografien einfach unter den Teppich zu kehren, ist keine Lösung. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Deportation in Konzentrationslager war immer Unrecht, egal aus welchen Gründen sie geschah. Im Gedenken jedoch kann man nicht einfach ignorieren, dass einige NS-Opfer zuvor selbst Täter waren.

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