Boris Palmer und der Schutz der Corona-Risikogruppen - „Das Erheben über den schwedischen Weg ist a bisserl arrogant“

Im Mai fiel Boris Palmer noch bei den Grünen in Ungnade, weil er sagte, die Bundesregierung rette in der Coronakrise alte Menschen, die sowieso bald tot wären. Jetzt profiliert sich Tübingens OB als Retter der Rentner. Was ist da passiert?

Das schwarze Schaf der Grünen: Boris Palmer / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Boris Palmer ist studierter Mathematiker und seit 2007 grüner Bürgermeister von Tübingen.  

Herr Palmer, Ihre Mutter lebt in einem Pflegeheim in Tübingen. Wie geht es ihr? 
Zum Glück ist sie gut aufgehoben, ich hoffe, das bleibt so. Wir haben sie vorübergehend in der Kurzzeitpflege untergebracht. Bevor ich sie besuche, mache ich immer einen Schnelltest.

Um alte Menschen in Tübingen vor Covid-19 zu schützen, bieten Sie einiges an, was es woanders nicht gibt: Ein kostenloses Taxi für über 65-Jährige, Sonderöffnungszeiten für Senioren, frei verfügbare FFP2-Masken oder Selbsttests in Alten- und Pflegeheimen. Woher rührt Ihr Engagement für die Alten? 
Ehrlich gesagt, aus mathematischen Überlegungen. Und ich habe schon im April aus den Daten aus Spanien und Italien eindeutig geschlossen, dass das Virus extrem altersdiskriminierend ist und dass wir für diejenigen, die am stärksten gefährdet sind und für die Gesellschaft als ganze das Richtige tun, wenn wir besondere Schutzanstrengungen für die Alten unternehmen. 

Wie werden diese Angebote denn angenommen?
Unterschiedlich. Das Einkaufszeitfenster ist wahrscheinlich am wenigsten beachtet worden. Dagegen haben die kostenlosen Masken eine Dankeswelle ausgelöst. Sie werden auch weiterhin rege nachgefragt. Wir verteilen die ja an viele Hilfsbedürftige auch dauerhaft. Und die Schnelltests sorgen mittlerweile für lange Schlangen auf dem Marktplatz. 

Die Stadt lässt sich das eine halbe Million Euro kosten. Zahlen Sie das eben mal so aus der Portokasse?
Die Haushaltsmittel hat der Gemeinderat einstimmig bewilligt. Hier geht es ja um den Schutz von Leben und den Schutz der Intensivstationen vor Überlastung. Dafür ist eine halbe Million wieder gar nicht so viel im Vergleich zu dem, was Bund und Länder sonst für Schließungsmaßnahmen ausgeben.  

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Die Sonderöffnungszeiten für Senioren hatten Sie schon im Frühjahr gefordert. Kritiker wie der Landesseniorenbeirat warfen Ihnen vor, Sie würden alte Menschen diskriminieren. 
Das haben die mir auch vorgeworfen wegen der kostenlosen Taxis. Das ist einer der Gründe, warum wir in Deutschland so wenig unternommen haben, um die Risikogruppe zu schützen: die Verwechslung von Differenzierung und Diskriminierung. Gleiches unterschiedlich zu behandeln, ist Diskriminierung. Ungleiches gleich zu behandeln, ist aber falsch. Statistiken belegen, dass in Deutschland 90 Prozent der Todesfälle die über 65-Jährigen treffen. Das Risiko, mit über 80 an Corona zu sterben, ist über 500 mal höher als mit unter 40. Wer sagt, für die über 80-Jährigen reiche der gleiche Schutz aus wie für die unter 40-Jährigen, der macht etwas grundlegend falsch. 

Als wir das letzte Mal telefoniert haben, haben Sie noch Morddrohungen bekommen, weil Sie im SAT.1-Frühstücksfernsehen den Satz gesagt hatten: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem Jahr sowieso tot wären, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankung.“ Ist das, was Sie jetzt als Tübinger Weg verkaufen, eine Art Wiedergutmachung?  
Nee, das habe ich in dem gleichen Interview eine Minute vorher auch schon gesagt, dass wir das machen müssen, weil es mir nie darum ging, die alten Menschen nicht zu retten – sondern darum, sie zu retten, ohne in Kauf zu nehmen, dass in anderen Ländern der Welt so viele Kinder sterben müssen. Und das wäre möglich, wenn wir anstelle eines undifferenzierten Lockdowns, der mittlerweile große Teile der Welt in bittere Armut und Überlebensnot stürzt, effektivere und zielgenauere Maßnahmen ergreifen. Dafür habe ich damals schon plädiert. Kontaktverfolgung mit High Tech und Schutz der Risikogruppe statt Lockdown. Ich bin aus dieser Überzeugung an dem Thema drangeblieben und habe alles versucht, soweit ich da was tun kann.  

In einem Gastbeitrag für die Welt haben Sie Tübingen als „gallisches Dorf“ beschrieben, dass sich dem Schutz besonders gefährdeter Personen verschrieben hat. Dazu gehören aber nicht nur über 65-Jährige, sondern auch ganz junge Menschen mit entsprechenden Vorerkrankungen. Wiegen Sie die Bevölkerung nicht in einer irrigen Sicherheit, wenn Sie sich nur auf die Alten fokussieren
Nee, ich mache das mathematisch Richtige. Einer der großen Irrtümer in der Pandemie-Diskussion ist, 27 Millionen Menschen der Risikogruppe zuzuordnen aufgrund aller möglichen Vorerkrankungen. Das ist falsch. In der Statistik der Todesfälle sind die Vorerkrankungen schon drin, und trotzdem hat man diese extreme Altersdiskriminierung mit einer hohen Konzentration der über 65-Jährigen. In der Risikogruppe der unter 40-Jährigen sind bisher erst 30 Menschen gestorben. 

Wieviel Intensivbetten sind denn in Tübingen mit Corona-Patienten belegt?
10, im April waren es zu Hochzeiten über 30. 

Und sonst geht das Leben normal weiter?
Wir setzen natürlich die Corona-Verordnung des Landes 1:1 um, Gastronomie und Kultur sind geschlossen. Dabei ist vieles unnötig, weil gar kein Infektionsrisiko besteht. Wenn sich in unserer Kunsthalle auf 1.300 Quadratmetern zehn Leute Kunstwerke angucken, da passiert gar nix. Aber die ist trotzdem zu. 

Inwiefern schränkt Sie die Pandemie im Alltag persönlich ein?
Am stärksten beim täglichen Mittagessen. In meinem eng getakteten Berufsalltag war es bisher normal, dass ich jeden Tag in einem Tübinger Restaurant zu Mittag gegessen habe. Das muss ich mir jetzt selbst organisieren. Mal koche ich selbst, mal gibt’s eine Currywurst mit Christian Lindner oder ein Brötchen. 

Alte und Vulnerable zu schützen, das gesellschaftliche Leben aber sonst möglichst ungestört weiterlaufen zu lassen, das nennt man in Europa den schwedischen Weg. Der PR-Mann Boris Palmer hat „schwedisch“ einfach durch „Tübinger“ ersetzt. Ist das nicht Etikettenschwindel?
Nein, anders als die Schweden setzen wir ja auch die Maskenpflicht 1:1 um. Der Unterschied zwischen Schweden und Tübingen ist nach wie vor riesig. 

Der schwedische Weg gilt inzwischen als gescheitert. Gemessen an der Gesamtbevölkerung, sind in kaum einem anderen europäischen Land mehr Menschen an und mit dem Virus gestorben. Setzen Sie da nicht aufs falsche Pferd? 
Ich glaube, das muss man den Schweden auch erstmal zugestehen, dass man das erst am Ende weiß, wer die richtige Strategie gewählt hat. Ob die Strategie der Bundesregierung so klug war mit diesem Teil-Lockdown, der uns extrem hohe Kosten gebracht hat, aber keine Reduktion der Fallzahlen und zu totalen Ermüdungserscheinungen in der Bevölkerung geführt hat? Da kann man ein Fragezeichen setzen. Ich finde dieses Erheben über Schweden a bisserl arrogant. 

Wir haben Ihr Konzept mal von dem Epidemiologen Ulrich Mansmann prüfen lassen. Er sagt, größter Schwachpunkt ist das Herzstück Ihres Konzeptes, die Schnelltests in den Heimen. Die haben nur eine Zuverlässigkeit von 60 Prozent. Das heißt, von drei Infizierten, die ein Heim besuchen wollen, rutscht einer durch, weil er als Infizierter nicht erkannt wird
Der Hersteller verspricht 90 Prozent Sicherheit. Selbst wenn Ihr Epidemiologe Recht hat, fischen wir immer noch zwei Drittel der Leute heraus, die sich infiziert haben. Besser als nichts. 

Mit einer Inzidenz von etwas mehr als 100 steht Tübingen zwar im Landes- und erst recht im Bundesvergleich gut da, es gibt aber noch bessere Städte wie Freiburg. Nun ist die Stadt eine Universitätsstadt. Liegt das gute Ergebnis nicht vielleicht einfach daran, dass in Tübingen mehr gebildete Bürger leben, die die die Sinnhaftigkeit der Schutzmaßnahmen begreifen und sich auch daran halten? 
Das kann durchaus sein. Tübingen ist ohne Frage eine tolle Stadt. Wir haben ein Labor in der Stadt, das PCR-Tests innerhalb von 12 Stunden auswerten kann. Wir haben beim Deutschen Roten Kreuz eine extrem engagierte Notärztin, die die Schnelltests organisiert hat. Das ist ein Gemeinschaftswerk. Dazu gehört auch, dass die Bevölkerung mitmacht. Deswegen waren unsere Appelle auch erfolgreich. Wir haben unsere Strategie wiederholt auf halbseitigen Zeitungsanzeigen kommuniziert. Es kann natürlich auch sein, dass da eine Portion Glück mit dabei war. 

Boris Palmer als Retter der Rentner, in dieser Rolle hat man Sie bislang noch nicht erlebt. Was sagen denn die Grünen zu Ihrem neuen Image?
Bisher hat mich da noch niemand kontaktiert.  

Nach dem Shitstorm wegen des Sat.1-Zitats hat Ihnen die Parteispitze jede weitere Unterstützung entzogen. Grünen-Chefin Annalena Baerbock sagte, bei einer erneuten Kandidatur in Tübingen bekämen Sie weder finanzielle noch logistische Unterstützung von der Partei. Ihre Amtszeit als Bürgermeister geht noch bis 2022. Bereiten Sie sich jetzt mental schon auf den politischen Ruhestand vor? 
Nein, ich bin nach wie vor sehr tatkräftig und engagiert. Wir haben vor drei Wochen das deutschlandweit ehrgeizigste Klimaschutzprogramm beschlossen. Bis 2030 wird Tübingen klimaneutral. Ich hab vor, mich da weiter einzubringen. Das letzte Wort hat übrigens auch nicht die Partei, sondern die Wähler. 

Sie wollen ein weiteres Mal kandidieren?
Bis 2022 sind es noch zwei Jahre. Zu früh, um mich festzulegen. Im Moment macht mir die Arbeit Spaß. Ich habe gerade einen Kommentar des früheren Staatsministers von Winfried Kretschmann auf meiner Facebook-Seite gelesen.

Was hat er geschrieben?
Man solle Politiker an ihrer Wirkungsgeschichte messen, und bei Wohnungsbau, Verkehr, Klimaschutz und Coronabekämpfung sei ich einer der besten, den die Grünen zu bieten hätten. Das hat mich gefreut, das zu lesen. 

Im Frühjahr sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Sie galten mal als potenzieller Nachfolger für Winfried Kretschmann. Wenn man Sie so reden hört, bringen Sie sich jetzt gerade in Stellung, 
Nein, wenn jemand gerade den Stuhl so vor die Tür gesetzt bekommen hat wie ich, wäre es vermessen zu glauben, dass er einen Tag später von der Partei aufs Schild gehoben wird. So illusionär bin ich nicht unterwegs. 

Ach, kommen Sie. Der Job würde Sie schon reizen. 
Wer als politischer Mensch behauptet, dass ihn das Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg nicht reizen würde, der ist wahrscheinlich ein Lügner. Aber ich weiß, dass mein Platz im Tübinger Rathaus ist. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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