Allensbach Freiheitsindex 2023 - Sire, geben Sie Meinungsfreiheit!

Der „Freiheitsindex 2023“ offenbart, wie sehr Cancel Culture und Intoleranz die demokratische Öffentlichkeit beschädigt haben. Mit der Meinungsfreiheit ist es längst zum Gotterbarmen. Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen!

Demonstranten vor dem Brandenburger Tor in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Artikel 5 GG gilt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“, heißt es dort für unsere Gegenwart fast schon etwas zu weihevoll und pathetisch. Ein Versprechen, auf das man sich seit 75 Jahren berufen kann. Und weiter heißt es dort: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“ 

Es war die Erfahrung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates – und hier insbesondere die Außerkraftsetzung des Artikels 118 der Weimarer Reichsverfassung, wonach niemand behindert oder benachteiligt werden durfte, sollte er von seinem Recht auf Meinungsäußerung Gebrauch machen –, die die vier Mütter und die 61 Väter des Grundgesetzes 1948 dazu veranlassten, das Recht auf Meinungsfreiheit ganz vorne, gleich in den ersten Artikeln einer neu zu erarbeitende Verfassung, zu verankern. 

Grüne sind unbekümmert

Und dort steht es bis heute. Felsenfest und unverrückbar. Das Einzige, was diesem grundgesetzlich verbürgten Recht zu Leibe rücken könnte, wären die in Absatz 2 definierten Schranken, die freiwillige Selbstkontrolle von Film und Medien, das 2017 verabschiedete Netzwerkdurchsetzungsgesetz, vor allem aber die in der Bevölkerung und in den Medien gelebte Rechtspraxis.

Und mit der scheint es, glaubt man dem jüngst veröffentlichten „Freiheitsindex 2023“, einem Forschungsprojekt des Instituts für Demoskopie Allensbach und Media Tenor International, wahrlich nicht zum Besten zu stehen. Im Gegenteil: Auf die beliebte Frage, ob die Bürger das Gefühl hätten, in Deutschland die eigene politische Meinung frei äußern zu dürfen, erzielten die Forscher heuer das schlechteste Ergebnis seit den 1950er Jahren.

Nur noch 40 Prozent der Befragten gaben demnach an, dass es mit der gefühlten Meinungsfreiheit hierzulande zum Guten stünde. 44 Prozent hingegen hatten im Gegensatz dazu eher das Gefühl, mit der politischen Meinung besser vorsichtig umgehen zu müssen. 1990, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und zu einer Zeit, als manch ein Bürger den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit bereits am Zenit angekommen sah, waren ganze 78 Prozent der befragten Deutschen der Meinung, dass man seine politische Überzeugung unbekümmert äußern könne. 

 

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Das wirklich Erschreckende, letztlich aber auch nicht ganz so Verblüffende der diesjährigen Umfrage: Das Gefühl der Zurückhaltung hängt immer mehr vom Bildungsstand, ganz besonders aber von der Parteipräferenz ab. Während in den politischen Mittellagen und an den rechten Rändern in Sachen Meinungsfreiheit große Skepsis vorherrscht und z.B. 62 Prozent der AfD-Anhänger die Ansicht vertreten, dass man bei politischen Meinungsäußerungen eher Vorsicht walten lassen sollte (57 Prozent sind es bei der FDP, 43 Prozent bei der Union und sogar 46 Prozent bei der SPD), gibt es in Deutschland nur noch eine Partei, deren Anhänger sich bei politischen Meinungsäußerungen rundherum wohlzufühlen scheinen: die Parteigänger der Grünen. 

Nicht nur sind in dieser Gruppe 75 Prozent der Befragten (also 35 Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt) der Auffassung, dass man in Deutschland bei politischen Dingen frei und unbekümmert reden könne; die Anhänger der Grünen sind auch letztlich die einzig politisch fest umrissene Gruppe, bei der in der politischen Rede ein gutes Gefühl zu überwiegen scheint. Nur 19 Prozent jedenfalls tendieren hier in Sachen Meinungsfreiheit zu Angst oder Zurückhaltung. Und es entbehrt somit nicht ganz der Ironie – wahlweise auch dem Kalkül –, wenn ausgerechnet aus jener Gruppe, in der demokratische Freiheiten sorglos gelebt werden, nach noch mehr „Demokratieförderung“, nach „Bürgerbeteiligung“ oder gar nach Förderprogrammen zum Schutz journalistischer Arbeit gerufen wird. 

Keine Krokodilstränen 

Die wirkliche Not jedenfalls scheint jenseits der Öko-Partei zu herrschen. Und das ist für eine gelebte Demokratie, man muss es so deutlich sagen, ein Fiasko! Wenn – und auch dies ist ein Ergebnis der vor zwei Tagen vorgelegten Studie – lediglich noch ein Drittel (33 Prozent) der Befragten dem für den öffentlichen Diskurs und den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (Jürgen Habermas) so fundamental wichtigen Satz „Ich spreche so, wie ich möchte, und lasse mir dabei nichts vorschreiben“ zustimmen, dann sollten Alarmglocken schrillen! 

Es scheint höchste Zeit, dass sich Legislative wie Exekutive – und bei Letzterer besonders der über allen Parteien stehende Bundespräsident – Gedanken über das Fundament machen, auf dem wir uns als demokratische Öffentlichkeit alle bewegen. 2019 nämlich, ein Jahr vor den im öffentlichen Bewusstsein noch immer nachwirkenden Grundrechtseinschränkungen durch die politischen Maßnahmen der Corona-Politik, waren es immerhin noch 17 Prozent mehr, die dem oben zitierten Satz zustimmen konnten. Vollkommen zu Recht sprechen die Verfasser des diesjährigen „Freiheitsindex“ daher von einer „Erosion der subjektiven Meinungsfreiheit“.

Doch bevor jetzt bei politisch und medial Verantwortlichen dicke Krokodilstränen fließen – oder im schlimmsten Fall sogar dementiert wird –, hier eine kleine Chronik der Eskalation: Da waren im Corona-Jahr 2020 z.B. Ministerpräsidenten (namentlich der niedersächsische Landesvater Stephan Weil), die ihre eigenen Bürger zur Denunziation aufriefen. Da waren Impf-Haltungsjournalisten (Nikolaus Blome, Der Spiegel), die ihre Leser ermutigten, mit dem Finger auf all jene zu zeigen, die in Sachen mRNA-Impfung anderer Meinung waren. Später dann, während des Ukraine-Krieges, waren da die unter unzähligen Juristen mehr als fragwürdige Ergänzung des Paragrafen 130 StGB und schließlich die Ad-hominem-Attacken auf all jene, die in den seither geführten Debatten um Krieg und Frieden einfach nur das einfordern, was zur Beschreibung von Realitäten unausweichlich ist: Differenz und Nuancierung. 

Wider die Faulheit

Spätestens also als der einstige Verfassungsrichter Udo di Fabio – ein Mann, der wahrlich nicht im Verdacht steht, ein „Schwurbler“ oder gar „Vulgärpazifist" (Robert Habeck) zu sein – in den zurückliegenden Debatten vor den „eifernden Zügen eines Glaubenskampfes, der Andersdenkende nicht als nur mehr Gegner, sondern als Feinde betrachtet und mit Hass verfolgt“ warnte, hätte man alarmiert sein können. Die Art und Weise, wie wir in den vergangenen Jahren mit der Meinungsfreiheit verfahren sind, war im wahrsten Sinne zum Gotterbarmen! Vielleicht konnte man mittels Ankeifen, Draufhauen und Wegputzen einen kurzfristigen Nudging-Erfolg beim sonst recht planlosen Durchregieren erzielen; für eine atmungsaktive demokratische Kultur aber, der „Freiheitsindex 2023“ beweist es, wirkte all das verheerend.

Doch es ist wohlfeil, den mahnenden Finger nun gegen all jene zu erheben, die oft aus Angst oder Unwissenheit die Axt an die Freiheit des je Anderen gelegt haben. Letztlich, und auch das macht die aktuelle Allensbach-Untersuchung deutlich, liegt es an jedem Einzelnen, die in Artikel 5 GG gewährte Freiheit auch wirklich zu gewähren und zu gebrauchen. Die Autoren sagen das nicht explizit. Doch ein dem Index vorangestelltes Zitat von Immanuel Kant ist da so offenherzig wie gnadenlos: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen […] gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“

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