Ukrainische Weizentransporte durch Polen - Ärger zwischen Warschau und Kiew

Ukrainisches Getreide erregt die Gemüter im politischen Warschau. Doch Wahlkampftaktik der PiS sollte hier keinen Platz haben, denn die ukrainischen Bürger sind die Leidtragenden des Streits.

Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda (l.) mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj / picture alliance
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Angeblich sind die Polen angesichts des russischen Angriffskriegs die engsten Verbündeten der Ukraine – und doch knirscht es nun kräftig zwischen Warschau und Kiew. Gegenseitig haben die Außenminister die jeweiligen Botschafter einbestellen und ihnen unfreundliche Dinge vorlesen lassen. Anlass ist der Streit um den Transport ukrainischen Getreides nach Polen: Den Bauern zwischen Weichsel und Oder werden dadurch für ihre eigene Ernte die Preise verdorben. In Polen herrscht Wahlkampf, im Oktober wird ein neues Parlament gewählt, und die nationalpopulistische Regierungspartei PiS will nicht die Unterstützung der traditionell konservativen Landbevölkerung verlieren.

Eine Rolle spielt in dem polnisch-ukrainischen Konflikt auch das traditionelle Misstrauen der PiS gegenüber den Deutschen. Zum Hintergrund gehören ebenso die Emotionen über die Massaker von Wolhynien, als im Sommer 1943 ukrainische Milizen unter den Augen der deutschen Besatzer mehrere Zehntausend Polen ermordeten, ein Thema, das angesichts des 80. Jahrestags nun ebenfalls für Spannungen auf höchster politischer Ebene sorgt.

Nach dem Auslaufen des von der UN und der türkischen Regierung vermittelten Abkommens, in dem Moskau Kiew zugestand, Getreide über das Schwarze Meer per Schiff in die Zielländer zu transportieren, kommt nur der Export über das Eisenbahnnetz in Frage. Die Verschiffung über die Donau, die nun ins Auge gefasst wird, löst das Problem nicht, weil dafür die Kapazitäten zu klein sind. Auch lässt Putin bereits die ukrainischen Häfen der Region beschießen.

Umso wichtiger ist die Eisenbahntrasse über Polen. In den vergangenen Monaten haben Lebensmittelproduzenten in dem Land allerdings die Gelegenheit genutzt, wegen des großen Angebots auf dem Markt die Preise zu drücken. Warschau schloss daraufhin die Grenze für ukrainisches Getreide, die EU bewilligte Ausgleichszahlungen für die polnischen Produzenten und stimmte der Begrenzung des ukrainischen Kontingents zu.

PiS-Regierung kann sich Unruhe unter den Bauern nicht leisten

Nun versucht die PiS-Regierung erneut, Zahlungen aus Brüssel durchzusetzen. Angesichts der jüngsten Umfragen, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der liberalkonservativen und proeuropäischen Opposition vorsehen, kann sie sich Ärger und Unruhe unter den Bauern nicht leisten, da diese die entscheidende Wählergruppe sein könnten. Allerdings haben die Vorstöße des von der PiS gestellten EU-Agrarkommissars Janusz Wojciechowski in Brüssel bislang keinen Erfolg gehabt. In Warschau ist man verärgert, dass Kiew in diesem Konflikt direkt mit Brüssel verhandelt. Der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird unterstellt, hier zu blockieren, da man in Berlin einen Regierungswechsel an der Weichsel erzwingen wolle.

Diese Grundstimmung in der polnischen Führung brachte den Staatssekretär im Präsidialamt Marcin Przydacz zu einer Äußerung, die ein weites Echo fand: „Kiew sollte mehr Dankbarkeit dafür zeigen, welche Rolle Polen in den vergangenen Monaten und Jahren für die Ukrainer gespielt hat.“ In der Tat hat Polen mehrere Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen und als erstes Land in großem Maßstab schwere Waffen geliefert. Ohne die Panzer und Haubitzen aus Polen wären die großen Gegenoffensiven des vergangenen Jahres in den Bezirken Charkiw und Cherson kaum gelungen.

 

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Doch bei den Adressaten kam diese Meinungsäußerung schlecht an. Dem polnischen Botschafter in Kiew wurde harsch beschieden: „Die Erklärung über die fehlende Dankbarkeit der Ukraine spiegelt die Wirklichkeit nicht wider.“ Im Gegenzug wurde dem ukrainischen Geschäftsträger in Warschau mitgeteilt, dass die polnische Seite die Reaktion Kiews nicht gutheiße.

Allerdings wurde Przydacz für seine wenig durchdachte Äußerung auch intern heftig kritisiert, schließlich zelebriert Staatspräsident Andrzej Duda bei jeder Gelegenheit den engen Schulterschluss mit seinem Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj. Duda wiederum, der ja ein PiS-Mann ist, wurde aus dem rechten Spektrum vorgeworfen, bei Selenskyj nicht auf eine Entschuldigung für das Massaker in Wolhynien gedrungen zu haben.

Streit über das Massaker in Wolhynien 

Doch in Kiew denkt man gar nicht daran und führt einige Argumente für das Ausbleiben dieser Geste an: Die Ukraine habe 1943 unter Fremdherrschaft gestanden; die heutige Kiewer Führung sei nicht aus einer der Gruppierungen hervorgegangen, die seinerzeit nicht nur Helfer beim Holocaust waren, sondern sich auch schwerster Verbrechen an der polnischen Bevölkerung schuldig gemacht haben. Selenskyj selbst stammt aus einer jüdischen Familie, die mit dem gewalttätigen ukrainischen Rechtsextremismus nichts im Sinne hatte, die selbst Opfer des Holocaust zu beklagen hatte.

In Wolhynien hatte die polnische Untergrundarmee AK Vergeltungsaktionen durchgeführt, denen wiederum Tausende ukrainische Zivilisten zum Opfer fielen. Zum 70. Jahrestag der Massenmorde 2013 hatten der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, der Lubliner Erzbischof Józef Michalik, und das Oberhaupt der ebenfalls dem Vatikan unterstehenden unierten Kirche der Ukraine, Swjatoslaw Schewtschuk, den berühmten Satz wiederholt: „Wir vergeben und bitten um Vergebung!“ Diesen Satz hatten erstmals die polnischen Bischöfe in einem Schreiben formuliert, das sie am Rande des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 ihren deutschen Amtsbrüdern überreicht hatten.

Im Juli gedachte der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk in einer abgewogenen Rede im Warschauer Sejm der Opfer und bekam von der internationalen Presse dafür viel Lob. Er berief sich auch auf Papst Johannes Paul II., dem die Aussöhnung zwischen Polen und Ukrainern Herzensangelegenheit war.

Stabilisierung der Ukraine müsste höchste Priorität haben

Allerdings blieb Stefantschuk mit seiner Rede weit hinter den Forderungen aus dem rechten Lager an der Weichsel zurück. Die PiS hat derzeit ein zusätzliches Problem: Einerseits zeigt sie sich als Avantgarde bei der militärischen Unterstützung Kiews, andererseits aber wäre sie, einen günstigen Wahlausgang im Oktober vorausgesetzt, auf die Unterstützung der nationalistischen Partei Konfederacja bei der Regierungsbildung angewiesen. In der Konfederacja aber geben diejenigen den Ton an, die die Hilfe für die Ukraine lieber heute als morgen beenden würden.

Die Leidtragenden der innerpolnischen Spannungen sowie der Differenzen zwischen Warschau und Brüssel sind indes die Ukrainer: Ihre ohnehin schon unter dem Krieg taumelnde Wirtschaft ist auf sichere Exportwege durch Polen angewiesen. Die Stabilisierung der Ukraine müsste also allerhöchste Priorität für die PiS haben. Wahlkampftaktik oder Streit über zwei Generationen zurückliegenden Schandtaten sollten hier keinen Platz haben.

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