Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus - Wie in Berlin das Vertrauen in die Demokratie verspielt wird

Der Berliner Verfassungsgerichtshof ist anscheinend entschlossen, den Scherbenhaufen aufzukehren, den das Debakel in der Bundeshauptstadt angerichtet hat. Das ist auch dringend notwendig, um einem weiteren Legitimationsverlust der parlamentarischen Demokratie entgegenzuwirken.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Stadtentwicklungssenator (beide SPD) Andreas Geisel mit versteinerter Miene / picture alliance
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus – so prägnant bringt die Verfassung den Kern der Demokratie auf den Punkt. Am Anfang und im Zentrum der (parlamentarischen) Demokratie steht deshalb die Wahl. Sie ist eine politische Weichenstellung mit Wirkung für die Zukunft. Und sie ist das Mittel, das die Inhaber der staatlichen Macht legitimiert. Wer gewählt ist, darf – und muss – Macht ausüben. Das klingt jetzt pathetisch, aber: In der Demokratie ist der Wahlakt heilig. Hier dürfen keine Fehler passieren. Und wenn trotzdem Fehler passiert sind, müssen sie strenge Konsequenzen haben.  

Eine demokratische Wahl muss demokratische Standards erfüllen. Eine x-beliebige Wahl reicht nicht. Fake-Wahlen kennt man auch von autoritären Systemen und Diktaturen, die sich dadurch eine (Schein)Legitimation verschaffen wollen. In der Demokratie muss die Wahl – wie es etwa das Grundgesetz sagt – allgemein, frei, gleich und geheim sein. Das sind demokratische Basics.

Völlig missglückte Wahl

Die Fehler bei der Wahl in Berlin haben bundesweit Schlagzeilen gemacht. Man hätte sich das vorher nicht vorstellen können: Es gab zu wenige Wahlzettel, es wurden falsche Wahlzettel ausgegeben, die Verantwortlichen schlossen Wahllokale zu früh, zahlreiche andere blieben deutlich über das Ende der Wahl hinaus geöffnet. Viele Wahllokale hatten – glaubt man Medienberichten – sogar bis 21 Uhr geöffnet. Da waren schon längst konsolidierte Hochrechnungen bekannt. Besonders problematisch: Wahlberechtigte wurden weggeschickt oder standen vor vorübergehend geschlossenen Wahllokalen. In nicht wenigen Wahlbezirken wurden auffällig viele Stimmzettel als ungültig gewertet.

Möglicherweise sind das noch nicht einmal alle Fehler. Die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs sprach davon, dass man nur die „Spitze des Eisbergs“ sehe. Politisch hatte das bisher keine Folgen. Die Berliner Politik quittierte das – wie so oft – mit einem Achselzucken und ging zur Tagesordnung über. Das ist bis heute ein echter Skandal, der fassungslos macht.

Verfassungsrecht und Wahlwiederholung

Die zahlreichen, teilweise unglaublichen Pannen haben natürlich eine juristische Dimension. Sie verletzen die Verfassung und das Wahlgesetz. Unterschiedliche Öffnungszeiten der Wahllokale etwa widersprechen den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl. Um den Gleichheitsgrundsatz geht es auch bei möglichen Auszählungsfehlern. Wenn Bürger, die wählen wollen, weggeschickt werden, ist die Freiheit der Wahl betroffen. Und das ist womöglich nur die „Spitze des Eisbergs“.

Welche juristischen Folgen das hat, wird in Kürze der Berliner Verfassungsgerichtshof entscheiden. Allerdings sind die Hürden für die Wiederholung einer demokratischen Wahl hoch. Nicht jeder kleine Wahlfehler führt automatisch zu einer Wiederholung der Wahl. Das wäre für die Stabilität und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments fatal – und deshalb unverhältnismäßig. Nur Wahlfehler, die sich auf die Mandatsverteilung auswirken, führen zu einer Neuwahl. Der Berliner Verfassungsgerichtshof tendiert dazu, die Mandatsrelevanz anzunehmen und eine Neuwahl anzuordnen. Das ist rechtlich sehr gut nachvollziehbar. Die Richterinnen und Richter haben in etwa der Hälfte aller Wahlkreise gravierende Fehler festgestellt. Das sind keine Marginalien mehr, das hat Auswirkungen auf das Gesamtergebnis der Wahl. Aber die Folgen dieser Wahl reichen viel weiter.

Die Krise des Vertrauens

Was bedeutet diese dilettantisch organisierte Pannen-Wahl für die politische Kultur und das Vertrauen in die Demokratie? Keine andere Regierungsform ist so auf Vertrauen angewiesen wie die Demokratie. Sie lebt vom Vertrauen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich gegenseitig vertrauen – und sie müssen dem Staat und seinen Institutionen vertrauen. Sie müssen im Großen und Ganzen davon ausgehen, dass alle einigermaßen vernünftig sind und die gleichen Grundwerte teilen. Denn in der Demokratie kann man überstimmt werden und zur Minderheit gehören.

Ohne ein Grundvertrauen in die Anderen ist es schwer, das zu akzeptieren. Auch in der Demokratie übt der Staat Macht aus, der sich die Bürgerinnen und Bürger beugen müssen. Auf die Dauer geht das nur, wenn sie ein Basisvertrauen haben, dass in Politik und Staat alles mit rechten Dingen zugeht. Politisches Misstrauen führt zur Politikverdrossenheit und – längerfristig – auch zur Demokratieverdrossenheit. Nicht zuletzt bereitet politisches Misstrauen den Boden für die Ausbreitung von Verschwörungstheorien.

 

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Politik und Staat sind in Deutschland in der Vertrauenskrise. Nicht erst seit der Coronapandemie hat das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat, die Politik, die Parteien deutlich abgenommen. Das zeigen immer wieder repräsentative Befragungen.

Anfang September sah eine Umfrage des Deutschen Beamtenbundes das Vertrauen in den Staat auf einem „historischen Tiefpunkt“. Der gerade veröffentlichte Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung zeigt, dass die Vertrauenskrise immer grundsätzlicher wird. Gerade im Osten Deutschlands gibt es nicht nur ein tiefes Misstrauen gegen politische Parteien oder aktuelle Tagespolitik. Inzwischen erfasst die Vertrauenskrise dort auch die Demokratie als Staatsform.

Kein Zweifel an der Wahl

Vor diesem Hintergrund ist die Berliner Wahl gefährlich. Das Volk, der demokratische Souverän, muss immer überzeugt sein, dass eine Wahl nicht manipuliert, gefälscht oder fehlerhaft ist. Sonst leidet das Vertrauen nicht nur in die Wahl, sondern auch in das demokratische System. Wie die Berliner Politik mit der fehlerhaften Wahl umgegangen ist, ist verantwortungslos und hat das Vertrauen der Wähler beschädigt.

Durch die Bank haben die Berliner Landespolitiker die Fehler bagatellisiert und das beliebte Blame Game gespielt. Als ob das helfen würde, das Vertrauen der Bürger nach der verpatzten Wahl zu stärken. Deshalb ist es von kaum zu überschätzender Bedeutung für das Vertrauen in die Demokratie, wie der Berliner Verfassungsgerichtshof mit den Wahlfehlern umgeht. Die Hoffnung ist, dass er die Wahlfehler so korrigiert, dass verlorenes Vertrauen wieder zurückgewonnen wird.

Verfassungsgerichtshof mit Rückgrat

Verfassungsgerichte arbeiten nicht im luftleeren Raum, sondern in einem hoch politischen Umfeld. Sie stehen deshalb unter politischem Druck. Das zeigen nicht zuletzt die ersten Reaktionen der Berliner Politik auf die mündliche Verhandlung vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof. Selbstverständlich hat die in Berlin regierende Koalition kein Interesse an einer Wiederholung der Wahl in Berlin. Sie könnte ja ihre Mehrheit verlieren.

Der Verfassungsgerichtshof braucht deshalb Rückgrat, um die Verfassung gegenüber den politischen Erwartungen und dem Druck durchzusetzen. In Preußen galt der alte Satz: „Es giebt noch Richter in Berlin.“ Wie es nach der mündlichen Verhandlung scheint, knüpft der Verfassungsgerichtshof an diese Tradition an. Das wäre eine gute Nachricht.

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