Ukrainekrieg - Die Geier kreisen schon

Wladimir Putin könnte zwar theoretisch einen echten Waffenstillstand in der Ukraine erreichen – aber wenn er dies täte, wäre er erledigt. Und so wird er schwächer mit jedem Tag, den der Krieg andauert. Doch er wird weiterkämpfen, bis er aus dem Amt gedrängt wird – und jemand anderes, der nicht für die Katastrophe verantwortlich ist, das Ruder übernimmt. Und alles auf Putin schiebt.

Wladimir Putin während einer Zeremonie am Grab des unbekannten Soldaten in Moskau / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

So erreichen Sie George Friedman:

Anzeige

Wenn wir darüber nachdenken, wie der Krieg in der Ukraine enden wird, müssen wir zunächst verstehen, wie er begann. Russland marschierte aus geostrategischen Gründen ein (die Ukraine als Pufferstaat zu haben, schützt Moskau vor einer Invasion aus dem Westen) ebenso wie aus wirtschaftlichen Gründen, die oft übersehen wurden. Der Übergang von der Sowjetunion zur Russischen Föderation war nicht gerade lukrativ. Er mag den Gesamtwohlstand erhöht haben, aber Russland bleibt ein armes Land. Sein Bruttoinlandsprodukt liegt nur knapp hinter dem von Südkorea – ein respektabler Platz, aber kaum dort, wo eine Supermacht sich wiederfinden sollte. Und beim Pro-Kopf-BIP liegt Russland auf Platz 85, also zwischen Bulgarien und Malaysia.

Wirtschaftsstatistiken erzählen natürlich selten die ganze Geschichte, aber im Falle Russlands zeigen sie ziemlich genau ein Land, das ärmer ist, als es scheint, und dessen Wahrnehmung oberflächlich von einer Schicht der superreichen Elite verzerrt wird. Das Leben in Großstädten wie St. Petersburg und Moskau ist luxuriös für die Wohlhabenden und erträglich für den Rest. Das Leben auf dem Land ist etwas ganz anderes.

Einzelne Regime können nicht allein für die russische Armut verantwortlich gemacht werden. Die Größe des Landes und die damit verbundenen Schwierigkeiten in Bereichen wie dem Transportwesen machen es schwierig, Russland zu regieren. Seit der Zeit der Zaren war es eher der Staat als der gemeinsame wirtschaftliche Wohlstand, der Russland zusammenhielt. Oft wurde dies durch die Sicherheitsdienste erreicht, deren Aufgabe es ist, die staatliche Macht zu erhalten, und nicht, eine Wirtschaft aufzubauen. So ist es kaum verwunderlich, dass das Land, das sich der Ochrana rühmt, auch einen Präsidenten hervorgebracht hat, der seine Wurzeln beim KGB hat. Ob zu Recht oder zu Unrecht: die Größe und Ineffizienz Russlands verlangen offenbar nach einer starken Hand.

Ein Herrscher muss Stärke beweisen

Dies hat die Erwartung geweckt, dass der Staat auch dann stark ist, wenn das Volk arm ist. Man war stolz auf die Zaren und auf Stalin – den sogenannten „Mann aus Stahl“. Aber damit ein Herrscher Russland regieren kann, muss er Stärke beweisen. Die Intellektuellen in Russland sprechen von Demokratie und Menschenrechten. Die meisten Russen aber wollen Schutz vor Invasoren von außen und vor dem verarmenden Chaos im Inneren.

Im Laufe der Jahre hat Wladimir Putin verschiedene Anstrengungen unternommen, um die Lage in Russland zu verbessern, aber er hat beim KGB gelernt, dass Russland ohne eine starke Hand unregierbar ist. Und er wusste, dass es zwei Arten von Stärke gibt: die Art, die andere Länder zum Zittern bringt, und die Art, die einheimische „Feinde“ in Schach hält.

Von Weißrussland bis Kasachstan hat Putin auf die einzige Art und Weise, die er für richtig hält, versucht, Russland Stein für Stein wiederaufzubauen. Die Ukraine ist der größte Stein. Er glaubt, dass er ihn nehmen musste. Russland wurde unruhig. Dissidenten wurden verhaftet, und das Ausland war entsetzt. Strategie und Macht zwangen ihn zum Handeln. Das Problem war jedoch, dass sein Handlungsinstrument, die russische Armee, genauso ineffektiv war wie Russland selbst. Das war nicht immer der Fall gewesen. So brutal der Militärdienst auch sein mochte, es gab immer einen gewissen Stolz darauf.

Heute wirkt die russische Armee unorganisiert, phantasielos und uninspiriert. Der Einsatz der Kräfte, die Vorbereitung der Logistik und die Beherrschung der Schlachtfelder auf allen Ebenen waren einfach nicht gegeben. Dies war eine andere Art von russischer Armee, eine bürokratisierte Armee, die mehr Angst vor dem Zaren als vor einer Niederlage gegen den Feind hatte. Putin verlangte eine schnelle Niederlage des Feindes. Aber um mit Stärke zu regieren, muss man den Schwerpunkt klar sehen und entschlossen angreifen.

In der Ukraine gab es keinen Schwerpunkt, sondern nur eine weit verstreute leichte Infanterietruppe, die keinen einzigen Punkt zur Zerstörung bot. Das mag zwar wie ein Guerillakrieg aussehen, ist es aber nicht, und die Ukraine überraschte ihren Gegner mit ihrer Widerstandsfähigkeit und Unberechenbarkeit. Der Aggressor kann mit brutalen Angriffen auf die Bevölkerung reagieren, aber das lässt den Ukrainern keine andere Wahl als zu kämpfen. Die russische Armee wurde nicht für diesen Krieg konzipiert, hatte ihn nicht geplant und kann nur brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgehen. Putin wird dies tun.

Das Problem ist also, dass Putin nicht aufhören kann; ebenso wenig kann er eine Vereinbarung mit der Ukraine treffen, die er einhalten wird. Jedes Abkommen – außer der Kapitulation des Gegners – ist eine Offenbarung der Schwäche eines Landes und eines Herrschers. Die einzigen Alternativen sind unwirksame Maßnahmen, denn das Militär, das er in den Krieg geschickt hat, waren die falschen Verbände eines Landes, das nicht über die richtigen Truppen verfügte.

Der Mythos der Macht wäre zerstört

Putin kann einen echten Waffenstillstand erreichen, aber wenn er das tut, ist er erledigt. Da er die Ukrainer nicht besiegen kann und von anderen verachtet wird, ist der Mythos seiner Macht zerstört. Wenn er den Krieg endlos fortsetzt, wird das Gleiche deutlich. Währenddessen besteht Putins Hauptaufgabe darin, so zu tun, als gäbe es die Niederlage nicht – denn alles, was weniger als ein Sieg ist, ist eine Niederlage. Jede Vereinbarung muss mit einem Verrat enden, und wie es bei Guerillas der Fall ist, werden sie immer stärker, je länger sich der Krieg hinzieht.

Eine entscheidende Frage ist, ob Russland über strategische Reserven verfügt. Die Armee ist seit über einem Monat im Einsatz, bei immer noch kaltem Wetter und am Ende einer problematischen logistischen Linie. Sie kämpft gegen eine hochmotivierte, mobile und mit dem Terrain vertraute leichte Infanterietruppe. So kann es nicht ewig weitergehen. Russland muss seine Kräfte rotieren lassen. Strategisch gesehen muss es mehr Truppen entsenden. Stattdessen vollzieht es einen blutigen Rückzug. Man kämpft nicht zweimal um das gleiche Gebiet, wenn man nicht muss.

Das bedeutet, dass Putins Kriegsplan durchkreuzt ist. Der Widerstand war effektiv, und seine Truppen brauchen eine Entlastung, die er nicht bieten kann. Putin wird in andere Richtungen täuschen – vielleicht im Baltikum oder in Moldawien –, aber ihm fehlt die Kraft, um an einer anderen Front zu kämpfen. Er kann diesen Krieg nicht so einfach aufrechterhalten, vor allem nicht angesichts der Nato-Soldaten, die sich bisher aus den Kämpfen herausgehalten haben.

Dennoch kann ich nicht vorhersagen, was ein Führer wie er am Ende tun wird. Aber im Moment ist es für mich klar, dass Putin sich an die Macht klammern und alle um ihn herum beschuldigen wird. Doch mit jedem Tag, den der Krieg andauert, wird Putin schwächer. Aus seiner Sicht sollte die Ukraine nicht in der Lage sein, Widerstand zu leisten; die Nato sollte nicht geeint, die amerikanische Wirtschaftskriegsführung sollte nicht so kraftvoll sein. Putin wird immer verzweifelter. Er hat von Atomwaffen gemurmelt, ein Zeichen äußerster Verzweiflung. Aber er weiß, dass er und alle, die er liebt, bei einem atomaren Schlagabtausch sterben werden.

Ein einzigartiger Druck

Selbst wenn er bereit ist, lieber Selbstmord zu begehen als zu kapitulieren, weiß er, dass der Befehl zum Nuklearschlag durch mehrere Instanzen gehen muss, und jede dieser Instanzen weiß, dass der Gegenschlag ihre Angehörigen töten wird. Darin liegt die Schwäche des Atomkriegs: Vergeltung zu üben ist eine Sache, sie auszulösen eine andere. Putin vertraut nur wenigen Menschen, und er weiß nicht, wie verlässlich irgendjemand in dieser Situation sein würde – und auch nicht, was die Amerikaner tun würden, wenn sie die Vorbereitungen für einen russischen Abschuss sehen würden.

Wenn Putin seine Position aufgibt, ist er kompromittiert und vielleicht verloren. Die Geier kreisen bereits. Also muss er weiterkämpfen, bis er aus dem Amt gedrängt wird und jemand anderes, der nicht für die Katastrophe verantwortlich ist, das Ruder übernimmt und alles auf Putin schiebt. Ich denke, das alles kann nicht enden, bevor Putin aus dem Spiel genommen wird.

Offensichtlich bewege ich mich hier weg von der geopolitischen Analyse hin zur politischen. Erstere versucht, den individuellen Einfluss zu minimieren, während letztere ihn hervorhebt. Das verleiht meiner Prognose eine unvermeidliche Ungenauigkeit. Aber angesichts der Situation vor Ort und der internen Dynamik Russlands scheint es, dass alle Kräfte, die auf Putin einwirken, eine bestimmte Richtung vorgeben. Der Krieg wird enden, aber der Krieg entwickelt sich in einer Weise, die einen einzigartigen Druck auf das russische politische System ausübt – und aufgrund der Natur des Systems konzentriert sich dieser Druck auf Putin.

Dies ist nicht das einzige mögliche Ergebnis. Die Ukraine könnte zusammenbrechen; Russland könnte zusammenbrechen. Die russische Armee könnte eine Strategie ausarbeiten, um den Krieg zu gewinnen. Es könnte eine Einigung erzielt werden, die respektiert wird. All das ist möglich, aber ich sehe keine große Bewegung in eine diese Richtungen. Ich würde auf ein politisches Ende wetten, wobei die Russen den Kürzeren ziehen würden. Am ersten Tag des Krieges hätte ich das nicht gedacht, aber ich denke, dass der letzte Tag wahrscheinlich so aussehen wird.

In Kooperation mit

Anzeige