Valéry Giscard d'Estaing - „Ich war der Mann, der den Brexit erfunden hat“

Valéry Giscard d'Estaing, der ehemalige Staatspräsident Frankreichs, ist im Alter von 94 Jahren an den Folgen von Covid-19 gestorben. Lesen Sie hier noch einmal unser Interview mit ihm über die europäische Zukunft, den Brexit und die Migrationspolitik der EU.

Valéry Giscard d'Estaing (2013) / picture alliance
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Autoreninfo

Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Valéry Giscard d'Estaing († 94) war Staatspräsident Frankreichs von 1974 bis 1981. Der ehemalige Finanzminister von Charles de Gaulle und Georges Pompidou verfolgte eine liberale und – zusammen mit dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt – proeuropäische Politik. In Frankreich entwickelte er den TGV, den französischen AKW-Park und den legalisierten Schwangerschaftsabbruch. Von 2001 bis 2003 leitete „VGE“ die Konvention für einen EU-Vertrag. 

Herr Giscard d'Estaing, die EU steckt in einer Krise. Droht sie angesichts Brexiteers und Populisten auseinanderzufallen?
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt zum Glück auch Gegenkräfte, die den Zusammenhalt Europas fördern. Das äußert sich auch in der neuen EU-Kommission; sie ist jünger und interessanter als ihre Vorgängerin. Der Druck von außen auf die EU ist wohl stärker. Und vergessen wir nicht, dass abgesehen von Großbritannien kein einziges Land jemals die Union zu verlassen suchte. So gesehen ist sie sehr solid.

Obwohl England abdriftet?
Das ist nur möglich, weil wir 2002 in der europäischen Verfassungskonvention (die von Giscard d'Estaing geleitet wurde, die Red.) die Möglichkeit eines EU-Austritts überhaupt erst einführten. Vorher war das gar nicht möglich. Wenn Sie so wollen, war ich der Mann, der den Brexit erfunden hat. Das tat ich allerdings nicht für die EU-Gegner, sondern zur Stärkung der Union. Die Medien nannten die EU damals ein Gefängnis: Man komme hinein, aber nicht mehr heraus. Diesen Vorwurf, in einer richtigen Pressekampagne lanciert, wollten wir entkräften. Die Austrittsregel in Artikel 50 des EU-Vertrages war deshalb im Grunde genommen eine proeuropäische Idee.

Ist der Brexit unwiderruflich?
Ich denke, dass es vernünftig wäre, den Briten einen Aufschub von einem Jahr zu gewähren. Es gibt Blockaden, namentlich wegen der Irlandfrage. Sie sind wahrscheinlich unterschätzt worden. Die Lösung erfordert Zeit.

Ein Jahr mit der Brexit-Drohung – würde das die EU nicht völlig lähmen?
Was ist schon ein Jahr? Wir müssen bescheiden sein, was den Fortschritt der EU anbelangt. Es gibt keinen Grund, zu schnell vorwärtszugehen. In einem Jahr lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen, etwa, dass der EU-Austritt ein Fehler war. Aber klar ist: Auch ohne Großbritannien bleibt die Europäische Union durchaus ein kohärentes Unternehmen.

Wird die EU nicht auch von innen her durch den Populismus bedroht?
Die Presse spricht zu viel darüber. Ich denke nicht, dass diesbezüglich eine Gefahr für die EU besteht.

Auch nicht aus Italien, einem Gründerland der EU?
Ich hatte offen gesagt nie Angst, dass Italien einmal die EU verlassen könnte. Dieses Land steht uns kulturell wie auch in der in seinen Abläufen sehr nahe. Da sehe ich kein großes Risiko.

Handelt US-Präsident Donald Trump gegen die EU?
Ich denke nicht, dass er sich gegenüber Europa destruktiv verhält. Allerdings mag er die EU nicht und übergeht sie in wichtigen Fragen wie etwa dem Krieg in Syrien.

In Ihre Ära fällt der eigentliche Beginn der deutsch-französischen Kooperation...
 ... was umso bemerkenswerter ist, als unsere beiden Länder in den letzten großen Kriegen verfeindet waren. Den ersten Deutschen hatte ich über ein Panzerfernrohr hinweg erblickt. Mit Kanzler Helmut Schmidt besprach ich mich mindestens einmal pro Woche, und wir waren uns meist einig, da wir ein gemeinsames Projekt verfolgten.

Wird die EU heute noch von Paris und Berlin geführt?
Die europäischen Institutionen sehen keine spezielle Rolle für Deutschland oder Frankreich vor. Helmut Schmidt und ich arbeiteten ganz einfach zusammen. Das ist unter den Nachfolgern so geblieben. Politisch ist die EU heute deutsch-französisch. Und doch streben viele andere Länder in die Union, während – abgesehen von England – kein einziges Mitglied daran denkt, die EU oder den Euro zu verlassen.

Doch bleibt der Euro nicht ein Problem, weil es an einer gemeinsamen Budget- und Finanzpolitik als Basis fehlt?
Die Presse spricht gerne von der Schwäche des Euro-Systems, aber das muss nicht so sein, wenn die Europäische Zentralbank effizient und vernünftig handelt. Die EU ist mit dem Euro ebenso solide wie zuvor.

Alles in allem scheinen Sie eher optimistisch, was die Zukunft der EU betrifft. Wo liegen denn Ihrer Meinung nach die Risiken?
In Sezessionstendenzen wie etwa in Katalonien. Seine Unabhängigkeit ist nicht wünschenswert für Europa. Wir haben kein Interesse, dass sich der Kontinent weiter aufteilt.

Ist die EU-Erweiterung zu schnell vonstattengegangen?
Zweifellos. Aber sie war wahrscheinlich die unvermeidbare Konsequenz des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Ihre Anrainerstaaten haben sich in die EU und die Nato gestürzt und erhielten zu schnell zu weitgehende Rechte. Auch kleine und unerfahrene Balkanstaaten haben den gleichen Anspruch auf Kommissionsposten, was übertrieben ist. Diesbezüglich ist man sicher zu schnell vorgegangen.

Ist Frankreich mit seinem jungen, energischen Präsidenten heute der Motor der EU, während Kanzlerin Angela Merkel ihrem Amtsende entgegengeht?
Ich glaube nicht, dass Frankreich außerhalb seiner Grenzen als Motor oder Modell wahrgenommen wird. Frankreich ist eines der am stärksten verschuldeten Länder der EU. Angesichts dieser Schwäche kann es kaum eine Führungsrolle übernehmen.

Wie wichtig erachten sie die Migrationsfrage für Europa?
Es ist eine existenzielle Frage. Vor allem die Migration aus den Ländern südlich der Sahara stellt Europa vor schwierige Probleme. Die südlichen EU-Mitglieder sind dabei stärker bedroht. Diesbezüglich brauchen wir eine gemeinsame EU-Politik. Die Kommission war dabei bisher nicht sehr wirkungsvoll. Ihre neue Präsidentin Ursula von der Leyen ist gefordert.

Sie waren vor vierzig Jahren im Élysée-Palast. Was hat sich seither in der Art verändert, wie Politik gemacht wird?
Sehr viel. Früher basierte die Politik auf der Kultur, heute auf der Kommunikation. Mit Kultur meine ich vor allem die Kenntnis der Geschichte - das Wissen, was passiert war, und nicht nur, was gerade passiert. Der amerikanische Präsident twittert jeden Morgen, was für einige Unordnung sorgt. Bei wichtigen Treffen hingegen, wie etwas dem jüngsten G7-Gipfel in Biarritz, gibt es kaum mehr positive Beschlüsse oder Resultate, obwohl dies sehr nötig wäre. Zu meiner Zeit traf man, wenn man einmal gewählt war, wichtige Entscheidungen. Das ist heute kaum mehr der Fall.

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