Eklat um Boris Palmer - Von falschen Judensternen und falschen Nazis

Boris Palmer trägt keinen Judenstern, er ist aber auch kein Vertreter einer rassistischen Ideologie, die das jüdische Volk ausrotten wollte. Wer absurde Nazi-Vorwürfe gegen Palmer erhebt, kann ihm nicht gleichzeitig vorwerfen, den Holocaust zu relativieren.

Boris Palmer ist bei den Grünen ausgetreten / picture alliance
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Autoreninfo

Gideon Böss ist Roman- und Sachbuchautor und hat unter anderem über Religionen in Deutschland und Glücksversprechen im Kapitalismus geschrieben.

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Nein, Boris Palmer trägt keinen Judenstern. Er ist keine entrechtete Minderheit, die ein Staat zur Vernichtung freigegeben hat und alles dafür tut, dieses Ziel zu erreichen. Dass er sich selbst so sieht, ist ebenso absurd wie lächerlich und brachte ihm den Vorwurf der Holocaustrelativierung ein. Immerhin hat er mittlerweile eingesehen, wie falsch er lag. Da er zugleich eingestand, rhetorisch immer wieder rote Linien zu überschreiten und sich danach zerknirscht zeigte, könnte für eine Art von Läuterungsprozess sprechen. 

Kann damit dieser Eklat am Rande einer Migrationskonferenz als erledigt angesehen werden? Eigentlich nicht. Denn da war ja noch etwas, außer Palmers imaginärem Judenstern. Da gab es die Demonstranten, die ihn als Nazi beschimpft hatten. Es ist erstaunlich, dass diese Grenzüberschreitung in der medialen Beschäftigung praktisch keine Rolle spielt, als hätten sie ihn einfach nur „Idiot“ genannt. Dabei ist diese unbekümmerte Art, politische Gegner als Nazis zu bezeichnen, der eigentliche Dammbruch, der in den letzten Jahren so oft passierte, dass vom Damm nicht mehr viel übrig ist.

Trotzdem grölen seine Gegner: Nazi!

Boris Palmer trägt keinen Judenstern, er ist aber auch kein Vertreter einer rassistischen Ideologie, die das jüdische Volk ausrotten wollte und einen Vernichtungskrieg in Osteuropa geführt hat. Bemerkenswert, dass so etwas überhaupt klargestellt werden muss. Stattdessen ist er Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt und sieht eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, die Energiewende möglichst schnell voranzubringen. Ein ideologischer Schwerpunkt, der sich doch ein wenig vom Traum eines arischen Endsiegs unterscheidet. Macht aber nichts, trotzdem grölen seine Gegner: Nazi!
 

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Auf eben diese Weise verliert der Begriff seine Bedeutung. Jemand ist für mehr Ukrainehilfe: Nazi. Jemand ist für weniger Ukrainehilfe: Nazi. Jemand will das Kindergeld kürzen: Nazi. Jemand ist gegen das AKW-Aus: Nazi. Dieser Vorwurf hat schlicht nichts im friedlichen Streit innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft zu tun, die Kompromisse aushandelt und sich so immer wieder erneuert. Man kann nicht Boris Palmer vorwerfen, den Holocaust zu relativieren, weil er einen eingebildeten Judenstern trägt, aber der Meinung sein, dass dieser Maßstab nicht auch angelegt werden muss, wenn absurde Nazi-Vorwürfe erhoben werden. In Frankfurt hatten an diesem Tag also beide Seiten die NS-Verbrechen relativiert, aber nur Palmer wurden es vorgeworfen.  

„Nazi!“ – „Selber Nazi!“

Dabei könnte ihm zumindest noch zugutegehalten werden, dass nicht er den rhetorischen Diskursrahmen gesetzt hat, sondern von der Gegenseite von Beginn an als Nazi bezeichnet wurde und schließlich auf dieses unterirdische Niveau einstieg. Seine Gegner hingegen scheinen ein rein taktisches Verhältnis zu den Verbrechen der Nazis zu haben, wenn sie es für legitim halten, einen demokratischen Politiker auf diese Weise anzugehen und offenbar kein anderes Niveau als das der Verunglimpfung und Niedertracht zu kennen.  

Während die Empörung über Palmer also über alle politischen Grenzen hinweg einhellig war, wurden die vorausgegangenen Beschimpfungen nicht beanstandet. Das entspricht einem generellen Trend, nach dem die Relativierung nicht per se problematisch ist, sondern vom dahinterstehenden Motiv abhängt. Wer auf der richtigen Seite steht, darf es recht frei einsetzen. Die Empörung setzt erst ein, wenn die Falschen einen absurden historischen Bezug herstellen. Genau das ist im Falle Boris Palmers passiert. Eigentlich trafen in Frankfurt zwei Seiten aufeinander, die sich beide „Nazi!“ – „Selber Nazi!“ an den Kopf warfen, während das medial aber nur einer Seite übelgenommen wurde. 

Nur echte Nazis profitieren

Dieser Doppelstandard ist bezeichnend für den Umgang mit der Nazizeit und der Frage, wann Verweise auf jene Epoche angemessen sind. Gerade weil der Begriff durch seinen inflationären Gebrauch ausgehöhlt wird, verliert er zunehmend seine eigentliche Bedeutung. Längst wird er gegen politische Gegner gerichtet, gegen Parteien, Unternehmen und sogar – als perfideste Verdrehung – gegen den jüdischen Staat Israel.

Im Internet wiederum ist die Hemmschwelle, andere als Nazi zu bezeichnen, ohnehin längst nicht mehr vorhanden. Für eine Gesellschaft, die mit gutem Grund immer aufmerksam bleiben muss, was ein tatsächliches Erstarken des Nationalsozialismus angeht, ist das eine beunruhigende Entwicklung. Um vor einer Gefahr warnen zu können, muss sie erkannt werden können. Wenn aber alle Nazis sind, ist keiner ein Nazi. Davon profitiert niemand, außer echte Nazis. 
 

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