IGLU-Studie - Grundschüler können nicht mehr richtig lesen 

Nachdem vor einigen Monaten bereits eine deutschlandweite Grundschulstudie zu katastrophalen Ergebnissen kam, wird dies nun auch durch die internationale Grundschulstudie IGLU bestätigt. Und alles deutet darauf hin, dass die Lesekompetenz von Kindern noch weiter abnimmt.

Eine Grundschülerin erledigt ihre Hausaufgaben im heimischen Kinderzimmer / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Während Deutschland bei der Lesekompetenz der Grundschüler im internationalen Mittelfeld rangiert, fallen besonders zwei Befunde ins Gewicht: Inzwischen verlässt ein Viertel der Schüler die Grundschule, ohne richtig lesen zu können. Da dies aber eine wesentliche Schlüsselkompetenz für die gesamte Bildungsbiografie ist, könnten diese Schüler wenige Jahre später vom Schulabbruch bedroht sein. 

Noch gewichtiger ist die Tatsache, dass der Anteil der Schüler, die nicht vernünftig lesen können, immer weiter zu- und nicht abnimmt. Das Bildungssystem wird also schlechter und nicht besser: Im Jahr 2001 zählten „nur“ 17 Prozent zur Risikogruppe mit Leseproblemen. 

Die Daten der aktuellen IGLU-Studie, die aus dem Jahr 2021 stammen, können dabei nur zum Teil durch die Auswirkungen von Schulschließungen infolge der Corona-Pandemie erklärt werden. Die Forscher schreiben selbst: „Im Vergleich zum Beginn der IGLU-Studie 2001 ist die mittlere Lesekompetenz in Deutschland gesunken und die Leistungsstreuung angestiegen. Die Entwicklung sinkender Lesekompetenz zeichnete sich seit 2011 ab. Zwischen 2016 und 2021 sank die mittlere Lesekompetenz besonders deutlich.“ Seit 2011 also gibt es einen deutlichen Abwärtstrend, der durch Corona nur beschleunigt wurde. 

Ergebnisse sind ein deprimierender Befund

Der Befund ist deshalb so vielsagend, weil mit der ersten PISA-Studie vor mehr als 20 Jahren alles anders werden sollte. Die Leistungen der deutschen Schüler waren im Durchschnitt bescheiden und die sozial bedingten Unterschiede zwischen den Schülern zu groß. Es sollte daher eine doppelte Wende eingeleitet werden: Der Abstand zwischen den Besten und den Schlechtesten sollte verringert und beide gleichzeitig klüger werden. Nichts davon, wie sich nach 20 Jahren herausstellt, ist eingetreten. 

Für die Bildungspolitik der letzten 20 Jahre ist das ein deprimierender Befund. Die einschlägigen Bildungsforscher empfahlen damals der Politik, unter dem Schlagwort „Kompetenzorientierung“ eine radikale Bildungswende einzuläuten. Gemeint war damit ungefähr das Folgende: Abschaffung der Rahmenpläne mit klaren Lernvorgaben und -inhalten, Reduzierung traditioneller Methoden wie Auswendiglernen von Fakten, Abkehr vom Frontalunterricht, Mobilisierung der individuellen Lerninteressen der Schüler. Es roch ein wenig nach Waldorfpädagogik. 

 

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Das alles sollte neuen Schwung ins System bringen und neue Potenziale freisetzen -- regelmäßig kontrolliert durch wissenschaftliche Studien. Es gehe in der Schule von morgen nicht darum, etwas zu wissen, sondern darum, etwas zu können, hieß es allenthalben. „Kompetenzorientierung“ eben. Wie man allerdings ohne echtes Wissen etwas können kann, bleibt ein logisches Rätsel. 

Alle Bundesländer folgten seinerzeit mehr oder weniger den Empfehlungen der Wissenschaftler. Das Ergebnis dieses Feldversuches ist, wie man heute sieht, ein Scherbenhaufen. Bisher allerdings stellen weder Bildungspolitik noch -wissenschaft den damals ausgerufenen Kurs in Frage. Eigentlich gelten empirische Daten als Anhaltspunkte für die Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen. Aber nicht so bei der ominösen „Kompetenzorientierung“.  

Die Dosis des Gifts soll noch weiter erhöht werden

Hier gilt umgekehrt: Wenn das Medikament keine Wirkung entfaltet, war es angeblich entweder zu schwach dosiert oder wurde falsch verabreicht. Auf die Idee, dass das Medikament selbst nichts taugt, kommt bisher kein Entscheidungsträger. Zwar hält Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger (FDP) die Befunde für „alarmierend“ und die Präsidentin der Kulturministerin Katharina Günther-Wünsch (CDU) für „ernüchternd“. Aber deshalb das politische Handeln der letzten 20 Jahre zu hinterfragen, kommt beiden nicht in den Sinn. Stattdessen kündigen sie weitere Programme im Geiste der Vergangenheit an. Die Dosis soll erhöht werden. 

Was das für das laufende Jahrzehnt bedeuten wird, ist nicht schwer vorherzusagen. Auch bei der nächsten Studie dürften weitere Verschlechterungen festgestellt werden. Und das hat einen einfachen Grund: In den letzten 20 Jahren konnten sich die angedachten Bildungsreformen nur teilweise durchsetzen. Das lag einfach daran, dass die Kollegien ein hohes Durchschnittsalter aufwiesen. Und erfahrene Lehrer lassen sich durch politische Parolen nicht allzu schnell aus der Fassung bringen und machen einfach weiter das, was sie gut können und was bisher funktioniert hat. 

Aber in diesem Jahrzehnt werden auch die Babyboomer aus den Kollegien aussteigen und ihre wohlverdiente Rente antreten. Es gilt heute schon als ausgemacht, dass nicht genug Nachwuchs zur Verfügung stehen wird. Und ausgebildet wurde dieser in den letzten Jahren von einer „kompetenzorientierten“ Bildungswissenschaft, die die Schule zuletzt als Schüler von innen gesehen hat. Immer mehr Lehrerbildner an Deutschlands Universitäten sind nämlich selbst gar keine Lehrer, sondern umprofilierte Fachwissenschaftler oder ökonometrische Psychologen. Das ist so, als wenn Mediziner nicht von Medizinern, sondern von Statistikern ausgebildet würden. 

Erst am Anfang des Bildungsniedergangs

Deutschland steht also erst am Anfang seines Bildungsniedergangs, weitere Fortschritte werden folgen. Und dieser Irrweg kann erst dann verlassen werden, wenn die Einsicht wächst, dass die ganze Therapie ein Fehler ist. Die gute alte Schule mit Auswendiglernen und klaren Vorgaben im Unterrichtsstoff, mit Frontalunterricht und strenger Benotung und mit der Akzeptanz des Lehrers als einer Respektsperson war zwar vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss, aber auch nicht das Schlechteste. 

Übrigens: Bei der jüngsten IGLU-Studie lagen nicht jene Länder vorne, die für hippe Reformpädagogik bekannt sind, sondern ausgerechnet Hongkong, Singapur und Russland. Während in Singapur ganze 35 Prozent aller Schüler und in Hongkong und Russland immerhin 21 Prozent die höchste Kompetenzstufe im Lesen erreichten, waren es in Deutschland nur noch acht Prozent. Und das ausgerechnet im Lande der Dichter und Denker!

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