Krise des Gesundheitssystems - „Karl Lauterbach löscht das Feuer mit Benzin“

Der ambulanten Versorgung droht der Kollaps. Das sagen die Standesvertreter der Kassenärzte, Apotheker und Zahnärzte. Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, schlägt Alarm – und geht dabei hart mit der Politik des amtierenden Bundesgesundheitsministers ins Gericht.

KBV-Chef Andreas Gassen / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Andreas Gassen ist Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die die Interessen der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten auf Bundesebene vertritt und mit 185.298 Ärzten und Psychotherapeuten die ambulante Versorgung in Deutschland organisiert. Am 19. Oktober hat sich Gassen zusammen mit der Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und dem Vorstandsvorsitzenden der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung in einen Notruf an Bundeskanzler Olaf Scholz gewandt: Die ambulante Versorgung stehe ihrer Einschätzung nach vor dem Kollaps. 

Herr Gassen, es gibt eine alte Baderegel, nach der man nie um Hilfe schreien sollte, wenn man keine Hilfe benötigt. Jetzt haben Sie jüngst zusammen mit der Standesvertretung der Zahnärzte und der Apotheker ein S.O.S. an den Bundeskanzler abgesetzt. Wie zugespitzt ist derzeit die Lage der ambulanten Versorgung in Deutschland?

Die Situation ist wirklich ernst. Sonst hätten wir das nicht gemacht. Denn wenn man sich immer nur beklagt, dann erschöpft sich das irgendwann natürlich. Dessen sind wir uns bewusst. Doch mittlerweile ist eine Situation entstanden, die gewiss nicht nur Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu verantworten hat. Doch der löscht momentan das Feuer mit Benzin und verschärft die Situation immer mehr.

Aber Karl Lauterbach hat doch durchaus Reformen angepackt – von der Krankenhausreform bis zur Finanzierungsreform der Gesetzlichen Krankenkassen …

Die eigentlichen Probleme hat er aber gar nicht adressiert. Im Gegenteil: Er begann seine legislative Kampagne damit, dass er die Neupatientenregelung einkassiert hat und den Kassenärzten somit das Geld wieder weggenommen hat. Er hat bei den Zahnärzten die Parodontose-Prophylaxe einkassiert und auch bei den Apothekern zugeschlagen. Das wurde immer mit dem Kostendruck argumentiert. Doch wenn man eine Milliarde Euro für Gesundheitskioske ausgibt …

Ein deutschlandweit geplantes Beratungsangebot für Patienten in sozial benachteiligten Gebieten ...

... dann verstehe ich nicht, warum man gleichzeitig bestehende Strukturen der Versorgung und Beratung schwächen muss. Es drängt sich nachhaltig der Verdacht auf, dass Karl Lauterbach im Kern eine andere Form der Versorgung will. Das konnten wir bereits in der Amtszeit von Ulla Schmidt bemerken, wo Karl Lauterbach ja im Hintergrund bereits beratend tätig gewesen ist. Was Lauterbach anscheinend im Sinn hat, das ist eine immer stärker staatlich gelenkte Gesundheitsversorgung – und staatlich bedeutet in diesem Kontext fast schon, eine von Karl Lauterbach gelenkte Versorgung; eine Versorgung also, die so funktioniert, wie er sich das abstrakt vorstellt. Dabei lässt der Minister die bereits bestehende gut funktionierende Struktur von noch überwiegend inhabergeführten Praxen der Haus- und Fachärzte, der Zahnärzte und der Apotheken außen vor. Diese Struktur ist hocheffizient und ist auch in den Kiezen und Stadtvierteln die erste Anlaufstelle für die Versorgung vor Ort. Es ist ja glücklicherweise nicht so, dass die Menschen bei jedem Problem sofort ins Krankenhaus rennen. 

Im Gegenteil: Während Corona ist der Ansturm auf die Krankenhäuser eher zurückgegangen.

In der Tat: Man hat 15 Prozent weniger behandelt. Das entspricht einer Zahl von rund drei Millionen Fällen; ein Aufkommen, für das man 500 Krankenhäuser bräuchte. Heißt andersherum: Man könnte demnach 500 Krankenhäuser eigentlich zumachen, ohne eine Versorgungsreduktion zu spüren. 

Das Gegenteil scheint aber der Fall zu sein.

Ja, der Krankenhaussektor ist der einzige Bereich, in den Lauterbach zurzeit noch relativ ungesteuert Geld hineinpumpt. Da gibt es etwa Energiehilfen für sechs Milliarden Euro. Die aber scheinen immer noch nicht zu reichen, sodass nun noch einmal fünf weitere Milliarden nachgeschossen werden. Da sind wir als KBV natürlich schon verwundert. Diese elf Milliarden Euro würden ausreichen, um etwa das Budget bei den niedergelassenen Ärzten bis zum Jahr 2030 auszusetzen. 

Aber die Krankenhäuser sollen laut Krankenhaus- und Notfallreform ja auch bald schon eine größere Rolle bei der Versorgung spielen.

Die Krankenhäuser sind doch jetzt schon finanziell wie strukturell kaum mehr in der Lage, mit dem aktuellen Patientenaufkommen umzugehen. Das wird also mit Ansage scheitern.

Das klingt so, als wäre derzeit wirklich niemand mit der Arbeit des Gesundheitsministers zufrieden.

Das ist wohl so und in der Tat ein Novum. Als Gesundheitsminister hat man natürlich per se schon wenige Freunde. Aber es ist wohl noch nie so gewesen, dass die Ärzte zeitgleich und geschlossen mit den Zahnärzten und den Apothekern aus guten Gründen protestieren. Zudem sind letztlich auch die Krankenhäuser – vertreten durch die DKG – offenkundig nicht wirklich zufrieden. Die bekommen zwar mehr Geld, aber damit kommen sie trotzdem nicht wirklich weiter, weil sie keine planbare Strukturreform bekommen. Und die Krankenkassen sind auch nicht glücklich. 

Es geht Ihnen ja nicht nur um fehlendes Geld, sondern etwa auch um überbordende Bürokratie oder Lücken bei der Digitalisierung. Was läuft in diesen Bereichen falsch?

Wenn Digitalisierung funktioniert, dann ist sie natürlich eine tolle Unterstützung. Wenn sie aber nicht funktioniert – und das ist leider das, was wir im Gesundheitssystem erleben –, dann kann man sagen: It’s a bitch! Und weil das momentan eben so ist, wird die Digitalisierung im Gesundheitssystem nicht goutiert – weder vonseiten der Patienten, noch von den Praxen. Doch anstatt dass man hingeht und das Produkt verbessert, arbeitet man nun mit Sanktionen für Praxen, die auf die digitalen Angebote nicht genügend zurückgreifen. 

 

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In Ihrem Notruf sagen Sie, wir hätten nicht mehr viel Zeit, um den drohenden Praxenkollaps zu verhindern. Ist das nicht ein bisschen sehr pathetisch?

Wir haben im Moment die Situation, dass ein großer Teil der Praxeninhaber der Babyboomer-Generation angehört. Viele von denen sagen sich mittlerweile: Es reicht! Die Situation ist einfach so mies, dass ich mit 62 oder 63 den Bettel hinwerfe. Früher haben viele Ärzte mit 70 gearbeitet; doch die Zeit ist vorbei, und auf der anderen Seite kommen nicht genügend Ärztinnen und Ärzte nach, was nicht unwesentlich auch wieder mit den schlechten Bedingungen zu tun hat. Wir bräuchten für einen alten Arzt, der geht, aktuell eineinhalb oder zwei junge Nachrücker, da die junge Generation 60-Stunden-Wochen nur noch begrenzt toll findet und oft auf Teilzeitmodelle setzt. Wenn nun also die, die eigentlich in fünf Jahren gehen würden, immer öfter schon in fünf Monaten gehen, weil eventuell Mietvertragsverlängerungen anstehen, wenig durchdachte Digitalisierungsvorhaben realisiert werden sollen oder Fachkräfte nicht mehr zu haben sind, dann wird uns sehr, sehr schnell eine Versorgungsstruktur in der Fläche wegbrechen, die wir nie wieder aufbauen können. Eine geschlossene Praxis ist wie ein ausgefallener Zahn – da wächst nichts mehr nach. 

Es gibt eine Analyse der Robert-Bosch-Stiftung, die davon ausgeht, dass bis 2035 gut 11.000 Hausarztpraxen nicht mehr besetzt sein werden. Wie viele freie Sitze gibt es denn bereits heute?

Wir haben schon heute 6000 Sitze, die nicht mehr besetzt sind. Das heißt, wir reden nicht von zehn Jahren, sondern von der nahen Zukunft. Ein Drittel der Hausärzte ist über 60. Selbst wenn man von einer normalen Arbeitszeit ausgeht, dann ist dieses Drittel in den nächsten fünf Jahren regulär aus der Versorgung raus. Und das wird einen Dominoeffekt lostreten, da die noch arbeitenden Ärzte noch mehr arbeiten müssen und Termine immer seltener zu haben sein werden. 

Jetzt haben Sie sich mit Ihrem Notruf ja erst gar nicht mehr an den Bundesgesundheitsminister gewandt, sondern gleich an den Bundeskanzler. Versprechen Sie sich von Olaf Scholz denn mehr?

Die Versorgung mit Gesundheit ist so wichtig wie die Bildung. Das ist sozialer Kitt. Da sollte der Bundeskanzler also schon einmal drüber nachdenken, denn dieser soziale Kitt wird dringender denn je benötigt, wie man jeden Tag sehen kann. Zudem arbeiten in Arztpraxen gut eine Million Menschen, die alle auch wahlberechtigt sind. Und zudem sehen wir in den Praxen Millionen Menschen jeden Tag. Diese Menschen werden sich von der Politik nicht bieten lassen, dass unsere gute Versorgung sehenden Auges vor die Wand gefahren wird. Dies zeigen die aktuellen Wahlergebnisse ja überdeutlich. 

Man könnte in dieser Situation natürlich versucht sein, einen Großteil der Misere mit Beitragserhöhungen zu lösen. Andererseits haben die Krankenkassen für 2024 schon wieder eine Beitragserhöhung angekündigt. Wie also kriegt man in einem ohnehin schon sehr teuren Gesundheitssystem die Kuh vom Eis?

Man kann zum Beispiel Effizienzreserven heben. Da müsste man sich dann zum Beispiel fragen, ob es wirklich schlau war, zum Ende der Corona-Pandemie noch einmal drei Impfstoffe für jeden Bundesbürger zu bestellen – Impfstoff, den verständlicherweise keiner mehr haben möchte und den wir jetzt diskret irgendwo entsorgen. Dann die Kosten für die geplanten Gesundheitskioske: eine Milliarde Euro; dann noch die elf Milliarden Euro für die Krankenhäuser und die zehn Milliarden nicht gegenfinanzierten Gesundheitsleistungen für ALG-II-Empfänger. Das sind erhebliche Summen. Sinnvollerweise würde man diese nutzen, um die Budgets aufzuheben. Diese Budgetierung ist 30 Jahre alt und passt überhaupt nicht mehr zur heutigen Versorgungsituation. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass genug Geld im System ist; dass es aber in erheblichen Anteilen durch eine fehlgeleitete Gesundheitspolitik verschleudert wird.

Jetzt haben wir bei nahezu allen Problemen immer nur die Angebotsseite in den Blick genommen. Was aber ist mit der Nachfrage? Interessanterweise haben sich etwa laut Daten der DAK Anfang 2023 bis zu 70 Prozent mehr Menschen krankschreiben lassen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Und noch interessanter: Die Krankschreibungen nach dem Pandemiejahr 2020 waren weit höher als die während der akuten Phase der Pandemie. Gibt es also seither mehr Nachfrage nach Gesundheitsleistungen? Und wenn ja, wie kommt das eigentlich?

Das ist sicherlich komplex. Aber eines ist gewiss: Doktor Google trägt bestimmt nicht dazu bei, dass die Menschen gesundheitsbewusster oder solider informiert werden. Wir haben einen Verlust der Gesundheitskompetenz und keine wie auch immer geartete Steuerung. Es ist ja durchaus ein hoher Wert, dass der Zugang zum Gesundheitssystem in Deutschland sehr niedrigschwellig ist, aber wir sehen dann immer auch eine durchaus relevante Anzahl an Menschen, die in medizinisch nicht zu begründender Frequenz alle möglichen Ärzte in Anspruch nehmen. Die Frage stellt sich also, wie ich das Inanspruchnahme-Verhalten der Menschen in den Griff bekommen kann.

Hat nicht vielleicht auch der sehr paternalistische Gesundheitsbegriff während der Pandemie dazu beigetragen, dass Menschen ihr Gespür für sich selbst und für ihren eigenen Körper verloren haben?

Ich glaube, die Pandemie hat uns an vielen Stellen tatsächlich nicht genützt – nicht nur, was die Gesundheit betrifft, sondern auch bei Fragen des demokratischen Miteinanders. Aber das rückläufige Gespür für die eigene Gesundheit haben wir auch schon vor der Pandemie erlebt. Das Wissen um Hausmittel und um die Gesundheitskompetenz der eigenen Großmutter ist in Vergessenheit geraten. Neulich erzählte mir ein Kinderarzt, ihn habe eine besorgte Mutter abends angerufen, weil es ihrem Kind nicht gut ging und es bestimmt Fieber habe. Auf die Frage, wie hoch die Temperatur denn sei, habe die Mutter gesagt: Keine Ahnung, wir haben ja gar kein Fieberthermometer! Da ist also viel verloren gegangen. Und es wäre etwa die Aufgabe der Schulen, des öffentlichen Gesundheitswesens und anderer staatlicher Stellen, die Gesundheitskompetenz neu herauszubilden. Doktor Google jedenfalls wird das Problem nicht lösen. Meiner Erfahrung nach nutzen leider besonders ängstliche Menschen die Suchmaschine. Und die sind spätestens beim dritten Klick beim bösartigen Tumor.

Das Interview führte Ralf Hanselle.

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