- Was soll ich nur wählen?
Wohl noch nie war die Verunsicherung so groß, bei welcher Partei man bei der Wiederholung der Berlin-Wahl sein Kreuz machen soll. Die Aufgabe nach dieser Wahl muss es schließlich sein, die Strukturen zu durchbrechen, die den Wandel in der Hauptstadt blockieren.
Politikberater, Journalisten, aber auch einfache Bürgerinnen und Bürger sind verzweifelt angesichts der kommenden Berlin-Wahl, die am Sonntag – jetzt aber hoffentlich rechtskräftig – eine Entscheidung darüber bringen wird, wer Regierende oder Regierender Bürgermeister von Berlin wird. Der russische Angriffskrieg, die Inflation, die weltpolitische Themenlage haben besonderen Einfluss auf den Wahlkampf und auf die Gefühlslage der Berliner, was die drängendsten Probleme sind.
Das sagen auch Politikerinnen und Politiker aus den Bezirken, die – etwas frustriert – darüber klagen, dass bundespolitische Themen die Gespräche an den Wahlständen dominieren. Vor allem die Waffenlieferungsfrage scheint die Menschen in Berlin umzutreiben, auch wenn sie für die Abgeordnetenhaus-Wahl eigentlich keine Rolle spielt.
Echte Verzweiflung macht sich breit
Viele mag es überraschen, dass nicht die Grünen, sondern die CDU laut den aktuellen Umfragen ganz vorne liegt. Der Eindruck liegt nahe, dass die Christdemokraten mit ihrer lauttönenden Kritik an Berliner Missständen als Oppositionspartei profitieren. Die CDU legt die Finger in die Wunden, wobei gerade mit Blick auf die Migrationsfrage und die Berliner Silvesternacht bezweifelt werden kann, ob die Konservativen tatsächlich auch eine praxistaugliche Strategie für die Lösung der sozialen Probleme in petto haben.
Was nun als Folge in Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, Freundinnen und Freunden, aber auch in den sozialen Kanälen vermehrt auffällt, ist die echte Verzweiflung, die sich breit macht, wenn darüber diskutiert wird, wen man nun jetzt eigentlich wählen soll. Die aktuelle Regierungskoalition scheint Ideen zu haben, doch den meisten Menschen wirkt die Veränderung nicht schnell genug. Als würde Berlin nahezu unregierbar sein; keine echten Fortschritte machen.
Wie ein Wahlkampf gegen die Grünen
Just in einer Zeit, in der die Grünen eigentlich die Spitzenposition einnehmen müssten – zumindest wenn man den Klimawandel so ernst nimmt, wie man ihn gesellschaftlich ernst nehmen sollte – kommen die Klimakämpfer mit ihren Thesen nicht richtig durch. Viele Menschen in Berlin nehmen den Wegfall von Parkplätzen als Populismus wahr. Zugleich fallen ausgerechnet in Wahlkampfzeiten ganze S-Bahn-Strecken und U-Bahn-Linien aus, so dass man fast auf den Gedanken kommen könnte, die BVG macht Wahlkampf gegen die Grünen. Keine attraktive Situation für Bürger, die überzeugt werden sollen, das Auto besser stehenzulassen.
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Die SPD hat eine starke Bürgermeisterin, die beliebt ist und volksnah. Und doch wissen die Menschen in Berlin, dass die SPD nun mal sehr lange regiert hat und für viele der Probleme in der Stadt mitverantwortlich ist. Und Experten wissen, dass Berlin eine Verwaltungsreform braucht. Die Strukturen sind verkrustet, die Stadt in ihrem Personalwesen und rechtlichen Bestimmungen nicht wandlungsfähig genug. Man muss nur mal mit einem Lehrer sprechen und die Finanzierungswege für eine Raumrenovierung an einer Schule verstehen, um zum Eindruck zu kommen, Berlin werde von absurden Gesetzen zu Tode reguliert.
Wie eine Krake über dem Entscheidungsraum
Den Menschen fehlt eine Vision. Die Berliner wollen eine Perspektive haben. Sie wollen den Politikern vertrauen, dass sich etwas verändert – und dass die politischen Visionen der unterschiedlichen Parteien sich in der tatsächlichen Regierungsarbeit auch niederschlagen und nicht nur Versprechen bleiben. Sie wundern sich, dass in anderen Städten außerhalb Deutschlands vieles besser, schneller, effizienter vorankommt und Berlin, trotz einer solideren Wirtschaft, nicht wirklich den Fortschritt macht, den die Stadt nötig hat.
Die Aufgabe nach dieser Wahl muss es sein, die Strukturen zu durchbrechen, die den Wandel blockieren. Und sei es durch die Abschaffung von Bürokratie, die sich wie eine Krake über den Entscheidungsraum von einzelnen Politikern dehnt. Ansonsten verlieren die Menschen noch mehr das Vertrauen in die Demokratie.