Vaughan Gething im Porträt - Der Überlebenskünstler

Der Labour-Politiker Vaughan Gething schickt sich an, Erster Minister von Wales zu werden – und damit der erste Regierungschef in Europa mit afrikanischen Wurzeln.

Der erste Schwarze im walisischen Parlament: Vaughan Gething / dpa
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Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Vaughan Gething war bereit, als Mark Drakeford am 13. Dezember vorigen Jahres seinen bevorstehenden Rücktritt verkündete. Das Bewerbungsschreiben, acht Absätze lang, hatte Gething längst formuliert, das Wahlkampfteam stand bereit, Geldgeber waren gefunden, ein Callcenter eingerichtet und Freiwillige rekrutiert.

Mitte März entscheidet sich, wer in Wales Drakeford in der Führung der Labour-Partei und damit in Cardiff auf dem Stuhl des Ersten Ministers folgt – dem fünften seit 1999, als Großbritannien den Nordiren, Schotten und Walisern ihre eigenen Regierungen zugestand. Wie auch die Schotten sehen sich die Waliser als Nation mit eigener Geschichte, Sprache, Hymne und Flagge sowie einer Fußballnationalmannschaft, die noch auf die Qualifikation zur EM in Deutschland hofft.

Das walisische Blut hat Vaughan Gething von seinem Vater David, einem Tierarzt aus Glamorgan. Der Sohn kam vor 49 Jahren in Sambia zur Welt, dem Land seiner Mutter. „Mein Vater lebte dort als weißer Wirtschaftsmigrant“, scherzt der Politiker heute. Als die Familie 1976 nach Großbritannien zurückkehrte, war Vaughan zwei Jahre alt. Gemeinsam mit einer Schwester und drei Brüdern wuchs er in Dorset auf, im Südwesten Englands. Zuvor war aus einer Anstellung seines Vaters im walisischen Monmouthshire nichts geworden. In der Gemeinde Abergavenny sei eine schwarze Familie seinerzeit nicht willkommen gewesen.

Die fünf großen Gewerkschaften unterstützen Gething

Zwei Jahrzehnte später wählt der walisische Studentenverband Vaughan Gething zu seinem Präsidenten, dem ersten mit afrikanischer Abstammung. Auch 2011 bei seinem Einzug in den Senedd, dem Parlament in Cardiff, und drei Jahre später bei seiner Ernennung zum Gesundheitsminister ist er jeweils der erste Schwarze.

Umfragen, wie gut seine Chancen stehen, die Führung der Labour-Partei und das Regierungsamt in Cardiff zu übernehmen, gibt es keine. Wählen dürfen die Mitglieder der Labour-Partei sowie der Gewerkschaften, die mit Labour assoziiert sind. Ende Januar, dem Stichtag für die Nominierung, hatten sich 14 Kreisparteien für Gething ausgesprochen, 15 bevorzugten seinen Konkurrenten, Bildungsminister Jeremy Miles. Ein knapper Vorsprung.

 

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Die Wende kam, als Unite, die mitgliederstärkste Gewerkschaft, auf eine Klausel in ihrer Satzung verwies, wonach jemand nur dann in eine Funktion der Partei gewählt werden könne, wenn er zuvor ein gewerkschaftliches Ehrenamt ausgeübt habe. Kritiker erkannten einen formalen Winkelzug, um Miles aus dem Wettbewerb zu werfen. Es ist kein Geheimnis, dass viele Gewerkschaftsfunktionäre auf dem Sessel des Ersten Ministers Gething sehen wollen, der 2008 mit gerade einmal 34 Jahren ihrem Dachverband als Präsident vorstand – der erste mit afrikanischen Wurzeln. In den vergangenen Wochen haben ihm die Führungen der fünf größten Gewerkschaften ihre Unterstützung zugesagt.

Der Erhalt der freien Gesundheitsfürsorge wird ihm als Regierungschef ein Herzensanliegen sein

Als Gewerkschafter hat Gething seinen pragmatischen Blick auf die Politik geschärft. Das half ihm bei der Leitung des Wirtschaftsministeriums, die er im Mai 2021 übernahm. Er gilt als Realist, dem es wichtig ist, dass es bei Labour Platz für unterschiedliche Meinungen gibt. Darin sieht er das Erfolgsrezept der Partei, die in Wales seit 1999 regiert. „Wir glauben an Einheit, lehnen Flügelkämpfe ab und schließen niemanden aus“, sagte er im vergangenen Jahr der Tageszeitung The Guardian. Vorsorglich dämpft er Forderungen der Parteibasis nach einem raschen Ende der Sparpolitik. Er werde nicht die Finanzhähne aufdrehen können, um mit Geld die Probleme zu lösen. Gething formuliert es so: „Wir können die leere Badewanne nicht auf einmal füllen.“

In den Reden der beiden Konkurrenten lassen sich programmatische Unterschiede kaum erkennen. Was Gething wichtig ist, verrät sein Lebensweg. Als Kind war er an einem lebensgefährlichen Nierenleiden erkrankt. Sein Überleben verdankt er dem NHS, dem nationalen Gesundheitsdienst, der damals eine neuartige experimentelle Behandlung möglich machte. Der Erhalt der freien Gesundheitsfürsorge wird ihm auch als Regierungschef ein Herzensanliegen sein, ebenso wie der Schutz von Frauen im Beruf, für die er als junger Arbeitsanwalt im Dienst des Gewerkschaftsverbands stritt, wenn sie sich Schikanen und Mobbing ihres Arbeitgebers ausgesetzt sahen.

Gething will ein geeintes, modernes und diverses Wales. Seine Haltung ist geprägt von einem liberalen Universalismus, der Menschen nach ihrem Charakter, ihren Fähigkeiten und Werten beurteilt. Um Sonderbehandlung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit geht es ihm nicht.

 

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