Auftritt bei Anne Will - Grünen-Chefin Ricarda Lang wagt den Atomkraft-Tabubruch

Stimmen die Grünen doch noch einer Laufzeitverlängerung der letzten deutschen Kernkraftwerke zu? Der Druck auf die Anti-Atom-Partei steigt jedenfalls. Und Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, machte am Sonntagabend im ARD-Fernsehen bei Anne Will den ersten Schritt.

Die Runde bei Anne Will am Sonntagabend / ARD
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Ricarda Lang, die 28 Jahre junge Bundesvorsitzende der Grünen, bereitet ihre Partei und die Öffentlichkeit auf eine atomkraftpolitische Wende vor. Das war am Sonntagabend in der ARD-Talkshow „Anne Will“ zu erleben. Leider erst gegen Ende der Sendung, in der es unter dem Titel „Angst vorm Gasmangel, horrende Preise – wie hart trifft die Krise Deutschland?“ zuvor nur um Umverteilung statt um Sicherung des Wohlstands ging.

Moderatorin Will fragte die Parteichefin, warum sich die Grünen trotz drohender Energieknappheit im kommenden Winter gegen eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen deutschen Atomkraftwerke stemmen. Lang sprach von einer Kosten-Nutzen-Rechnung, bei der es wichtig sei, auch die Risiken einzubeziehen. Sie zählte ein paar bürokratische Hindernisse auf, ohne die in der Anti-Atom-Bewegung seit Jahrzehnten beschworene Gefahr einer Nuklearkatastrophe auch nur zu erwähnen.

Habeck macht Strom-Stresstest

So behauptete Lang zwar, man müsste für den Weiterbetrieb der drei letzten Kernkraftwerke über deren geplante Abschaltung zum Jahresende hinaus „auf Sicherheitsstandards verzichten“, eine Aussage, der Fachleute entschieden widersprechen würden. Aber dann sagte sie: „Das ist bei wenigen Monaten natürlich nicht dasselbe wie bei mehreren Jahren.“

Insgesamt kämen die Grünen zu dem Schluss, dass die Laufzeitverlängerung „Stand jetzt nicht der richtige Weg wäre“, so die mittlerweile recht prominente Nachwuchspolitikerin. Das „Stand jetzt“ betonte sie deutlich und fuhr fort: „Gleichzeitig müssen wir sehen, wie es sich beim Strom entwickelt. Da schauen wir jeden Tag aufs Neue.“ Sie verwies auf einen Stresstest, den ihr Parteifreund und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck angekündigt habe. Sollte dabei herauskommen, dass eine Strommangellage drohe, müssten „alle Maßnahmen nochmal auf den Tisch“.

Die neue Linie der Grünen

Anne Will, die beim Thema Atomkraft ungewohnt kritisch nachbohrte, traute ihren Ohren nicht ganz. „Sie sagen jetzt zum ersten Mal für die Grünen: Es gibt die Möglichkeit, dass die Laufzeiten verlängert werden“, staunte sie. Ricarda Lang gab daraufhin nochmal wieder, worüber sie sich zuvor sicher auch mit Habeck verständigt hat. Es scheint die neue Atom-Linie der Grünen zu sein.

„Erstmal sage ich, dass wir das im Moment nicht tun werden“, erklärte Lang. „Dann sage ich, dass wir jeden Moment in dieser Krise natürlich immer auf die aktuelle Situation reagieren müssen und dabei alle Maßnahmen prüfen werden. Das haben wir in der Vergangenheit getan. Wir haben das nie kategorisch ausgeschlossen, sondern wir haben immer geschaut, was macht in der aktuellen Situation Sinn. Das tut Robert Habeck jetzt mit seinem Stresstest.“

Keine neue Brennstäbe

Sie beeilte sich noch, klar zu machen, dass es wenn überhaupt nur darum gehen dürfe, die vorhandenen Brennstäbe ein paar Monate länger zu nutzen. „Was wir nicht machen werden, ist eine Laufzeitverlängerung mit neuen Brennstäben, mit neuen Genehmigungsverfahren. Dieses Land hat sich richtigerweise dazu entschieden, sich von Atomkraft zu verabschieden.“ Auf den letzten Satz folgte keine Begründung. Er ist ein reiner Glaubenssatz, ein Bekenntnis.

CDU-Politiker Jens Spahn, der ebenfalls Gast in Wills Sendung war, nutzte die Kernkraft-Frage als Steilvorlage für einen Angriff auf die Ökopartei. „Wenn wir kein Stromproblem hätten, warum fahren wir dann Kohlekraftwerke hoch?“, fragte er rhetorisch und bezog sich dabei auf Habecks Anti-AKW-Argument, dass in Deutschland Gas fehle und kein Strom. „Kohle ist der Klimakiller in Deutschland. Das zeigt, Sie sind mehr Anti-Atom-Partei als Klima-Partei. Dass Sie lieber mehr Kohlekraftwerke laufen lassen als Kernkraftwerke, die klimaneutral sind.“

Schwerer Schritt für die Anti-Atom-Partei

Innerhalb der Ampelkoalition setzt sich die FDP zunehmend offensiv für eine Verschiebung des 2011 beschlossenen Atomausstiegs ein. Auch CDU und CSU sind dafür. Die drei Kernkraftwerke, die noch am Netz sind, sollen länger Strom produzieren. Womöglich könnten auch noch drei weitere, die bereits Ende 2021 abgeschaltet wurden, reaktiviert werden.

Für die Grünen wäre das ein schwerer Schritt, den sie ihrer Anhängerschaft nicht konfliktfrei vermitteln könnten. Das betont nüchtern-sachliche Auftreten von Lang aber auch von Habeck verdeckt, wie nervös die Parteispitze in dieser Frage ist. Denn bei der Kosten-Nutzen-Rechnung, die die Grünen zur Frage der Laufzeitverlängerung laut Lang ständig aktualisieren, spielt ein Kostenblock die entscheidende Rolle: Welche Verwerfungen drohen uns parteiintern?

Jüngere Grüne sind jetzt gefragt

Dass mit Ricarda Lang eine Vertreterin der jungen Generation zur besten Sendezeit ins Erste Deutsche Fernsehen geschickt wird, um dort den atompolitischen Tabubruch anzukündigen, ist kein Zufall. Schon vor dem Ukrainekrieg war einigen klugen Köpfen innerhalb der Grünen längst klar, dass die Ausstiegsreihenfolge (erst Kernkraft und dann Kohle) falsch ist, wenn man den Klimaschutz ernst nimmt. Mit der nun drohenden Gaskrise wird es offensichtlich.

Ein Kursschwenk ist dringend notwendig. Glaubhaft vertreten (und auch parteiintern einfordern) können ihn jüngere Grüne, die nicht in der Anti-Atom-Bewegung groß geworden sind.

Höhere Löhne gegen die Inflation

Weitere Gäste der Sonntagabendsendung waren der Talkshow-erprobte Ökonom Marcel Fratzscher und Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Bei der Atomkraft-Diskussion hielten sich beide zurück. Als es davor um Reaktionen auf steigende Energie- und sonstige Preise ging, forderte Fratzscher kräftige Gehaltssteigerungen. „Höhere Löhne sind das beste Instrument. Weil es permanent den Menschen mehr Geld in die Tasche gibt“, sagt der Chef des gewerkschaftsnahen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, also dass steigende Löhne die Inflation weiter anheizen, sehe er nicht. „Natürlich kann das entstehen. Aber im Augenblick gibt es dafür keine Anzeichen“, so Fratzscher.

Dem widersprach Dulger wenig überraschend. Die Unternehmen seien derzeit an der Grenze ihrer Möglichkeiten, sagt er. „Wir wissen im Moment in den Betrieben gar nicht, welches Feuer wir zuerst austreten sollen.“ Er vertraue darauf, dass die Tarifparteien vernünftige Lösungen finden werden, je nachdem, was in ihrer jeweiligen Branche möglich sei.

Erst der Industrie das Gas abschalten?

Bei der Streitfrage, ob im Notfall wirklich zuerst der Industrie das Gas abgestellt werden soll, weil Privathaushalte gesetzlich geschützt sind, hielt sich Dulger diplomatisch bedeckt. Aber er gab zu bedenken, dass Deutschland dann einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Industriestandorten habe. 

„Es sind nur fünf bis sechs europäische Länder, die ein Gasproblem haben“, sagte Dulger. „Alle anderen haben gar kein Gasproblem. Weder die Chinesen, noch die Amerikaner, noch die Koreaner, noch die Japaner. Und auch einige europäische Länder nicht.“ Als eine der größten Industrienationen der Welt sei Deutschland dann in einer besonderen Situation. „Deswegen brauchen wir einen Kompromiss, der uns so gut wie möglich durch diese Krise trägt“, forderte der Arbeitgeberpräsident.

 

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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