„Berlin 2030 Klimaneutral“ - Ein Volksentscheid als Farce

Am Sonntag entscheiden die Berliner Wähler, ob der Senat per Gesetz verpflichtet werden soll, die CO2-Nettoemmissionen in der Hauptstadt binnen sieben Jahren auf Null zu senken. Doch bei der Abstimmung geht es eher um ein gutes Gefühl als um konkrete klimapolitische Maßnahmen.   

Den Aktivisten des Volksentscheids ist die moralische Überlegenheit wichtiger als die wirtschaftliche Zukunft Berlins / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

So erreichen Sie Rainer Balcerowiak:

Anzeige

Die Berliner dürfen wieder mal wählen. Doch diesmal geht es nicht um die Wiederholung einer komplett misslungenen Wahl zum Abgeordnetenhaus, sondern um einen Volksentscheid. Am Sonntag steht unter dem Motto „Berlin 2030 klimaneutral“ eine Änderung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes zur Abstimmung. Falls mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten, also rund 607.000, sowie die Mehrheit der Abstimmungsteilnehmer mit „Ja“ votieren, wäre das für den Berliner Senat bindend. Das heißt, die vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes müssten in Kraft gesetzt werden. Laut jüngsten Umfragen ist ein knappes Ergebnis zu erwarten, mit einer leichten Tendenz für einen Erfolg des Volksentscheids. 

Initiiert wurde der Volksentscheid von einer Gruppe namens „Klimaneustart Berlin“. Diese besteht aus einem Kern von rund 60 Aktiven, die das Volksbegehren inhaltlich und organisatorisch vorbereitet und durchgeführt haben. Dazu kommt ein Netzwerk von bezirklichen Aktivisten, die vor allem beim Sammeln der über 200.000 Unterstützungsunterschriften zum Einsatz kamen. 

Breite Unterstützung, auch finanziell 

Unterstützt wird die Gruppe von zahlreichen Organisationen. Dazu gehören die Jugendorganisationen der SPD (Jusos) und der Grünen (Grüne Jugend), der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), Fridays for Future, Extinction Rebellion, das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt, aber auch Kulturinstitutionen und Unternehmen. Quasi auf den letzten Drücker sind laut einer Sprecherin auch der Berliner Mieterverein und die Arbeiterwohlfahrt auf den Zug aufgesprungen. 

An finanzieller Unterstützung mangelt es auch nicht. Der Etat der Kampagne betrug mehr als 1,2 Millionen Euro – noch nie war eine Kampagne für einen Volksentscheid in Berlin so gut ausgestattet. Man hat sich damit unter anderem vier befristet eingestellte hauptamtliche Mitarbeiter und die Beauftragung großer Werbefirmen geleistet, die für eine nahezu flächendeckende Plakatierung in der Stadt gesorgt haben. Am Sonnabend gönnt man sich nochmal eine richtige Sause mit großer Bühne am Brandenburger Tor, bei der rund 35.000 Besucher erwartet werden. Auftreten werden unter anderem der Pianist Igor Levit sowie die Bands Beatsteaks, Element of Crime und Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten. 

Das Gros des Etats wird von einigen Großspendern getragen. An der Spitze steht dabei ein in New York lebendes deutschstämmiges Ehepaar, das erfolgreich in der Risikokapital-Branche tätig ist und die Kampagne mit 475.000 Euro unterstützt hat. Mit sechsstelligen und hohen fünfstelligen Summen haben sich auch einige Stiftungen und Unternehmen aus der Öko-Tech-Branche beteiligt. Kleinspenden im insgesamt sechsstelligen Bereich wurden vor allem über einschlägige Crowdfunding-Plattformen eingeworben. 

Keine konkreten Maßnahmen 

Kern des Volksentscheids ist die „Vorverlegung“ der bislang für 2045 angestrebten Klimaneutralität der Stadt Berlin auf 2030. Aus den bisher formulierten „Klimaschutzzielen“ würden dann „Klimaschutzverpflichtungen“. Die Gesamtsumme der CO2-Emissionen soll bis 2025 mindestens um 70 Prozent und bis 2030 um mindestens 95 Prozent im Vergleich zu der Gesamtsumme von 1990 reduziert werden. Die genannten Verpflichtungen wären gesetzlich festgeschrieben, Landesgesetze sollen nur noch in Kraft treten dürfen, wenn eine Prüfung ergibt, dass sie im Einklang mit diesen Anforderungen stehen.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Allerdings sieht der zur Abstimmung stehende Gesetzestext weder Sanktionen bei Verstößen gegen die Vorgaben vor, noch formuliert er konkrete Einsparpfade und Ziele für einzelne Sektoren. Auch die möglichen Kosten für entsprechende Schritte werden nicht näher beziffert. Dies alles soll im Anschluss an den Volksentscheid im „Austausch zwischen Bürger*innen, Wissenschaft und Politik auf Augenhöhe“ vorangetrieben werden, sagen die Initiatoren.   

Gefühl der moralischen Überlegenheit 

Gewisse Zweifel an der konkreten Umsetzbarkeit scheinen aber auch den Protagonisten nicht fremd zu sein. Es gehe vor allem darum, „die Politik unter Druck zu setzen“ und eine „Signalwirkung für andere Großstädte zu erzielen“, denn „weltweit muss das Ziel erreicht werden, 1,5 Grad Erderwärmung nicht zu überschreiten“. Daher fordere man „einen deutlichen Kurswechsel hin zu bewusstem Konsum, gemeinschaftlichem Handeln und nachhaltigem Wirtschaften“ und wolle „jedem und jeder einzelnen Mut machen, sich für das Überleben auf unserem Planeten einzusetzen“. 

Letztendlich soll jetzt am Berliner Wesen die ganze Welt genesen. Und schnell wird deutlich, dass es bei diesem Volksentscheid nicht etwa um konkrete Schritte für den klimagerechten Umbau der Stadt geht – die in der Tat angegangen werden müssen –, sondern um das ganz große Gefühl der moralischen Überlegenheit im globalen Maßstab, um Selbstbestätigung, dass man zu den „Guten“ gehört.

Nahezu absurd wirkt die Idee, die Wirtschaft, den Verkehr und den Gebäudebestand einer Metropole mit fast vier Millionen Einwohnern binnen sieben Jahren nahezu komplett von der Nutzung fossiler Energieträger abkoppeln zu können: Es lohnt nicht einmal, sich damit ernsthaft zu beschäftigen. Und natürlich hätte selbst eine schnelle Klimaneutralität Berlins keinerlei messbaren Einfluss auf die – zweifellos dramatischen – Prozesse, die mit der globalen Klimaerwärmung einhergehen. Ferner ist es ausgesprochen ärgerlich, dass für diese Farce der Volksentscheid – ein wichtiges Element der demokratischen Teilhabe – missbraucht und diskreditiert wird. Gewichtige Gründe also, um am Sonntag mit „Nein“ zu stimmen.         

Anzeige