Antidiskriminierungsbeauftragte will Beweislast umkehren - „Eine Verletzung der Gewaltenteilung“

Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, will den Nachweis für Benachteiligung erleichtern. Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler erklärt im Interview, warum Atamans Vorschläge grundgesetzwidrig sind.

Reformvorschläge aus Aktivistenperspektive: Ferda Ataman / dpa
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York Herder ist ausgebildeter Journalist und hospitiert derzeit bei Cicero.

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Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

Herr Boehme-Neßler, um den Nachweis von Diskriminierung zu erleichtern, soll es nach einem Reformvorschlag der Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman in Zukunft reichen, einen Vorfall glaubhaft zu machen, sodass „die überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt“, um die Diskriminierung oder Belästigung zu belegen. Was würde das bedeuten? 

Normalerweise müssen Sie etwas beweisen, wenn Sie etwas einklagen wollen. Ein Beispiel: Wenn Sie mich auf Schadenersatz verklagen wollen, weil ich Ihr Auto kaputt gemacht habe, dann müssen Sie beweisen, dass ich das war. Wenn Sie das aber nur glaubhaft machen müssen, dann reicht es, wenn Sie behaupten, Herr Boehme-Neßler hat mein Auto wahrscheinlich kaputt gemacht. Erstens kann er mich nicht leiden, und zweitens war er ungefähr um die Zeit in der Gegend unterwegs. 

Wäre das mit geltendem Recht vereinbar? 

Nein, wir haben das Rechtsstaatsprinzip, und ein ganz wichtiger Pfeiler des Rechtsstaatsprinzip ist, dass die Freiheit geschützt wird. Im Rechtsstaat kann man deshalb nicht einfach Behauptungen aufstellen und dann das Gericht in Bewegung setzen, sondern man muss Beweise vorlegen. Denn jemanden vor Gericht zu zerren, ist ein heftiger Eingriff in die Freiheit. Wenn die Forderung von Ferda Ataman umgesetzt würde, wäre das eine starke Gefährdung der Freiheit. Man könnte ganz einfach eine Behauptung aufstellen, um jemanden vor Gericht zu bringen. Wir erleben das ja im Augenblick, wie mit einer unheimlich großen Wirkung in der Öffentlichkeit oder auf Social Media schnell Behauptungen aufgestellt werden. Am Ende stellt sich oft heraus, dass eigentlich kaum was dran war. Diese Beweislastumkehr würde auch den Missbrauch von Diskriminierungsklagen sehr erleichtern. 

Ist diese Beweislastumkehr überhaupt rechtlich möglich?  

Mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip habe ich große Zweifel daran, dass das umgesetzt werden könnte. Denn eine Beweislastumkehr gibt es im deutschen Recht nur ganz selten, wenn ein Kläger etwas Bestimmtes überhaupt nicht beweisen könnte. Um eine Klage dennoch zu ermöglichen, gibt es in bestimmten Bereichen sehr beschränkt und wirklich nur in Ausnahmefällen die Beweislastumkehr. 

Gibt es dafür ein Beispiel?  

Stellen Sie sich vor, dass Sie einen Pharmahersteller verklagen wollen, weil ein Medikament nicht in Ordnung war. Dann müssen Sie beweisen, dass Sie das Medikament genommen haben, dass Sie danach krank geworden sind und dass es wahrscheinlich am Medikament liegt. Diese Aspekte müssen Sie beweisen. Um Schadenersatz zu bekommen, müssten Sie aber auch noch beweisen können, dass der Hersteller etwas falsch gemacht hat. Aber dafür müssten Sie in die Fabrik reinschauen können. Aber das geht in der Praxis ja nicht. Deshalb wird in diesem Fall die Beweislast umgekehrt, und der Pharmahersteller muss beweisen, dass alles richtig abgelaufen ist. Denn der hat das nötige Wissen.  

Wenn ich den Vorschlag der Antidiskriminierungsbeauftragten richtig verstehe, will sie aber eine generelle Beweislastumkehr und nicht nur bei einzelnen Aspekten.  

Richtig, und das verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip. Nach diesem Vorschlag können Sie eine Klage auf eine bloße Behauptung stützen. Das passt nicht zum Rechtsstaat. Sie können nicht wie im Mittelalter bloße Behauptungen aufstellen, die dann zu einem Prozess führen. Es geht nicht, dass jemand sagt: „Die Frau hat sich komisch benommen, das ist eine Hexe!“ Und dann fängt der Hexenprozess der Inquisition an. Das hat nichts mit dem Rechtsstaatsprinzip zu tun. Wir haben Jahrhunderte dafür gekämpft, dass wir einen Rechtsstaat haben. Der ist wertvoll. 

 

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Dann gibt es noch die Forderung nach einem „altruistischen Klagerecht“. Was bedeutet das?  

Altruistisches Klagerecht heißt, dass Frau Ataman sich alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft anschauen könnte, und wenn sie irgendwo das Gefühl hat, dass Diskriminierung stattfindet, könnte sie Klage erheben. Und das unabhängig davon, ob die Menschen, die – vielleicht – diskriminiert sind, eine Klage wollen oder nicht. Sie will Überwachungskompetenzen haben und die Überwachung ausweiten. Das heißt, jedes Unternehmen würde sich von ihr überwacht fühlen. Wenn ein Gerücht auftauchen würde, dass jemand – vielleicht – diskriminiert wird, dann bestünde die Gefahr, dass Frau Ataman eingreift und Klage erhebt. Das fördert eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens.  

Bekäme sie damit nicht Kompetenzen, die eigentlich der Staatsanwaltschaft obliegen? 

Ja, so ähnlich, und das ist auch nicht die Aufgabe der Antidiskriminierungsstelle. Die soll aufklären, beraten, forschen und Öffentlichkeitsarbeit machen und keine Kontroll-, Aufsichts-, und Überwachungsfunktion übernehmen. Ataman würde aus ihrer Beratungsstelle eine staatliche Überwachungsbehörde machen. Und das geht nicht. Selbst wenn der Bundestag das unbedingt will und das politisch durchgesetzt würde, bleibt immer noch die Frage, ob so eine Behörde mit so weitreichenden Befugnissen überhaupt noch verhältnismäßig wäre. 

Was müsste da abgewogen werden? 

Braucht man wirklich eine solche Überwachungsbehörde mit so weitreichenden Befugnissen? Oder gäbe es viel bessere Möglichkeiten, Diskriminierungen zu verhindern? Möglichkeiten, die weniger hart in Grundrechte eingreifen, weniger stark die gesellschaftliche Atmosphäre vergiften und weniger missbrauchsanfällig sind. 

Unter Punkt 19 wird gefordert, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Möglichkeit zu einer verbindlichen Schlichtung erhält. Was würde eine verpflichtende Schlichtung denn bedeuten?

Damit würde sie faktisch Gerichtsfunktionen wahrnehmen. Das ist aber die Aufgabe von Gerichten. Von staatlichen, unabhängigen Gerichten. Wenn es einen Streit gibt, entscheidet das Gericht diesen Streit. Eine freiwillige Schlichtung ist natürlich kein Problem. Aber hier wird gefordert, dass die Schlichtung verpflichtend ist. Wenn ein Betroffener Sie beschuldigt, dann könnten Sie von der Schlichtungsstelle der Antidiskriminierungsbeauftragten gezwungen werden, teilzunehmen. Wenn ich das richtig lese, würde Ihnen sogar die Möglichkeit abgeschnitten werden, dann vor Gericht zu gehen. Dieser Vorschlag kann gar nicht umgesetzt werden; er ist verfassungswidrig. Jeder muss Möglichkeiten haben, Rechtsschutz anzurufen, das ist dem Grundgesetz wichtig.  

Ataman argumentiert, dass man auf diese Weise Richter entlasten würde.  

Wenn es um Verfassungsrecht geht, ist das ein irrelevantes Argument. Sie übernähme damit ganz wichtige Staatsfunktionen, nämlich die Funktion der Judikative. Das ist eine der Staatsgewalten. Das geht gar nicht. Das erlaubt das Grundgesetz nicht. Das Grundgesetz sagt ganz klar: Richterliche Kompetenzen werden von staatlichen Gerichten in Anspruch genommen und ausgeübt und nicht von irgendwelchen anderen staatlichen Stellen der Staatsverwaltung. Das wäre eine Verletzung der Gewaltenteilung, die das Grundgesetz vorsieht. 

Die Antidiskriminierungsbeauftragte will also zuerst die Beweislast umkehren, dann will sie sich in ihrer Funktion als Bundesbeauftragte zum Kläger erheben und dann selbst noch Schlichtungsverfahren führen. Richtig?   

Alles in einer Hand sozusagen. Aber sie gehört zur Exekutive, also zur ausführenden Staatsgewalt, und will jetzt auch rechtsprechende Aufgaben übernehmen. Das geht gar nicht. Da vermischt sie zwei Staatsgewalten. Das verletzt den Rechtsstaatsgrundsatz in Form des Gewaltenteilungsprinzips. Das wäre verfassungswidrig.

Können Sie sich vorstellen, dass die Forderungen von Ferda Ataman umgesetzt werden?

Nicht wirklich. Das ist in vielen Punkten so offensichtlich verfassungswidrig, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass der Bundestag das beschließt. Und wenn doch, landet das mit Sicherheit vor dem Bundesverfassungsgericht.

Was glauben Sie, woher diese Forderungen kommen?

Frau Ataman kommt aus der Aktivistenszene. Ihre Funktion jetzt ist aber eine ganz andere. Jetzt hat sie eine staatliche Funktion als unabhängige Beauftragte und muss das Allgemeinwohl stärker im Blick haben. Meines Erachtens schafft sie diesen Rollenwechsel nicht. Jedenfalls nicht mit diesem Dokument. Es ist aus der Aktivistenperspektive geschrieben. Es geht ausschließlich und einseitig um die – natürlich wichtige – Vermeidung von Diskriminierungen. Aber als Staatsvertreterin müsste sie auch das große Ganze – und vor allem auch die Verfassung – im Blick haben. Und das hat sie nicht.

Also lässt sich das auf eine gewisse Unwissenheit zurückführen?  

Juristisch gesehen ist das wirklich alles sehr unbedarft. Ich glaube, es ist einfach die einseitig fokussierte Sicht der Aktivistin. Sozusagen ein Aktivistenpapier als Reformvorschlag. Das ist keine gute Idee. 

Das Gespräch führte York Herder.

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