Anschlag in Halle - Ein Produkt unserer digitalisierten Moderne

Auch nach dem Anschlag in Halle greifen in Medien und der Gesellschaft ritualisierte Empörung und wohlfeile Floskeln um sich. Dabei liegen die Ursachen vielfach in der medialen und sozialen Lebenswirklichkeit der Täter. Doch es scheint einfacher zu sein, ihrer billigen Selbstinszenierung zu folgen

Demonstration des Bündnisses „Halle gegen Rechts - Bündnis für Zivilcourage“ / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Auf schockierende Ereignisse reagieren menschliche Gemeinschaften mit Ritualen. Traditioneller Weise etwa mit kultischen Handlungen, Gebeten oder Gottesdiensten. In säkularen und multireligiösen Gesellschaften funktionieren solche Kompensationsstrategien nicht mehr. Also müssen andere Rituale her, etwa die Flucht ins allgemein Erbauliche. Das allerdings wirkt häufig hilflos und vorgestanzt. Und so ergießt sich auch in diesen Tagen nach Halle wieder eine Flut an hilflosen Phrasen, Banalitäten und schalen Apellen über die Gesellschaft.

Sozialpsychologisch ist eine solche Reaktion einleuchtend. Hier wird aus Hilflosigkeit eine Sprache und eine Symbolik aus der privaten Kommunikation für öffentliche Betroffenheitsbekundungen gebraucht. Gefühlsbeschreibungen, die aus dem intimen zwischenmenschlichen Bereich stammen, etwa Schmerz und Trauer, werden dabei in den öffentlichen medialen Diskurs gezerrt.

Floskeln statt kritischer Analyse

Das führt allerdings zu einer Art Double Bind: Einerseits wird an intime Gefühle appelliert, die aber im Grunde mangels persönlicher Betroffenheit nicht wirklich aktiviert werden können. Zugleich wird durch die Medien ein hohes Emotionalisierungsniveau aufgebaut. Es entsteht eine Art Empathiestress: Der Mediennutzer kann die eigenen Gefühle mit dem medial vermittelten Erregungslevel nicht mehr in Einklang bringen.

An sich ist das nicht weiter tragisch. Etwa wenn es sich um Naturkatastrophen handelt oder um Unfälle. Problematisch wird es jedoch bei ideologischen inszenierten Straftaten wie etwa dem versuchten Massenmord samt Doppelmord in Halle. Hier verhindern die öffentlichen Bekundungsrituale und Schuldzuweisungen geradezu eine sachliche Aufarbeitung und effektive Gewaltprävention. Denn ein hoch emotionalisierter öffentlicher Diskurs verlangt geradezu nach einfachen Symbolhandlungen und platten Bekenntnissen. Also stürzt man sich ebenso dankbar wie kritiklos auf die Selbstinszenierung des Täters. Denn die ermöglicht es, die Ritualmaschine anzuwerfen und kritische Analysen durch Floskeln zu ersetzen.

Die Logik unserer medialen Systeme

Doch egal, ob die Täter vorgeben, im Namen einer Religion zu handeln, einer Rasse oder einer anderen Ideologie – hier der angeblichen Motivation des Verbrechers und seinen Posen unkritisch zu folgen, kommt zwar dem Bedürfnis einer Massenmediengesellschaft nach Schlagworten und ritualisierten Verbalexorzismen („Nie wieder…“) entgegen, ist jedoch sachlich kontraproduktiv. Mehr noch. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die mediale Fixierung auf den ideologischen Vorwand und die damit einhergehenden Empörungs- und Distanzierungsrituale potenzielle Nachahmungstäter eher anziehen als abschrecken. Denn plötzlich wird aus der verkrachten und isolierter Existenz ein Staatsfeind, ein Symbol für das Böse und damit zugleich ein Vorbild für die globale Gemeinschaft der Psychopathen und anderer sozial isolierte junger Männer vor ihren Bildschirmen. Und genau auf diese Community bei 4chan, 8chan oder zielte die nicht zufällig die in Englisch abgesetzte Botschaft des Täters.

Hier anzusetzen würde für unsere Gesellschaft jedoch bedeuten, dahin zu gehen, wo es wirklich weh tut: an die Logik unserer medialen Systeme, an die sozialen Folgen digitaler Kommunikation, an die psychischen Verwerfungen einer hypermobilen und flexiblen Gesellschaft und an die brandgefährliche Mischung aus Vereinsamung und sozialer Resonanz in der weiten digitalen Netzwelt. Denn solche Anfragen wären Fragen an unsere Bequemlichkeit, unseren Lebensstandard, unsere Alltagskultur.

Die Ideologien sind nicht die Ursachen

Viel einfacher ist es daher, das Thema ins Ideologische zu entsorgen. Zumal wenn der Täter darauf beharrt, im Namen einer Ideologie zu handeln. Doch Ideologien sind bei solchen Einzeltätern Verstärker und Resonanzräume für ihre Ressentiments, ihren Wut, ihren Hass. Nicht aber die Ursache. Menschen handeln aufgrund von Emotionen, nicht aufgrund von Argumenten oder Lehren. Ideologien sind lediglich der hilflose Versuch, die eigene Irrationalität zu maskieren.

Wohl gemerkt: Das alles soll keinen Täter entschuldigen. Wir sollten nur nicht den Fehler machen, zu meinen, solchen Taten könnte man mit Antisemitismusbeauftragten und Islamkonferenzen verhindern. Die sind sicher aus anderen Gründen sinnvoll. Doch die „einsamen Wölfe“ sind ein Produkt unserer digitalisierten Moderne – ihrer Defizite und ihrer Möglichkeiten. Auf dem Boden ritualisierte Reflexe mögen Mahnwachen und anderer Politrituale gedeihen, das eigentliche Problem verliert man dabei jedoch aus den Augen.

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