Armutsforschung - „Die ausgeprägte Ungleichheit ist Gift für die Demokratie“

Der Sozialforscher Christoph Butterwegge warnt vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft und prangert die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung an. Außerdem spricht er mit Cicero über den Aufstieg der AfD und die sozialen Folgen der Corona-Pandemie.

Eine obdachlose Frau im Frankfurter Hauptbahnhof / picture alliance
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Christoph Butterwegge ist renommierter Sozial- und Armutsforscher. 2017 kandidierte er für die Linken für das Amt des Bundespräsidenten. Zuletzt erschien sein Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ (Beltz Juventa Verlag).

Herr Butterwegge, wer gilt in Deutschland als arm?

Man unterscheidet zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits und relativer Armut andererseits. Absolut arm ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, also nicht genug zu essen hat, kein sicheres Trinkwasser, keine den klimatischen Bedingungen angemessene Bekleidung, kein Obdach und keine medizinische Grundversorgung. Relativ arm ist, wer seine Grundbedürfnisse zwar befriedigen, sich aber vieles von dem nicht leisten kann, was in jener Gesellschaft, in der er lebt, für fast alle Mitglieder normal ist: Er kann nicht am sozialen, kulturellen und politischen Leben teilnehmen.

Laut einer Konvention der Europäischen Union ist man armutsgefährdet, wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das waren für Alleinstehende zuletzt 1148 Euro im Monat, wenn man den Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes zugrunde legt. Ich würde in diesem Fall von Einkommensarmut sprechen, weil man von dem genannten Betrag in aller Regel noch Miete bezahlen muss und danach wenig Geld für die normale Lebenshaltung übrig bleibt.

Welche gesellschaftlichen Entwicklungen haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass das Armutsrisiko in Deutschland gestiegen ist?

Während der Covid-19-Pandemie haben sich die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Deutschland stärker auseinanderentwickelt. Die bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen bewirkten, dass Sars-CoV-2 den ohnehin bestehenden Trend zur sozioökonomischen Polarisierung unterstützte. 

Meinen Sie, dass die Pandemie die Ungleichheit verstärkt hat?

Wenn man so will, glich die Corona-Krise einem Paternoster, der materiell Privilegierte nach oben und Unterprivilegierte zur selben Zeit nach unten beförderte. Während viele Reiche noch reicher wurden, wurden die Armen zahlreicher. Ähnlich wirken gegenwärtig Energiepreisexplosion und Inflation: Während sich die relative (Einkommens-)Armut am unteren Rand der Gesellschaft in absolute Armut (Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit) umzuwandeln droht und immer mehr bis zur Mitte der Gesellschaft vordringt, nimmt die Konzentration des Privatvermögens am oberen Rand der Gesellschaft sogar noch zu. Wer mit seinem Monatseinkommen von 1300 oder 1400 Euro netto knapp oberhalb der EU-Armutsrisikoschwelle der Europäischen Union von 1148 Euro liegt, kommt damit längst nicht mehr über die Runden. Diese verborgene, statistisch nicht erfasste und auch nur schwer zu erfassende Armut breitet sich momentan aus.

Welche Gesellschaftsgruppen sind Ihrer Einschätzung nach besonders von Armut betroffen?

Während die verfügbaren Einkommen momentan eher stagnieren, steigen die Ausgaben wegen der inflationären Tendenzen exorbitant, und zwar auch von Menschen, die nach den entsprechenden Kriterien und statistischen Kennziffern gar nicht armutsgefährdet sind. Energie- und Ernährungsarmut treffen Erwerbslose, kinderreiche Familien mit entsprechend großen Wohnungen sowie Rentner, die viel zu Hause und kälteempfindlicher als junge Leute sind, besonders hart.

In Ihren Schriften und Interviews zeichnen Sie das Bild eines von Ungleichheit dominierten Landes.

Die sozioökonomische Ungleichheit ist hierzulande viel stärker ausgeprägt, als es das überkommene Selbstverständnis einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) oder das christdemokratische Wahlversprechen einer „Sozialen Marktwirtschaft“ vermuten lassen. Um das Ausmaß der Spaltung, die eine Gesellschaft innerlich zerreißen kann, zu ermitteln, muss man einerseits den Anteil der (Einkommens-)Armen an der Gesamtbevölkerung und andererseits die Konzentration des privaten (Vermögens-)Reichtums erfassen. 

Haben sich also auch die Vermögen auseinanderentwickelt?

Gerade sie haben sich zuletzt extrem auseinanderentwickelt. Während reiche und hyperreiche Haushalte aufgrund hoher Wertzuwächse von Aktien, Immobilien und Edelmetallen (Gold) ihr Vermögen steigerten, gehörten Ärmere einmal mehr zu den Verlierern der ökonomischen Entwicklung. Die reichsten 45 Familien in Deutschland besitzen mittlerweile mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung – über 40 Millionen Menschen. Dagegen haben fast 40 Prozent der Bevölkerung gar kein nennenswertes Vermögen. Dies hat dazu geführt, dass beim ersten Corona-Lockdown weit über den Kreis der Armen hinaus Millionen Menschen nach staatlicher Unterstützung riefen, weil sie keine Rücklagen hatten. Und auch als der Gaspreis förmlich explodierte, mussten Entlastungspakete dafür sorgen, dass die Menschen über den Winter kommen.

Welche Auswirkungen hat die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Mit der zunehmenden Ungleichheit und der wachsenden Ungerechtigkeit haben sich die sozialen Probleme seit der Jahrtausendwende in Deutschland vermehrt, das soziale Verantwortungsbewusstsein und der soziale Zusammenhalt jedoch in demselben Maße abgenommen. In der Bundesrepublik galt jahrzehntelang das soziale Aufstiegsversprechen, dem sie auch ihren wirtschaftlichen Erfolg verdankte: „Wer sich anstrengt, fleißig ist und etwas leistet, wird mit lebenslangem Wohlstand belohnt.“ Aufgrund der neoliberalen Modernisierung und Globalisierung ist es seit den 1990er-Jahren der Furcht vieler Mittelschichtsangehöriger gewichen, trotz guter beruflicher Qualifikation und harter Arbeit nicht mehr aufsteigen zu können, sondern auf einem absteigenden Ast zu sitzen. 

Christoph Butterwegge / picture alliance

Meinen Sie, dass es immer mehr zu einer Segregation in Parallelwelten kommt?

Genau das passiert gerade. Durch die Bundesrepublik verläuft ein Riss, der sie in Arm und Reich, aber auch sozialräumlich in wohlhabende und abgehängte Regionen, Kommunen und Stadtviertel teilt. Während die Einkommensschwachen, Geringverdiener und Transferleistungsbezieher in die Hochhausviertel am Rand der Großstädte abgedrängt werden, ziehen die materiell Bessergestellten in gute oder in geschlossene Wohnviertel (gated communities). Hier entsteht eine Parallelwelt der Privilegierten und dort eine Parallelwelt der Unterprivilegierten, worunter der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet. Wer ihn stärken will, muss die Ungleichheit verringern und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.

In anderen europäischen Ländern sind von Armut Betroffene politisch aktiver, gehen protestieren. Wieso regt sich bei uns so wenig Widerstand?

Das hat viel mit der politischen Kultur unseres Landes im Allgemeinen und dem egalitären Gründungsmythos der Bundesrepublik im Besonderen zu tun. Heinrich Heine hat Deutschland das Land des Gehorsams genannt. Da alle revolutionären Traditionen verschüttet sind, gibt es trotz der wachsenden Ungleichheit keine Basis für eine breite soziale Protestbewegung. Außerdem genießt der meritokratische Mythos, wonach Reichtum die Belohnung für eine große Lebensleistung und Armut die Bestrafung für Leistungsunfähigkeit oder -unwilligkeit ist, in Westdeutschland seit der Währungsreform am 20. Juni 1948 ein hohes Maß an Plausibilität. Damals wurde sämtlichen Besitzern einer gültigen Lebensmittelkarte für 40 Reichsmark eine gleich hohe „Kopfquote“ in D-Mark ausgehändigt. Der illusionäre Eindruck einer politisch hergestellten Einkommens- und Vermögensgleichheit verband sich während des „Wirtschaftswunders“ mit der Vorstellung, alle Westdeutschen hätten die gleichen Startchancen besessen. 

Welche Rolle spielte die Währungsreform in dieser Entwicklung?

Kein anderes Ereignis hatte für die Legitimation der fortdauernden Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Verankerung der Leistungsideologie bzw. des meritokratischen Mythos im Alltagsbewusstsein der Westdeutschen eine so große Bedeutung wie die Währungsreform, denn nur durch sie konnte es für einen Großteil der Bevölkerung scheinen, als hätten Reiche ihr Vermögen durch eigene Verdienste erworben und nach den Kriegszerstörungen arm Gebliebene sich ihren Geldmangel selbst zuzuschreiben.

Sie führen den Erfolg von Populisten und den Aufstieg der AfD auf „soziale Abstiegsängste“ zurück. Welches Zukunftsbild unserer Gesellschaft zeichnen Sie vor diesem Hintergrund? 

Die ausgeprägte Ungleichheit ist sowohl Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt als auch für die Demokratie, weil sie die materielle Grundlage für Gemeinschaftlichkeit zerstört. Tendenzen der Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung sind bereits unübersehbar. Hierbei paaren sich ökonomischer Kontrollverlust, kulturelle Verlustängste und Abstiegssorgen mit dem Gefühl, keinen Einfluss mehr auf die politischen Entscheidungen zu haben, was Apathie, Frustration und ohnmächtige Wut erzeugt, aber auch die Agitation rechtspopulistischer Parteien wie der AfD erleichtert.

 

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Wer als Angehöriger der Mittelschicht panische Angst vor dem sozialen Abstieg oder Absturz hat, sich nicht mehr zu helfen weiß und auch dem parlamentarischen Repräsentativsystem misstraut, das keine Lösungen bereithält, sitzt leicht rechten Demagogen auf, die es radikal kritisieren und im Erfolgsfall zu beseitigen versprechen. Es ist kein Zufall, dass solche Kräfte in ökonomischen Krisenphasen und gesellschaftlichen Umbruchsituationen an Einfluss gewinnen, besonders dann, wenn sie die einzige laut vernehmbare Alternative zum politischen Establishment darstellen, weil die Linke schwach und zerstritten ist.

Die Erhöhung des Bürgergeldes hat zu kontroversen Diskussionen geführt. Wie bewerten Sie die Erhöhung des Regelsatzes? 

Mit dem von 449 auf 502 Euro angehobenen Regelsatz für Alleinstehende werden höchstens die massiven Preissteigerungen der vergangenen Monate – vor allem bei Nahrungsmitteln und Strom, der ja nicht in den vom Jobcenter zu bezahlenden Unterkunftskosten enthalten ist – ausgeglichen. In Würde davon leben kann man auf keinen Fall. Ein markantes Beispiel hierfür: Im neuen Regelbedarf sind 45,02 Euro pro Monat für Verkehr enthalten, aber selbst das geplante Deutschlandticket wird mehr, nämlich 49 Euro monatlich kosten. Mobilität ist ein Grundrecht, das auch für Arme gilt.

In seinem ersten Hartz-IV-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht überzeugend begründet, warum der Staat neben dem physischen auch das soziokulturelle Existenzminimum der Transferleistungsbezieher garantieren und außerdem dafür sorgen muss, dass ihnen die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen möglich ist. Dazu muss man Verwandte, Freunde und Bekannte im ganzen Land besuchen können. Man verhungert mit dem Bürgergeld zwar nicht, aber der Betrag reicht keineswegs aus, um sich gesund zu ernähren. 502 Euro sind auch nicht genug, um sich gut kleiden zu können. Und erst recht nicht, um am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Mal ins Kino oder ins Theater zu gehen, ist mit dem Regelbedarf ebenfalls kaum möglich.

Was müssen wir als Gesellschaft tun, um Armut effektiv zu bekämpfen?

Vor allem darf man nicht die Armen bekämpfen, etwa durch Platzverweise und Aufenthaltsverbote für Obdachlose, wie es manche Stadtverwaltungen tun. Arme sollten von uns nicht länger wie Aussätzige behandelt werden, denn Armut ist schließlich nicht ansteckend. Da die Armut multiple, teilweise eng miteinander verknüpfte Ursachen hat, ist sie auch nur mehrdimensional zu bekämpfen. 

Auf welchen Ebenen sollte Armutsbekämpfung stattfinden?

Armutsbekämpfung sollte auf sämtlichen Ebenen des föderalen Systems (Bund, Länder und Kommunen) sowie allen dafür geeigneten Politikfeldern ansetzen. Bloß durch eine konzertierte Aktion im Bereich der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik, der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der Sozial- und Gesundheitspolitik, der Familienpolitik, der Bildungspolitik sowie der Wohnungs-, Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik sind dauerhafte Erfolge möglich. Nötig ist ein Um- und Ausbau des bestehenden Sozialsystems zu einem inklusiven Wohlfahrtsstaat und einer solidarischen Bürgerversicherung. Je umfassender die Maßnahmen zur Verringerung bestehender und/oder zur Verhinderung der Entstehung neuer Armut und je besser sie aufeinander abgestimmt sind, desto eher ist diesem Kardinalproblem unserer Gesellschaft beizukommen.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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