Debatte über Niedersachsenwahl bei Anne Will - Kompetenzvermutung und Fehlertoleranz

Bei Anne Will wurde am Sonntagabend in prominenter Runde die Niedersachsenwahl nachbereitet. Insbesondere ein lapidarer Satz von Jens Spahn über den Zustand der CDU gab da zu denken. Und plötzlich spielt auch die aktuelle Massenmigration wieder eine Rolle – ein Thema, das die Grünen-Vorsitzende am liebsten ausklammern würde. Insgesamt bleibt der Eindruck: Das politische Personal ist von der Krise überfordert.

Die Talkrunde bei Anne Will am Sonntagabend / Das Erste
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Nach einer Landtagswahl gibt es natürlich einiges zu besprechen, vor allem bei solch einem Ergebnis: Obwohl allgemein die Zufriedenheit mit der Bundes-Ampel eher überschaubar ist, bleibt Niedersachsens sozialdemokratischer Ministerpräsident Stephan Weil im Amt und kann demnächst eine rot-grüne Landesregierung anführen (also Ampel minus Gelb). Die FDP ihrerseits fliegt aus dem Landtag, obwohl sie sich für einen Weiterbetrieb der noch laufenden deutschen Atomkraftwerke eingesetzt hat – was in einem Industrieland wie Niedersachsen keine völlig abwegige Idee sein könnte. Die niedersächsische CDU wiederum holt ein historisch schlechtes Ergebnis und nimmt künftig auf den Oppositionsbänken Platz – obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie in den vergangenen fünf Jahren eher unauffällig an Weils Seite mitregiert hat. Und die AfD als eigentliche Wahlsiegerin wird zweistellig, trotz dass ihr inhaltlich wenig bis nichts zugetraut wird. 

Insgesamt also ein mehr als denkwürdiges Resultat, das aufzuschlüsseln sich die Gäste in der Talkrunde von Anne Will am Sonntagabend mehr oder weniger Mühe gaben. Schon der Titel der Sendung verriet eine gewisse Verwirrtheit mit der aktuellen Lage: „Wahlen in unsicheren Zeiten – Bekommt die Ampel die Quittung für ihre Krisenpolitik?“ Eine Quittung war es ja zumindest für zwei der drei Berliner Ampel-Partner eher nicht, wenn sie jetzt in Hannover eine rot-grüne Wunschkoalition eingehen können. Natürlich hatten Demoskopen die Grünen in Niedersachsen vor nicht allzu langer Zeit noch im 20-Prozent-Bereich verortet, aber gleichwohl konnten sie am Sonntag nach Schließung der Wahllokale mit 14,5 Prozent ein Plus von 5,8 Punkten verbuchen. Und die SPD ist mit ihren 33,4 Prozent die mit Abstand stärkste Kraft in Niedersachsen. Wenn schon Quittung, dann ja eigentlich nur für die künftig außerparlamentarische FDP.

Unausgeschöpfte Leidensfähigkeit

Die Deutung beziehungsweise die politische Verwertung der seltsamen Niedersachsenwahl übernahmen bei Will der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil, Grünen-Chefin Ricarda Lang, CDU-Fraktionsvize Jens Spahn, der Welt-Journalist Robin Alexander sowie die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach. Von letzterer bleibt wenig mehr in Erinnerung als ihr Plädoyer für eine neue „Fehlertoleranz“ in der Politik. Will sagen: In Krisenzeiten dürfe auch bei der Bundesregierung mal etwas schief laufen, die Leute sollten sich halt nicht über jeden Missgriff gleich aufregen. Was die diesbezügliche Leidensfähigkeit der Bevölkerung angeht, sieht die Politologin vom Berliner Otto-Suhr-Institut das Potential also als noch nicht voll ausgeschöpft an. Wollen wir hoffen, dass die Ampel uns nicht bis an die Grenzen führt. Womit wir auch schon bei den Profis angelangt wären, die gestern bei Will die Sessel drückten.

Von Niedersachsen selbst war erwartungsgemäß wenig die Rede; die Debatte begann zwar aus gegebenem Anlass mit der Landtagswahl, griff dann aber schon recht bald auf die Krisenpolitik der Bundesregierung über und machte einen interessanten Schlenker zum Thema Migration, das politisch bisher weitgehend unter den Teppich gekehrt wurde, obwohl die Zahlen inzwischen wieder weit höher liegen als in den Jahren 2015 und 2016. Auch dies übrigens ein Aspekt, der bei der Ausdeutung des AfD-Ergebnisses in Niedersachsen (10,9 Prozent) hilfreich sein könnte. Es wurde jedenfalls sehr deutlich, dass insbesondere Ricarda Lang von den Grünen nicht allzu intensiv darauf eingehen wollte.

Beginnen wir aber mit Lars Klingbeil, der insgesamt eine souveräne Figur abgab und inzwischen zweifelsfrei das höhere Gewicht an der SPD-Spitze hat als seine Kollegin Saskia Esken. Er hob immer wieder hervor, dass die Bundesregierung keineswegs wichtige Entscheidungen hinausschiebe, wie ihr zuletzt auch wegen der 200 Milliarden Euro schweren, inhaltlich aber offenen „Gaspreisbremse“ vorgeworfen wird. Man arbeite im permanenten Krisenmodus, habe schon drei Entlastungspakete auf den Weg gebracht – und überhaupt noch dieses und jenes. Die Ankündigung von Christian Lindner, nach dem desaströsen Abschneiden seiner Partei werde man jetzt die Rolle der FDP in der Ampel-Koalition „überdenken“, nahm Klingbeil eher auf die leichte Schulter: Ja, es werde jetzt zu „Nachdenkprozessen" bei den Liberalen kommen; eine Panikreaktion scheint er aber nicht zu fürchten. Der Union warf Klingbeil vor, außer Kritik keine konstruktiven Lösungen anzubieten. Der einzige Vorschlag der CDU habe vor Monaten darin bestanden, die Gas-Pipelines aus Russland zuzudrehen. Aber dieses Thema hat sich ja inzwischen von selbst erledigt.

Jens Spahn verteidigt Friedrich Merz

Jens Spahn musste die unangenehme Aufgabe übernehmen, als Nordrhein-Westfale die Wahlschlappe der niedersächsischen CDU zu erklären – was er unter anderen mit dem Eingeständnis tat, nach 16 Jahren Regierungsverantwortung im Bund fehle es der Union aktuell womöglich noch an der „Kompetenzvermutung“. Soll das heißen, dass die Bundesbürger den Christdemokraten nach der langen Merkel-Zeit schlicht nichts mehr zutrauen, und dass auch Friedrich Merz bisher nichts daran ändern konnte? Irgendwie schon. Je länger man diesen Spahn-Satz auf sich wirken lässt, desto brutaler wirkt er: eigentlich eine Bankrotterklärung. Ansonsten kamen vom wie immer kampfeslustigen Jens Spahn die zu erwartenden Angriffe gegen die Ampelregierung nach dem Motto: chaotisch, entscheidungsfaul, und ständig würden die Bundesminister Lindner und Habeck über Kreuz liegen. Als die Rede kam auf Friedrich Merz, der unlängst von „Sozialtourismus“ aus der Ukraine gesprochen hatte, verteidigte Spahn seinen Parteivorsitzenden inhaltlich: Die Wortwahl sei zwar falsch gewesen, das Phänomen existiere aber. Gemeint sind Westukrainer, die in Deutschland als vermeintliche Kriegsflüchtlinge Sozialleistungen beziehen und gleichzeitig in ihrer Heimat wohnen bleiben.

Das war ein Punkt, den die Grünen-Vorsitzende nutzte, um sich ein bisschen über Merz zu empören, dessen Populismus „Methode“ habe und der den Leuten Angst einjagen wolle – womit der CDU-Chef wiederum nur die AfD stärke. Interessant an den Auftritten von Ricarda Lang ist vor allem, wie einstudiert und aufgesetzt sie wirken, wo die Grünen (und insbesondere die erst 28 Jahre alte Lang) doch immer so authentisch und erdverbunden rüberkommen wollen. Die Zusammenarbeit der Ampel dürfe nicht unter dem Ergebnis der Niedersachsenwahl leiden: Solcherlei tiefe Erkenntnisse und andere Allgemeinplätze mehr waren von der Parteivorsitzenden eigentlich die ganze Sendung über zu hören. Dass sie die „Existenzängste“ vieler Bürgerinnen und Bürger mit dem Dreiklang aus „Mindestlohn, Kindergrundsicherung und Bürgergeld“ bekämpfen möchte und nicht ein Wort über die wirtschaftliche Basis der Bundesrepublik verlor, passt dabei recht gut ins Bild der Grünen als Degrowth-Partei. Für 14,5 Prozent reicht es dennoch allemal.

CDU ohne Profil

Die pointiertesten Beiträge des Abends stammten von Robin Alexander. Der Welt-Vizechefredakteur ist ein trockener Humorist mit einer zynischen Ader, die auszuleben ihm die Bundespolitik jeden nur denkbaren Anlass liefert. Die Grünen sieht er nach der Niedersachsen-Wahl wieder in ihrer alten Rolle als Juniorpartner der SPD, und der Frust über die Ampel-Regierung in Berlin habe einzig der AfD genutzt, nicht aber der CDU. Was schlicht daran liege, dass niemand wisse, wofür die CDU inhaltlich eigentlich stehe. Das habe sich, so Alexander, in exemplarischer Weise auch auf dem zurückliegenden Parteitag gezeigt, den Friedrich Merz zwar mit markigen Worten eingeläutet habe – nur um hinterher über die Einführung der Frauenquote zu debattieren. Oder, als anderes Beispiel, der niedersächsische CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann: Zuerst warb er um die Grünen, dann um eine Fortsetzung von Rot-Schwarz. Mit dem Ergebnis, dass er jetzt in der Opposition sitzt.

Kurzum: Wer mit Humor auf die deutsche Politik des Jahres 2022 schaut, inmitten einer der tiefsten Krisen der Bundesrepublik, wird zuverlässig fündig. Spaß macht das zwar trotzdem nicht, denn solange von mangelnder „Kompetenzvermutung“ (Spahn) oder von „Fehlertoleranz“ (Julia Reuschenbach) die Rede ist, haben wir das Schlimmste noch vor uns. Also halten wir uns am besten an das berühmte Lied aus dem „Leben des Brian“ mit dem programmatischen Titel „Always look on the bright Side of Life“, worin es heißt: „If life seems jolly rotten / There‘s something you've forgotten / And that's to laugh and smile and dance and sing“. Und jetzt alle!

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