SPD nach der Berlin-Wahl - Die Methode „Mehrheit ist Mehrheit“

Obwohl sie die eindeutige Wahlverliererin ist, will Franziska Giffey das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin nicht aufgeben. Als zweistärkste Partei den Regierungschef zu stellen - dieses politische Kunststück ist der SPD in ihrer Geschichte bereits mehrmals gelungen.

Sie kämpft in Berlin um jeden Preis für ihren Machterhalt: Franziska Giffey (SPD) / picture alliance
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Die SPD scheint gewillt zu sein, in Berlin einfach im Roten Rathaus sitzen zu bleiben, getreu dem Motto „Mehrheit ist Mehrheit“. Franziska Giffey, die alles andere als siegreiche Spitzenkandidatin, befindet sich da in guter Gesellschaft. Die Sozialdemokraten haben nämlich eine gewisse Übung darin, als zweistärkste Partei den Regierungschef zu stellen. Da ist keiner anderen Partei so oft gelungen wie der SPD.

Das historisch wichtigste Beispiel für einen Zweitplatzierten, der letztlich doch Erster wird, ist Willy Brandt. Die CDU/CSU war 1969 mit Kanzler Kurt Georg Kiesinger auf 46,1 Prozent gekommen, die SPD auf 42,7 Prozent und damit erstmals über die 40-Prozent-Marke. Doch das hätte Brandt nichts genutzt, wenn die FDP mit ihren 5,8 Prozent nicht die Seiten gewechselt hätte. Ihr Vorsitzender Walter Scheel wollte eine neue sozial-liberale Ära einleiten – als Juniorpartner der SPD.

Willy Brandt hat es vorgemacht

Die Union rief „Verrat“. Tatsächlich vollzogen Brandt und Scheel, wofür die Wähler gestimmt hatten. Denn die FDP hatte 1969 schon Monate zuvor ihren Seitenwechsel – weg von der CDU, hin zur SPD – demonstriert, als sie Gustav Heinemann (SPD) bei der Bundespräsidentenwahl zur Mehrheit verhalf. Auch Kiesinger hatte im Wahlkampf gemahnt, „eine SPD/FDP-Regierung muss verhindert werden“. Wer damals wählte, wusste also: Jede Stimme für SPD und FDP ist eine Stimme für Willy Brandt.

Brandts Nachfolger Helmut Schmidt hat nie eine Wahl gewonnen. Gleichwohl behauptete er sich 1976 gegen Helmut Kohl (CDU) und vier Jahre später gegen Franz Josef Strauß (CSU). Da halfen Kohl selbst seine sensationellen 48,6 Prozent nichts. Die FDP hatte sich bereits vor der Wahl klar auf die SPD festgelegt, ebenso wie vier Jahre später.

Jüngstes Beispiel: 2019 in Bremen

Die CDU siegt und die SPD regiert: Das jüngste Beispiel für diese Methode lieferten die Genossen 2019 in Bremen. Dort hatte Rot-Grün seine Mehrheit verloren und war die CDU zur stärksten Fraktion geworden. Flugs holten sich die Wahlverlierer die Linke ins Boot – und schon hatte die CDU, erstmals seit 1947 (!) stärkste Partei, keine Chance auf das Amt des Regierungschefs.   

Bremen könnte als Blaupause für Berlin dienen. Damals hatte die SPD den Wählern nicht vorher gesagt, sie würde gegebenenfalls mit der Linkspartei koalieren. Auch Giffey hat jetzt vor der Wahl bewusst offengelassen, mit wem sie koalieren würde. Einen Koalitionswahlkampf für die Fortsetzung von Rot-Grün-Rot haben die Sozialdemokraten definitiv nicht geführt. Folglich können sie sich nicht darauf berufen, die SPD-Wähler hätten ganz bewusst für ein „Weiter so“ votiert.

 

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Zweiter Sieger, aber Erster in der Regierung, das hat die SPD 2013 in Niedersachsen vorexerziert. Die CDU behauptete sich trotz deutlicher Verluste als stärkste Fraktion. Doch die starken Grünen lieferten Stephan Weil (SPD) als zweitem Sieger die erforderlichen Mandate zur Regierungsmehrheit. Die Niedersachsen hatten allerdings schon vorher gewusst, dass SPD und Grüne Schwarz-Gelb ablösen würden, wenn es zahlenmäßig reicht.

Wie es sich anfühlt, sich zu Tode zu siegen, das wissen die Alten in der hessischen CDU wohl am besten. 1974, 1978 und 1982 – in der sozial-liberalen Zeit – lag die Union jeweils deutlich vor der SPD. Doch zwei Mal taten die Freien Demokraten, was sie vor der Wahl versprochen hatten, und verhalfen der SPD zum Posten des Ministerpräsidenten. Vier Jahre später blieb Holger Börner (SPD) geschäftsführend im Amt, weil er eine Große Koalition unter Führung der CDU ebenso ablehnte wie eine Zusammenarbeit mit den erstmals im Landtag vertretenen Grünen und die FDP ausgeschieden war. Erst nach Neuwahlen endeten die „hessischen Verhältnisse“.

Vergleich mit der Hamburger CDU im Jahr 2011 hinkt

Sozialdemokraten versuchen, ihr Taktieren in Berlin mit dem Hinweis auf die Hamburger CDU im Jahr 2011 zu rechtfertigen. Damals war die SPD mit 36,5 Prozent stärkste Partei geblieben, konnte aber wegen der Verluste ihres grünen Koalitionspartners nicht mehr weiterregieren. CDU (26,2 Prozent), die neue Schill-Partei (19,4) und die FDP (5,1) hatten dagegen eine Mehrheit, um Ole von Beust (CDU) zum Ersten Bürgermeister zu wählen. Hier hatte nicht ein Wahlverlierer krampfhaft versucht, an seinem Sessel zu kleben. Vielmehr hatten drei Parteien, die angetreten waren, um Rot-Grün abzulösen, vom Wähler genügend Stimmen bekommen, um genau das zu tun.

Wenn die SPD Giffeys Taktieren mit Verweisen auf CDU-Politiker verständlich machen will, dann müsste sie zeitlich viel weiter zurückgehen. 1966 hatte die SPD in Nordrhein-Westfalen mit 49,5 Prozent erstmals die seit 1947 regierende CDU auf den zweiten Platz verwiesen. Schwarz-Gelb unter Ministerpräsident Franz Meyers verteidigte mit 50,1 Prozent jedoch knapp die Mehrheit – bei 0,3 (!) Prozent für die Sonstigen. Meyers hielt sich aber nicht einmal ein halbes Jahr im Amt. Noch im Dezember 1966 verhalf die FDP der SPD zur Mehrheit. Ministerpräsident wurde Heinz Kühn.

Dass es auch anders geht, hat Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau nach der Bürgerschaftswahl 1997 gezeigt. Mit ihm hatte die SPD nur noch 36 Prozent erreicht, nach 40 Prozent 1993. Bereits am Wahlabend erklärte der SPD-Politiker: „Ich übernehme die volle Verantwortung für das Ergebnis“, und legte alle Ämter nieder. Sein Nachfolger wurde Ortwin Runde (SPD), der eine rot-grüne Koalition bildete.

Das krasseste Beispiel dafür, wie zwei kleinere Parteien eine große ausschalten, lieferte 2011 Baden-Württemberg. Damals blieb die CDU trotz deutlicher Verluste mit 39 Prozent stärkste Partei. Die Regierung bildeten aber Grüne (24,2) und SPD (23,1) und machten Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpräsidenten.

Vorsicht mit historischen Vergleichen

Mit historischen Vergleichen ist das freilich so eine Sache. Ohne Beachtung der jeweiligen Gegebenheiten lässt sich für die Gegenwart kaum etwas ableiten. Denn bekanntlich taugt nicht alles, was hinkt, für einen Vergleich. Was Politiker aller Parteien nicht daran hindert, irgendeine beliebe Landtagswahl von früher zur Rechtfertigung ihres heutigen Verhaltens heranzuziehen.

Wobei eines schon immer galt: Nirgendwo steht geschrieben, dass die stärkste Fraktion den Regierungschef stellen muss. Kanzler oder Ministerpräsident wird, wer im Parlament über die Mehrheit verfügt. Das war in der Bundesrepublik schon immer so; das ist auch in Berlin nicht anders. Unter allen Umständen am Amt festzuhalten, obwohl die Wähler ihre Unzufriedenheit mehr als deutlich manifestiert haben, widerspricht nicht den Regeln der Demokratie – wohl aber ihrem Geist.

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