Aufstieg einer Partei - Die AfD spielt Hase und Igel

Hinter dem Erfolg der AfD stehen auch mediale und juristische Strategien, die ihre Gegner oft alt aussehen lassen. Wie funktionieren diese Guerilla­methoden im Europawahlkampf?

Illustration: Viola Schmieskors
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Für die AfD ist das Wahljahr 2024 bloß ein Testlauf. Die Europawahl am 9. Juni und drei Landtagswahlen im Osten sollen zeigen, wie weit die Rechtsaußenpartei inzwischen in die Mitte des Landes vorstoßen kann. Es werden Strategien erprobt und Prozeduren eingeübt für die Bundestagswahl des Jahres 2025. Zu ihr will die Partei erstmals sogar mit einem eigenen Kanzlerkandidaten antreten. Es ist ein Hase-und-Igel-Spiel, bei dem die Etablierten oft ausgetrickst werden.

Nachdem sich die Rauchschwaden vom Wannsee verzogen haben, können der AfD in diesem Jahr auf dem Weg zu historischen Wahlerfolgen eigentlich nur noch zwei Dinge gefährlich werden. Da wäre einerseits das Gerichtsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Münster. Die AfD wehrt sich gegen den Vorwurf, sie sei ein extremistischer Verdachtsfall. Weist das Gericht die Beschwerde dagegen mitten im Wahlkampf zurück, dürfte das Wählerstimmen kosten. Und dann wären da noch Vorgänge wie der um den Europakandidaten Petr Bystron. Dem Deutschen tschechischer Herkunft wurde auf einer Internetseite vorgeworfen, er „könnte“ Geld von Russland-affinen Netzwerken rund um die Plattform „Voice of Europe“ (VoE) erhalten haben. Das soll ein Tonbandmitschnitt dokumentieren, der dem tschechischen Geheimdienst vorliegt. (Dieser Text ist vor den jüngsten Vorwürfen gegen AfD-Politiker Maximilian Krah entstanden; Anm. d. Red.)

Bystron bezeichnete die Vorwürfe als „Verleumdung“ und legte eine persönliche Erklärung vor. Die war aber so langatmig und uneindeutig, dass Alice Weidel und Tino Chrupalla Bystron sicherheitshalber in den Bundesvorstand vorluden. Am Ende stand Behauptung gegen Behauptung. „Zum jetzigen Zeitpunkt muss der Bundesvorstand von der Unschuld Herrn Bystrons ausgehen“, teilten die AfD-Bundessprecher mit. Nach restlosem Vertrauen klingt das nicht. Aber nun geht es auch für Bystron zunächst weiter mit dem Europawahlkampf. Und der wird von der AfD vor allem digital geführt.

Öffentlichkeit im Umbruch

Schon seit Jahren befindet sich Deutschlands Öffentlichkeit im Umbruch. Schoben sich früher professionelle Medien als Filter der Qualitätssicherung zwischen das Wahlvolk und die Politik, arbeiten längst alle Parteien daran, diese Funktion außer Kraft zu setzen. Es geht darum, zu den Wählern direkte Tuchfühlung aufzubauen – vorbei an den Medien. Vor allem so erklärt es sich, dass die Mitarbeiterzahl in den Pressestäben von Ministerien, Staatskanzleien und Parteizentralen immer weiter wächst. Die Politik will selbst zum bestimmenden Medium werden. Für eine aufgeklärte Demokratie steckt hierin gehöriger Sprengstoff: Wer eigentlich soll künftig noch die Herrschenden kontrollieren, wenn diese den öffentlichen Raum bestimmen, vielleicht sogar die Rechtspartei selbst?

Die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel jedenfalls hat ihrer Partei als Strategie vorgegeben: „Unser ambitioniertes Fernziel ist es, dass die Deutschen irgendwann AfD und nicht ARD schauen.“ Für die anderen Parteien gilt ähnliches, aber keine arbeitet daran so erfolgreich wie die AfD. Die Augen sind dabei ganz auf die digitalen Welten gerichtet. Innerhalb kürzester Zeit und mit geringen Kosten können so Millionen von Menschen erreicht werden. Der Bundesschatzmeister der AfD, Carsten Hütter, bestätigt denn auch, das Budget für die Europawahl werde zu „erheblichen Teilen“ in digitale Strategien investiert. Die AfD setzt damit aber nur fort, was sie schon vor Jahren begonnen hat.

Das geht aus einer aktuellen wissenschaftlichen Arbeit hervor, die am Lehrstuhl des Politikwissenschaftlers Uwe Backes (TU Dresden) entstanden ist. Am Beispiel der Videoplattform TikTok hat Johann-Christoph Landgraf die Kommunikationsmacht der AfD untersucht. Eigentlich war TikTok einmal dazu gedacht, kurze Unterhaltungsvideos für junge Leute zu vertreiben. Inzwischen hat die Plattform in Deutschland mehr als 20 Millionen aktive Nutzer.

Die AfD hat das Medium früh für sich entdeckt. Im Januar 2024 verzeichnete sie auf TikTok nach den Analysen Landgrafs rund 3,6 Millionen Follower. Alle anderen Parteien brachten es nur auf 1,2 Millionen – und zwar insgesamt. Videos der AfD-Chefin Alice Weidel erreichen mitunter ein Millionenpublikum. Die Plattform ist wie gemacht für eine Partei wie die AfD. Das bewegte Bild erfordert Zuspitzung, um wahrgenommen zu werden. Es geht in dieser Welt nicht um die wohlabgewogene Erörterung von Sachgründen, sondern um die Mobilisierung von Emotionen. Und niemand kann das derzeit besser als die AfD. Medium und Kommunikationsstil passen zusammen wie die Faust aufs Auge. Ein wirksames Gegenmittel haben die anderen Parteien bisher nicht gefunden. 

Auch Scholz macht jetzt mit

Noch im Februar 2024 soll nach Angaben des MDR die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, gesagt haben: „Ich lehne TikTok ab.“ Nur einen Monat später startete sie dann selbst einen entsprechenden Kanal. Und inzwischen macht auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf Staatskosten mit. Sein erstes Video verzeichnete in weniger als 24 Stunden mehr als eine Million Aufrufe. Aber er sagte darin: nichts. Auch in seinem zweiten Video brachte der Kanzler kein Wort über die Lippen und überließ ausgerechnet seiner Aktentasche die Hauptrolle. Schwer vorstellbar, dass der Kanzler damit Emotionen unter Deutschlands Jugend entfachen kann.

Aber genau das könne die AfD. Davon ist Hannes Gnauck überzeugt. Der 32-jährige Uckermärker ist nicht nur AfD-Bundestagsabgeordneter, sondern auch der Chef der AfD-Jugendorganisation, der Jungen Alternative (JA). Sie zählt rund 2500 Mitglieder und nur die Hälfte davon ist selbst in der Partei. Das liegt auch daran, dass sie als rechtlich selbständiger Verein organisiert ist.

Im Wahlkampf setzen Gnauck und dessen JA vor allem auf die digitalen Welten: „Da sind wir Vorreiter und haben den anderen etwas voraus.“ Man dürfe sich das aber nicht wie eine straff geführte Organisation vorstellen. Eher sei es ein lockeres Netzwerk von „digital natives“, die ohnehin alle von selbst wüssten, was zu tun sei: Inhalte der Partei verbreiten. Und einen Grund für den außergewöhnlichen Erfolg der AfD nennt Gnauck auch: „Heute ist es wieder cool, rechts zu sein. Wer etwas gegen den Mainstream hat, muss zu uns kommen.“ Als „neuer Punk“ will Gnauck sich dabei nicht bezeichnen lassen: „Rebell trifft es eher.“ Und genau diese Rebellen braucht jetzt auch der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl: der Jurist Maximilian Krah.

„Schampus-Max“ mit Einstecktuch

Krah ist der Dandy der Partei. Wenn er zu Vorträgen in die politische Provinz gerufen wird, kredenzt man „Schampus-Max“ in anschließend vertrauter Runde wie selbstverständlich französischen Schaumwein. Darum muss er nicht bitten, das weiß man. Krah ist stets adrett gekleidet: mit Sakko, Einstecktuch aus Seide und Hemden aus feinster ägyptischer Baumwolle eines berühmten britischen Herrenausstatters. Von dem hat er sich sogar seine Initialen „MK“ auf die Brust sticken lassen. Und wenn man ihn in Berlin zum Gespräch bittet, lädt er in die Edelkantine des politischen Milieus Unter den Linden. Allzu oft scheint er da aber gar nicht zu verkehren; er muss sich vom Personal den Weg zu den Sanitärräumen zeigen lassen.

Schon vor einiger Zeit hatte auch Krah damit begonnen, Videos auf TikTok auszuspielen. Sein erfolgreichstes trägt den Titel „Echte Männer sind rechts“ und wurde allein auf seinem Profil 1,4 Millionen Mal angesehen. „Insgesamt dürften es aber etwa zehn Millionen gewesen sein, weil andere TikToker mein Video weiter verbreitet haben“, sagt Krah. Mitte März 2024 zog TikTok dann den Stecker. Die Reichweite Krahs wurde eingeschränkt, manche Videos ganz gelöscht. „Wegen Verstößen gegen die TikTok-Richtlinie“, betont eine Sprecherin des Unternehmens. Es soll um Fremdenfeindlichkeit und Homophobie gegangen sein. Für ganze 90 Tage steht Krah nun vor einem Problem, ziemlich genau also bis zur Europawahl. Und da kommen die Punks ins Spiel, die lieber „Rebellen“ genannt werden wollen.

In der Szene kursieren schon seit Wochen ausgefeilte Anleitungen, um Sperrungen durch mediale Anbieter zu umgehen. Es geht darum, eine „TikTok-Guerilla“ aufzubauen, wie es der Chef von Krahs Produktionsfirma im Gespräch sagt. Entwickelt hat die Strategie der rechte Aktivist Erik Ahrens. Früher hat er auch für Krah Videos geschnitten. Heute schult er die JA Thüringen im digitalen Guerillakampf für die anstehenden Landtagswahlen.

Krah produziert immer noch Videos, obwohl er gar keine eigene Reichweite mehr hat. Und das liegt an der „TikTok-Guerilla“. Seine Videos werden nun als Rohmaterial auf anderen Plattformen zum Download bereitgestellt. Seine Anhänger können sie von dort herunterladen, neu zusammenschneiden, mit Musik hinterlegen und sie dann in ihren eigenen Accounts hochladen. Das ist entscheidend: Nur durch diese technischen Änderungen könne das „stochastische Dauerfeuer“ der Algorithmen ausgetrickst werden, sagt Ahrens. Die Videos könnten vom System dann nicht mehr als im Grunde identische erkannt werden. Das funktioniert selbst bei solchen, die eigentlich gesperrt wurden. Geht die Guerillataktik auf, könnte Krah schon bald und rechtzeitig vor der Europawahl wieder ausreichend Reichweite haben. Die Frage, ob TikTok derartige Ausweichmanöver beobachtet und Gegenmaßnahmen einleitet, verneint die TikTok-Sprecherin: „Für uns zählt der Einzelfall.“

Für seinen innerparteilichen Wahlkampf hat Krah nicht allein auf die digitalen Welten gesetzt. Wenige Wochen vor seiner Nominierung platzierte er in einem Szene-Verlag ein Buch mit dem Titel „Politik von rechts“. Es ist im Grunde die Langfassung seines bisher erfolgreichsten Videos auf TikTok und hat inzwischen mehrere Auflagen erlebt. Demnächst soll in demselben Verlag auch ein Buch von Ahrens über die TikTok-Guerilla erscheinen.
 

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Spricht man mit Krah persönlich, schält sich dessen Weltbild klarer heraus, als wenn man bloß sein Buch liest. Am Ende hält er die Gene für den Schlüssel zur politischen Weltgeschichte. Der Mensch forme „seine Umgebung nach seiner Veranlagung“. Und das alles wirke selektierend auf den „Genpool“ zurück. Die Gene sind also so etwas wie die weiße Kugel beim Billard. Sie bringt alles in Bewegung, wird aber beim Zusammenstoß mit den anderen Kugeln mitunter auf einen anderen Kurs gebracht.

Im Sinne eines Abstoßungseffekts

Dass Krah heute denkt, was er denkt, verdankt er im Sinne eines Abstoßungseffekts auch dem einflussreichen Juristen Christoph Möllers. Der Staatsrechtler berät die Bundesregierung nicht nur seit Jahren in allerlei Rechtsfragen. Er war im Jahre 2017 auch einer der Vertreter des Bundesrats im Verfahren gegen die NPD. Vor etwas mehr als 20 Jahren arbeitete er außerdem als Assistent an der Universität Dresden. Und dort traf Krah als Student und Mitglied der Jungen Union auf ihn.

Der heutige AfD-Politiker erinnert sich noch immer an ein angeblich zweistündiges Gespräch in Möllers’ Büro. Der hätte sich damals ganz zufrieden gezeigt, dass Parteien wie die CDU Leute wie Krah durch Einbindung „neutralisieren“ würden. Und Möllers habe sich über ihn auch lustig gemacht. „Ihr Weltbild erinnert mich an ein Playmobil-Schloss“, soll Möllers damals gesagt haben: „Fassade 19. Jahrhundert, Material und Ausmaße 20. Jahrhundert.“ 

Die unmissverständliche Botschaft an den politisch aktiven Studenten: Dessen Konservativismus befinde sich inhaltlich nicht auf der Höhe der Zeit. „Als ich Möllers dann fragte, was ich lesen müsste, stand er auf, ging zum Regal und zog Carl Schmitts ‚Verfassungslehre‘ raus. Als ich zugreifen wollte, schob er das Buch zurück und sagte: ‚Nee, zu gefährlich.‘“ Krah habe dann damit begonnen, Schmitt zu lesen. Der Abnabelungsprozess von der Unionsfamilie sollte indes noch bis zum Jahre 2016 dauern. Sein Buch „Politik von rechts“ ist auch eine verspätete Replik auf die Einwände seines einstigen Lehrers.

Am Ende ist Maximilian Krah so etwas wie ein politischer Tänzer. Als auch an Christoph Möllers geschulter Jurist steht er mit seinem Standbein mitten in den Bemühungen der AfD, die Vorwürfe eines verfassungswidrigen Volksbegriffs abzuwehren. Er weiß auch deshalb ganz genau, was er sagen muss, um juristisch unangreifbar zu sein. Im April 2024 war er im Rahmen des Verfahrens der AfD gegen den Verfassungsschutz sogar vor das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster geladen worden. Dabei hat er vor den Richtern dargetan, dass die Mutter seiner Kinder Slowakin sei und seine beiden Kinder aus gutem Grund eine „slowakische Klasse“ besuchten: „Es ist mir als Vater wichtig, dass diese Sprache gepflegt wird.“ 

Standbein und Spielbein

Schon Wochen zuvor hatte die AfD die Richter außerdem mit drei Funktionären der AfD mit Migrationshintergrund konfrontiert. Später schoben die AfD-Anwälte noch mehr als 70 ähnliche Fälle nach. Das Kalkül hinter all dem: Wie ausländerfeindlich kann eine Partei eigentlich sein, in der sich auch Deutsche mit Migrationshintergrund wohlfühlen? 

Aber das ist bloß das Standbein. Es gibt auch ein Spielbein: das Hantieren mit der Biologie. Und mit diesem Spielbein bewegt sich Krah mitunter im ideologischen Umfeld des völkisch angehauchten Milieus der AfD-Jugendorganisation. Auch sein Name findet sich in den Akten des Verfassungsschutzes und in den Unterlagen vor Gericht. Wenn die Gene die Umwelt der Menschen nach der Veranlagung formen und wenn jede politische Gemeinschaft ein Mindestmaß an Homogenität benötigt, liegt schnell der Gedanke nahe, die Staatsbürgerschaft strikt an die Blutslinie zu koppeln. Also das Recht mit der Biologie zu verschmelzen. Und das wäre, ausweislich des Bundesverfassungsgerichtsurteils aus dem Jahre 2017 im Falle der NPD, eindeutig verfassungswidrig. Es wäre eine Wiederkehr der Ideologie der NSDAP in anderem Gewand. So sieht es auch der Verfassungsschutz.

Wenn man Krah damit konfrontiert, widerspricht er vehement. Die Verfassungsschützer seien einfach „nicht intelligent genug, um zwischen Ethnos und Demos zu unterscheiden“. Der Demos – das sei eben das Staatsvolk, bestehend aus seinen Staatsbürgern mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Und das Ethnos sei eine historisch gewachsene biologisch-kulturelle Abstammungsgemeinschaft: „Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk allein von ethnischen Kriterien abhängig zu machen, wäre verfassungswidrig. Da folge ich dem Verfassungsgericht. Aber es ist nicht verfassungswidrig, wenn man will, dass der deutsche Demos überwiegend aus dem deutschen Ethnos besteht. Und der Schlüssel dazu ist weniger Migration.“

Der gebürtige Sachse verweist zur Untermauerung dieser Position auf Artikel 5 der sächsischen Landesverfassung. Dort heißt es: „Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an.“ Demnach besteht selbst das angebliche „Volk“ der Sachsen aus verschiedenen Ethnien. Als Krah im April vor dem OVG Münster steht, wird er in der Sache dasselbe sagen, es aber nicht nur mit den Sorben, sondern auch dem Fall Südtirol begründen.

Die mehr als 70 Parteifunktionäre mit Migrationshintergrund waren dabei Bestandteil eines Konvoluts von sage und schreibe 457 Beweisanträgen, die die AfD dem Gericht am 9. April vorgelegt hatte. In der Berichterstattung wird das gerne als bewusste „Verzögerungs­taktik“ gewertet. Je mehr sich der Prozess in die Länge ziehe, so angeblich das Kalkül, desto besser für den Wahlkampf. Ein mögliches Urteil solle möglichst erst nach den Wahlen des Jahres 2024 fallen.

Das eigentliche Kalkül der Partei

Was auf den ersten Moment plausibel klingt, ist es gleich aus zwei Gründen eher nicht. Zunächst wird die AfD in dem Verfahren viel Geld verbrennen – egal wie das Ergebnis letztlich aussieht. Und je länger es sich hinzieht, desto mehr. Bis zur höchsten gerichtlichen Instanz kann die AfD schon heute mit einem Schaden in Millionenhöhe planen. Und dieses Geld fehlt dann auch für künftige Wahlkämpfe. Etwas Zweites kommt hinzu. Noch schlimmer als eine Niederlage vor Gericht im Jahr 2024 wäre eine im Jahr 2025, direkt vor der Bundestagswahl. Eine bewusste Verzögerung des Verfahrens in der Gegenwart könnte sich als um so größere Hypothek für die Zukunft erweisen. Es ist nicht eben wahrscheinlich, dass das das eigentliche Kalkül der Partei ist.

In Wahrheit geht es um etwas anderes. Die erste Instanz, das Verwaltungsgericht Köln, hat sich nicht lange mit der Ermittlung der Sachlage beschäftigt, obwohl der Amtsermittlungsgrundsatz für Verwaltungsgerichte bindend ist. Stattdessen ist man dem Vortrag des Verfassungsschutzes gefolgt. Die AfD will nun die Berufungsinstanz in Münster dazu zwingen, das Verfahren entweder nach Köln zurückzuverweisen oder dessen unerledigte Arbeit zu verrichten. 

Vom Material her hat das Verfahren längst einen Umfang erreicht, als würde man bereits über ein mögliches Verbot der Partei befinden müssen. Aber einem echten Verbotsverfahren hatte schon im Sommer des letzten Jahres Bundeskanzler Scholz eine Absage erteilt. Angesichts der inzwischen erreichten Umfrage- und Wahlergebnisse der AfD wäre das der Öffentlichkeit kaum noch zu vermitteln.

Lieber auf Nummer sicher gehen

Deutschlands Sicherheitsbehörden und Politik stehen damit vor einem Problem. Wenn die NPD 2017 nicht verboten werden konnte, weil sie dafür zu unbedeutend war und die AfD politisch zu bedeutend ist für ein Verbot, drohen wesentliche Teile von Artikel 21 Grundgesetz leerzulaufen. Dort ist auch die Möglichkeit zum Verbot von Parteien geregelt. Der demokratische Rechtsstaat könnte nackt dastehen. Der Verfassungsschutz hat zur Rettung seiner Ehre daher im Grunde nur noch eine Option. Das Innenministerium könnte stellvertretend für die AfD einfach deren Jugendorganisation verbieten. Die ist rein formal gesehen nicht Bestandteil der Partei. Es ist strittig, ob sie bloß unter das Vereins- oder ebenfalls unter das Parteienrecht fällt. Die rechtlichen Hürden zum Verbot eines Vereins jedenfalls sind viel geringere als die einer Partei. 

Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek würde das grundgesetzliche Parteienprivileg zwar „eher streng“ auslegen, also zugunsten der Jugendorganisation. Er hält aber auch die gegenteilige Position „für gut vertretbar“: „Gewissheit hätte man erst nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.“ JA-Vorsitzender Gnauck will daher lieber auf Nummer sicher gehen. Er sucht schon heute nach Möglichkeiten, die Parteijugend unter den Schutzschirm des Parteienrechts zu bringen. Das könnte von der Auflösung der JA bei gleichzeitiger Neugründung einer Parteijugend bis hin zu Zwischenlösungen reichen. Genauer will er sich dazu nicht äußern. „Das werden wir alles noch intensiv diskutieren“, sagt er.

Nicht nur vom Verfassungsschutz, auch von einflussreichen Funktionären der Partei wird die AfD-Jugendorganisation allerdings kritisch beäugt. In ihr ist das als „völkisch“ deklarierte Denken, der Rückschluss von den Genen auf das Recht, viel weiter verbreitet als in der AfD selbst. Ein Parteifunktionär sagt dazu gegenüber Cicero sogar: „Wenn die AfD in Sachen Volksbegriff dieselben Positionen vertreten würde wie die JA, wäre ich längst kein Parteimitglied mehr.“

Würde die AfD ihre Jugendorganisation in sich aufnehmen, müsste sie wohl oder übel dem einen oder anderen die Mitgliedschaft in der Partei verwehren. Alles liefe auf einen politischen Reinigungsprozess hinaus. Die Mitglieder der Jugendorganisation beginnen daher schon jetzt damit, innerparteilich Druck aufzubauen. Auf dem brandenburgischen AfD-Landesparteitag vom März 2024 brachte die als „gesichert rechtsextrem“ geltende örtliche Parteijugend einen Solidaritätsantrag zu ihren Gunsten ein. Die Mutterpartei hat ihn mit überwältigender Mehrheit angenommen. Weitere Solidaritätsadressen anderer Landesverbände sollen folgen. 

Die AfD dürfte am Ende auf eine Zerreißprobe zusteuern. Sie wird sich entscheiden müssen, ob sie den Konflikt mit ihrer Jugendorganisation sucht oder möglicherweise ihre Zukunft als Gesamtpartei gefährdet. Auch wenn derzeit nichts nach einem Verbotsverfahren gegen die AfD aussieht, hätten die Behörden mit dem Verbot der Parteijugend einen mächtigen Hebel in der Hand. Im Wahljahr 2024 komme eine Entscheidung über die Zukunft der JA aber ohnehin „nicht in Frage“, sagt deren Vorsitzender Gnauck. Jetzt gehe es erst einmal um die juristischen „Abwehrschlachten“ gegen den Verfassungsschutz – und um den Wahlkampf für die Partei. 

Uferlose interne Konflikte

Sollten Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Verfassungsschutz irgendwann doch zum Schlag gegen die JA ausholen, wäre dafür das Jahr 2025 die beste Gelegenheit. Ein solcher Schritt würde nicht nur rechtzeitig zur Bundestagswahl den Ruf der AfD in bürgerlichen Schichten empfindlich beschädigen, sondern vor allem die gesamte Partei in uferlose interne Konflikte stürzen. Es gibt gar nicht so wenige, vor allem westdeutsche Parteifunktionäre, die die eigene Jugendorganisation lieber heute als morgen loswären. Nicht einmal sie halten die Vorwürfe des Verfassungsschutzes gegen ihre Parteijugend für völlig unberechtigt.

Und dann wären da noch Fälle wie der des Abgeordneten mit Migrationshintergrund Petr Bystron. Er steht hinter Maximilian Krah als Nummer zwei auf der AfD-Liste zur Europawahl, und nicht jeder in der Partei ist von seiner Unschuld überzeugt. Wenn die Vorwürfe doch berechtigt wären und der tschechische Geheimdienst dem Verfassungsschutz vor der Europawahl entsprechende Beweise zuspielte, könnte es für die Partei unangenehm werden, sagt einer von ihnen: „Dann rechne ich fest damit, dass das auch durchgestochen wird, um uns zu schaden.“ Nicht einmal in der AfD ist man sich also sicher, dass Bystron die Wahrheit gesagt hat. 

Zwischenzeitlich aber hat Ladislav Šticha, ein Sprecher des tschechischen Geheimdiensts, klargestellt, seine Behörde hätte den Namen Bystrons nie in den Mund genommen. Schlechte Karten also für den erneuten Versuch, die AfD mit Hilfe vermeintlicher oder tatsächlicher Skandale kleinzuhäckseln. Mit ihrer Wahlkampfstrategie ist sie ihren Gegnern ohnehin weit voraus. Das gilt selbst für den eigentlich unbekannten Bundestagsabgeordneten Petr Bys­tron. Er hat auf TikTok schon derzeit sieben Mal mehr Follower als die Spitzenkandidatin der SPD Katarina Barley. Über Sieg oder Niederlage der AfD wird ohnehin nicht in den Gerichtssälen und Redaktionsstuben dieser Republik entschieden, sondern auf dem politischen Kampffeld. Die etablierten Parteien sollten deshalb endlich auf Ballhöhe kommen.

 

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