Stockende Zeitenwende - Deutschland im Dornröschenschlaf

Deutschland ist unter Angela Merkel träge geworden und hat sich zu lange an einem pazifistischen Zeitgeist orientiert. Damit wir für den Systemwettbewerb mit China und die militärische Bedrohung aus Russland gerüstet sind, bedarf es dringend der versprochenen Zeitenwende.

An seinem Versprechen der Zeitenwende wird er sich messen müssen: Bundeskanzler Olaf Scholz / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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Drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine rief Olaf Scholz vor dem Bundestag eine „Zeitenwende“ aus. Er erklärte die postsowjetische Friedenszeit für beendet und räumte die über 16 Jahre von Angela Merkel verantwortete Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik ab.

Offen und offensiv stellte er sich gegen den russischen Präsidenten Putin und, ohne es auszusprechen, aber auch gegen Merkel und seine Partei, die SPD, die über ein halbes Jahrhundert für die Partnerschaft mit Russland gestanden hat. Wie kann man gleichzeitig mit Putin und Merkel brechen? Die Antwort darauf ist, dass Putins Politik der Aggression ohne Merkels Politik der Beschwichtigung kaum hätte gedeihen können.

Beide haben den in ihren Ländern nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums herrschenden Zeitgeist in Politik umgesetzt. Merkel hat das neurotische Verlangen eines durch Naziherrschaft und verbrecherischem Angriffskrieg traumatisierten Volkes nach moralischer Erhöhung und bedingungslosem Frieden bedient. Putin hat den Phantomschmerz der russischen Seele über den Zerfall des Sowjetimperiums als Auftrag gesehen, ein russisches Imperium wiederherzustellen. Wer wäre für diese Rollen besser geeignet gewesen als eine evangelische Pfarrerstochter aus der Uckermark und ein Streetfighter aus Leningrad?

Fettes und träges Deutschland

Obwohl die Besetzung perfekt war, sind beide Akteure schlussendlich daran gescheitert, wovor schon der österreichische Ökonom und Finanzminister Eugen von Böhm-Bawerk im 19. Jahrhundert gewarnt hatte: am Triumph des ökonomischen Gesetzes über die politische Macht. Putin hat mit der Verfolgung seines Ziels der Wiederbelebung eines russischen Imperiums seine eigenen Erfolge bei der ökonomischen Konsolidierung der Russischen Föderation zerstört. Die Russen werden ärmer, und ihr Land ist auf der Weltbühne auf dem Weg zu einem Schurkenstaat nach nordkoreanischem Muster. 

Angela Merkel hat ihre Politik an einem von Vollkaskoversicherung und unbedingtem Pazifismus bestimmten Zeitgeist orientiert und dadurch ein fettes und träges Deutschland entstehen lassen, das in hohem Maße militärisch von Russland, wirtschaftlich von China und finanziell von der Europäischen Union erpressbar geworden ist.

 

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Der Deutsche Bundestag begrüßte Olaf Scholz „Zeitenwenderede“ mit großem Beifall. Viele Bürger erwarteten, dass nun ein „Ruck“ durch Deutschland gehe. Doch dann folgte lange – nichts. Mit Zögern und Zaudern lief die deutsche Militärhilfe für die Ukraine an. Durch Zögern und Zaudern wurde die nach der langen Regentschaft von Angela Merkel notwendige Staatsreform bis heute verschleppt. Auch ein Jahr nach der Zeitenwende, bleibt die Bundeswehr kriegsunfähig, die Staatsbürokratie mit ihren Faxmaschinen und Büroklammern im vordigitalen Zeitalter gefangen und der fettleibige Politikbetrieb bräsig und selbstreferentiell. Dank des Zusammenrückens des Westens kann sich das post-merkelsche Deutschland wenigstens unter den Rockschößen seiner Verbündeten verstecken.

Lange wird das nicht gutgehen. Der in den Merkel-Jahren geschaffene und von der Ampelregierung weiter aufgeblähte bürokratisch-sozialistische Staatsapparat hat einen Grad an Dysfunktionalität erreicht, der an den früheren „real existierenden Sozialismus“ auf deutschem Boden erinnert. Die Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft verschwimmen zunehmend dadurch, dass der Staat die Wirtschaft mit einer hohen Steuerlast und kafkaesk anmutenden Regelwerken überzieht. Gegen die Abwanderung insbesondere von mittelständischen Firmen kann er sich noch mit der „Wegzugsteuer“ schützen. Aber irgendwann werde auch diese bereit sein, das Lösegeld zu bezahlen, um fliehen zu können.

Rückfall in einen neuen Kalten Krieg

Auf der geopolitischen Ebene dürfte die Zukunft einen Rückfall in einen neuen Kalten Krieg bringen. Statt eines weiteren Siegeszugs der liberalen Gesellschaftsordnung erleben wir die Neuauflage eines Kampfs der Gesellschaftssysteme. Ein autokratisch regiertes China rivalisiert mit den USA um die Weltherrschaft und lässt den russischen Wolf auf Europa los. 

Statt einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft erfahren wir den Rückbau der Globalisierung zu semipermeablen Blöcken: dem „Westen“ und den Anhängern westlicher Werte im pazifischen Raum, dem Bund der asiatischen Diktaturen China und den „Blockfreien“ wie Indien, die opportunistisch mal dem einen und mal dem anderen Lager zuneigen. Innerhalb der Blöcke mögen die wirtschaftlichen Beziehungen weiter gedeihen, zwischen den Blöcken dürften sie nur noch in nach geopolitischen Gesichtspunkten vorgenommenen Abstufungen möglich sein. Dazu passt, dass wir nun statt Preisstabilität und wachsendem finanziellem Wohlstand die Wiederkehr der Inflation, steigende Zinsen und die Verunsicherung der Finanzmärkte erleben. 

Deutschland muss eine Führungsrolle einnehmen

Ein weiteres Mal ist der Westen gefordert, im Kampf der Systeme zu bestehen. Das wird ihm aber nur gelingen, wenn er sich auf seine Werte besinnt, die ihn groß gemacht haben, und zusammensteht. Deshalb brauchen wir die Rückkehr zu einer liberalen Gesellschaftsordnung, in der die Freiheit des Einzelnen im Mittelpunkt steht, statt einer die Gesellschaft in Kollektive spaltenden Identitätspolitik. Wir brauchen die Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards, in welcher der Markt im Mittelpunkt steht, statt des alle Lebensrisiken übernehmenden, planenden Versicherungsstaats. Und wir brauchen eine Geldordnung, die für kaufkraftstabiles Geld sorgt, statt das Geld in einer dysfunktionalen Europäischen Währungsunion der Politik als Spielball zu überlassen.

Das alles kann Europa aber nur verwirklichen, wenn Deutschland darin eine Führungsrolle übernimmt und für den Schulterschluss mit den USA sorgt. Die liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wurde uns von den angelsächsischen Militärregierungen nach dem zweiten Weltkrieg geschenkt. In der Zeit des Wirtschaftswunders war sie unser „geteiltes mentales Modell“ (Douglas North). Von den 1968ern wurde dieses Modell infrage gestellt und nach deren „Marsch durch die Institutionen“ von einem links-grünen Modell des bürokratischen Ökosozialismus abgelöst. Dieser ist nun für alle sichtbar an das Ende seiner Leistungsfähigkeit gekommen. 

Es liegt an uns, den Bürgern, von Olaf Scholz die versprochene Zeitenwende einzufordern. Dafür müssen wir bereit sein, wieder eigene Verantwortung zu übernehmen, statt die Verantwortlichkeit einem Staat zu übertragen, der dazu unfähig ist. Und auf globaler Ebene müssen wir Mut zeigen, statt uns aus Angst vor dem großen, bösen russischen Wolf mit „Mutti Olaf Merkel“ hinter anderen zu verstecken.

 

Von Thomas Mayer erscheint heute (23. Februar) das Buch „Russlands Werk und Deutschlands Beitrag. Wie Putins und Merkels Politik uns zum Verhängnis wurden“. ecoWing, 208 S., 26 €

 

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