AKW-Laufzeitverlängerung - Olaf Scholz muss die Kernkraft zur Kanzlersache machen

Die Grünen-Minister Robert Habeck und Steffi Lemke wollten die Debatte über eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke schnell beenden. Doch das gelang ihnen nicht. Dass sie dabei auch Falschinformationen verbreiteten, zeigt, dass Kanzler Scholz eingreifen muss. Die Lage ist zu ernst, um auf innerparteiliche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.

Als würde man Metzger zur veganen Ernährung befragen: Die Grünen-Minister Steffi Lemke (Umwelt) und Robert Habeck (Wirtschaft) sind für die Atomkraft-Laufzeitverlängerung zuständig / dpa
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„Es gibt keine Denktabus“, sagte Robert Habeck Ende Februar, vier Tage nach Russlands Einmarsch in die Ukraine, als ihn die ARD-Journalistin Tina Hassel im „Bericht aus Berlin“ nach einer Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke fragte. Das sei eine „relevante Frage“, antwortete der frisch ins Amt gekommene Wirtschaftsminister, „ich würde sie nicht ideologisch abwehren“ und kündigte an, dass sein Ministerium dies prüfen werde. 

Das war eine überraschende Aussage. Denn dass ein Grünen-Politiker eine ideologiefreie Überprüfung des Atomausstiegs verspricht, ist in etwa so, als würde die Metzgerinnung ein unvoreingenommenes Gutachten zur veganen Ernährungsweise ankündigen. Und so kam dann auch, oh Wunder, bei Habecks Prüfung heraus, dass ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke kaum möglich und keinesfalls sinnvoll sei. Neben Habecks Ministerium war das von seiner Parteikollegin Steffi Lemke geführte Umweltministerium maßgeblich daran beteiligt. Man wollte die Debatte damit im Keim ersticken, doch das klappte nicht. 

Seitdem Putin die Deutschen spüren lässt, dass sie der 2000 von Rot-Grün beschlossene und 2011 von Angela Merkel verschärfte Atomausstieg nicht ins verheißene Paradies der „Erneuerbaren“, sondern in die Klauen eines kriegerischen Fossilokraten geführt hat, melden sich sogar bei den Grünen Pragmatiker zu Wort, die einen kalten und dunklen Winter mehr fürchten als eine Abkehr vom Pfad der Anti-Atom-Tugend.

Grüne in München wollen Atomausstieg verschieben

So hat sich der Münchner Stadtverband der Ökopartei für einen auf wenige Monate begrenzten Weiterbetrieb des letzten bayrischen Kernkraftwerks Isar 2 ausgesprochen. Das Kraftwerk soll eigentlich, so hat es der Bundestag nach dem Reaktorunglück in Fukushima beschlossen, in der Silvesternacht 2022 für immer vom Netz gehen. So wie die beiden anderen Atomkraftwerke, die derzeit noch in Betrieb sind: Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) und Emsland (Niedersachsen). Doch ob das mitten im Winter während einer sich weiter zuspitzenden Energiekrise eine gute Idee ist, daran haben nicht nur immer mehr Deutsche, sondern auch europäische Partner erhebliche Zweifel. 

„Die Versorgungssicherheit der Münchnerinnen und Münchner steht für mich als Bürgermeisterin an oberster Stelle. Stromengpässe würden auch unsere Unternehmen schwer treffen“, erklärt die grüne Kommunalpolitikerin Katrin Habenschaden ihr Rütteln am Atomkraft-Tabu. „In dieser außergewöhnlichen Situation muss Politik kompromissbereit und pragmatisch sein. Als Grüne übernehmen wir Verantwortung für München.“

Stromnetz-Stresstest soll Klarheit bringen

Unterdessen hat Wirtschaftsminister Robert Habeck einen neuen „Stresstest“ in Auftrag gegeben, der drohende Engpässe im Stromnetz identifizieren soll – und zwar unter verschärften Bedingungen. Darauf hatte der Koalitionspartner FDP gedrängt.

Bei den Grünen, sowohl in München als auch an der Bundesspitze, lautet die offizielle Linie jetzt: Wir warten auf das Ergebnis des „Stresstests“. Sollten tatsächlich Versorgungsprobleme zu befürchten sein, könne man über einen sogenannten Streckbetrieb nochmal reden. Gemeint ist eine Laufzeitverlängerung für wenige Monate. Die vorhandenen Brennstäbe würden dafür ausreichen. Neue Brennstäbe zu beschaffen, um die Kernkraftwerke für mehrere Jahre weiterlaufen zu lassen, lehnen die Grünen bisher rigoros ab. Während FDP und CDU/CSU inzwischen genau das fordern. 

Anti-Atom-Veteran Jürgen Trittin wettert gegen Bayern

Habecks eigentlicher Stresstest hat noch nicht begonnen. Er betrifft nicht das Stromnetz, sondern das Innenleben seiner Partei. Die Grünen sind aus der Anti-Atom-Bewegung hervorgegangen, der fast vollendete Ausstieg aus der jahrzehntelang verteufelten Technologie ist ihr historischer Triumph. Vor allem älteren Grünen fällt es schwer, sich einzugestehen, dass der nahezu CO2-freie Atomstrom gegenüber der klimaschädlichen Kohle das kleinere Übel ist.

Allen voran: Anti-Atom-Veteran Jürgen Trittin, der auf den linken Flügel seiner Partei immer noch großen Einfluss hat und den ersten Ausstiegsbeschluss auch als persönlichen Sieg sieht. Er war damals Umweltminister unter Gerhard Schröder. In einem aktuellen Spiegel-Interview macht Trittin deutlich, was er von der Kompromissbereitschaft der Münchner Grünen hält: nichts. Lieber würde Trittin den Bayern den Strom abdrehen als einer noch so kurzen AKW-Laufzeitverlängerung zuzustimmen. Seinen Landesverband (Niedersachsen) hat er offenbar hinter sich. Dort ist im Oktober Landtagswahl.

Falschinformationen zum „Streckbetrieb“

Die offene Frage ist: Wagt Robert Habeck, der in der Energiekrise den abwägenden, verantwortungsbewussten Staatsmann gibt, den offenen Konflikt mit den eigenen Leuten? Bisher ist er davor zurückgeschreckt und hat sogar Falschinformationen verbreitet, um sich der Atomfrage nicht ernsthaft stellen zu müssen.

Davon zeugt ein Video, das Habeck am 23. Juni aufgenommen und auf seinem Instagram-Kanal verbreitet hat. Unter dem Titel „Zeit für Eure Fragen: Gas und Versorgungssicherheit“ beantwortet er darin auch eine Frage zur AKW-Laufzeitverlängerung. Er kommt auf den sogenannten Streckbetrieb zu sprechen und erklärt: „Wenn man sie (die vorhandenen Brennstäbe) jetzt länger nutzen will, dann müsste man sie in diesem Jahr weniger stark abbrennen, Streckbetrieb. Das nützt uns aber gar nichts.“

Habecks Argumentation, die sich auch im offiziellen Prüfvermerk seines und des Umweltministeriums wiederfindet und von zahlreichen Medien übernommen wurde, lautet: Im Streckbetrieb würden keine zusätzlichen Strommengen erzeugt, daher lasse sich dadurch auch kein Gas ersetzen. Nützt also nichts. Abgehakt.

Habecks Ministerium räumt Fehler ein

Doch das stimmt überhaupt nicht. Im AKW-Streckbetrieb lassen sich sehr wohl zusätzliche Strommengen erzeugen. Genau das ist das Wesen des Streckbetriebs. Darauf machten die Fachleute des Branchenverbands Kerntechnik bereits im März aufmerksam: „Die Aussage hinsichtlich Streckbetrieb und zusätzlichen Strommengen ist nicht korrekt“, kommentierte der Verband Habecks Prüfvermerk. „Die Kernkraftwerke, insbesondere das Kernkraftwerk Isar 2, könnte bei vorliegender Beladung im Frühjahr 2023 noch für einige Monate zusätzliche Strommengen im Streckbetrieb produzieren. Streckbetrieb bedeutet Ausnutzung von Brennstoff über das geplante Zyklusende hinaus und damit die Produktion zusätzlicher Strommengen.“ Die technischen Details erläutern zwei Experten, die beim Betreiber des Isar-2-AKW arbeiten, in einem eben erschienenen Fachbeitrag.

Für die Münchner Grünen ist das ebenfalls längst klar. Denn sie begründen genau damit, warum sie dem Streckbetrieb zustimmen würden: Weil er aus den vorhandenen Brennelementen zusätzliche Energie herausholt, ohne dass neuer Atommüll entsteht.

Nach mehrmaligem Nachhaken räumte ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums nun gegenüber Cicero ein, dass Habeck mit seiner Streckbetriebs-Aussage falsch lag. Die Schuld dafür gibt er den Betreibern der Kernkraftwerke. Denn die Chefs der Stromkonzerne hätten bei einem Krisengespräch mit den beiden Ministerien im März über die Möglichkeiten des Streckbetriebs nicht richtig informiert.

Kernkraftgipfel im Kanzleramt 

Der Fall zeigt zum einen, dass der Teufel im Detail liegt. Er zeigt aber auch, dass die Atomkraftfrage in den von Grünen geführten Ministerien für Wirtschaft und Umwelt nicht gut aufgehoben ist.

Es ist an der Zeit, dass Olaf Scholz das Thema zur Chefsache macht. Ein Kernkraftgipfel im Kanzleramt, wie ihn der energiepolitische Sprecher der FDP-Fraktion Michael Kruse jüngst gefordert hat, ist notwendig. Die Lage ist viel zu ernst, um auf innerparteiliche Grabenkämpfe und Befindlichkeiten der Grünen Rücksicht zu nehmen.
 

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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