Keine Taurus-Marschflugkörper für die Ukraine - Die Selbstabschreckung von Bundeskanzler Scholz 

Bundeskanzler Olaf Scholz möchte keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Doch wer in seinen Entscheidungen lieber auf allerlei Bedenken statt auf die Nato-Sicherheitsgarantie vertraut, macht sich Drohungen aus Moskau gegenüber erpressbar.

Bundeskanzler Olaf Scholz / picture alliance
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Autoreninfo

Heinrich Brauß ist Generalleutnant der Bundeswehr a.D. und war Beigeordneter Nato-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung im Internationalen Stab der Nato in Brüssel (2013-2018). Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, beide in Berlin.

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Bundeskanzler Scholz will (vorerst) der Ukraine keine Taurus-Marschflugkörper liefern. Dies ließ er am Rande des Gipfeltreffens der Europäischen Union am 6. Oktober in Spanien verlauten. Seine Beweggründe sind unklar. Scholz belässt es bei Andeutungen.

Das liegt einerseits in der Natur der Sache: Das strategische und militärische Für und Wider von bestimmten Waffenlieferungen kann die Regierung kaum öffentlich im Detail erörtern. Denn Putin hört mit und zieht daraus seine Schlüsse. Andererseits wirken manche Begründungen des Kanzlers vorgeschoben. Mehr noch: Sie liefern Hinweise auf ein Denkmuster, das bündnispolitisch bedenklich ist. Trifft es zu, beschädigt es Deutschlands Glaubwürdigkeit und lässt Zweifel an der sicherheitspolitischen Kompetenz im Kanzleramt aufkommen. 

Begründungen des Kanzlers sind wenig überzeugend

Erst war über Umwege aus dem Kanzleramt zu hören, die Programmierung des Navigationssystems des Lenkflugkörpers Taurus verlange die Verfügbarkeit von Geländedaten der Ukraine, sei kompliziert und müsste durch deutsche Soldaten in der Ukraine überwacht werden, was einem Kriegseinsatz gleichkomme.

Dort sind aber schon seit Längerem der weitreichende britische Marschflugköper „Storm Shadow“ und das baugleiche französische System „Scalp-EG“ auf Seiten der Ukraine im Einsatz. Die Ukraine verfügt also schon längst über die nötigen Geodaten und Zielkoordinaten. Und Militärexperten zufolge können ukrainische Experten auch in der Programmierung und Bedienung des Taurus in Deutschland ausgebildet werden. Ein Storm-Shadow-Flugkörper hat jüngst das russische Marine-Oberkommando in Sewastopol zerstört. 

 

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Auch Taurus hat eine große militärisch-taktische Bedeutung für die Kriegsführung der Ukraine. Er kann den Gegenangriff der ukrainischen Armee zur Befreiung ukrainischen Territoriums wirkungsvoll unterstützen. Seine wichtigsten militärischen Fähigkeiten sind seine Reichweite (von rund 500 km), Tiefflugfähigkeit und Sprengkraft. Er kann in der Tiefe des Raums, den die russische Armee besetzt hält, verbunkerte Befehlsstände, gehärtete Munitionsdepots, Brücken, Eisenbahnlinien und Start- und Landebahnen zerstören.

Kurz: Er kann Führung und Versorgung der russischen Armee und damit ihre Kampffähigkeit an der Front erheblich schwächen. Wer will, dass der Gegenangriff der ukrainischen Armee weiter merklich vorankommt und schließlich die russischen Invasoren zurückwerfen kann, muss für die schnellstmögliche Lieferung von Taurus sein.  

Scholz führt mantrahaft das Risiko einer Ausweitung des Krieges an

Demgegenüber wird Kanzler Scholz mit der Feststellung zitiert, dass bei den Waffenlieferungen an die Ukraine beachtet werden müsse, was die Verfassung vorgebe und was Deutschlands Handlungsmöglichkeiten seien. Dazu zähle „ganz besonders die Tatsache, dass wir selbstverständlich gewährleisten müssen, dass es keine Eskalation des Krieges gibt und dass auch Deutschland nicht Teil der Auseinandersetzung wird“. Briten und Franzosen „können etwas, was wir nicht dürfen“.

Was meint Scholz genau? Man wird unweigerlich an sein monatelanges Zögern im letzten Jahr erinnert, der Ukraine moderne Kampfpanzer Leopard 2 zu liefern. Auch damals führte er mantrahaft das Risiko einer „Eskalation“ durch Putin und der Ausweitung des Krieges an und bestand darauf, dass parallel zu Deutschland auch die USA Kampfpanzer lieferten, um eine vermeintliche exklusive Bedrohung Deutschlands durch Russland auszuschließen. Weder führten aber deutsche Leopard-Panzer in der Ukraine zu einer Eskalation noch zu einer Bedrohung Deutschlands. Und Washington lieferte amerikanische Kampfpanzer erst in diesen Tagen.

Hätte die Ukraine Monate früher genügend gepanzerte Gefechtsfahrzeuge erhalten, wäre ihr Gegenangriff vermutlich viel weiter gekommen und hätte sie womöglich verhindern können, dass Russland monatelang das tiefgestaffelte Verteidigungssystem im Süden und Osten errichtete, an dem sich die ukrainische Armee jetzt unter hohen Verlusten die Zähne ausbeißt. 

Altes Denkmuster von Kanzler Scholz tritt wieder hervor

Dennoch tritt das alte Denkmuster von Kanzler Scholz nun wieder hervor. Aus Regierungskreisen wird berichtet, er sei besorgt, die Ukraine könne auch die Kertsch-Brücke zerstören, die Russland mit der Krim verbindet und ein zentrales Stück einer wichtigen militärischen Versorgungslinie für die russische Armee ist. Sie zu unterbrechen, ist nicht nur das legitime Recht der Ukraine, sondern militärisch absolut sinnvoll.

Da die Krim für Putin große militärische und politisch-symbolische Bedeutung hat, könnte, so hört man, ihn eine solche Operation zu einer Eskalation veranlassen, die sich dann auch gegen Deutschland richten könnte. Briten und Franzosen seien dagegen gefeit, weil sie Atomwaffen besitzen, die eine abschreckende Wirkung auf Russlands Führung hätten.  

Aber ist das Argument stichhaltig? Erstens liegt eine „Eskalation des Krieges“ nicht in deutscher Hand, ihre Vermeidung können wir nicht „gewährleisten“. Und zweitens: Wie muss man sich eine Eskalation konkret vorstellten? In welche Richtung? Gegen die Ukraine, aber wie? Womöglich gegen Deutschland oder sogar Teile der Nato? Oder sogar durch die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen? Würden sich Kanzler Scholz und seine Berater von solchen Befürchtungen letztlich leiten lassen, würden sie entscheidende Grundkonstanten deutscher Sicherheit außer Acht lassen.  

Deutschland ist durch Artikel 5 des Nordatlantikvertrags geschützt

Deutschland ist als Nato-Mitglied durch die kollektive Sicherheits- und Verteidigungsgarantie des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags geschützt: Einer für alle, alle für einen! Das nahezu ausschließliche Abstützen durch Scholz auf den Gleichschritt mit der amerikanischen Regierung in der Panzerfrage hat selbst Präsident Biden überrascht und war kein Vertrauensbeweis in die Solidarität der Nato als Ganzer und eigentlich ein Fauxpas des Kanzlers. Denn würde Putin Deutschland bedrohen, hätte er die gesamte Nato gegen sich, 31 Verbündete, einschließlich Amerikas.  

Deutschland ist aus guten Gründen keine Nuklearmacht wie die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien. Aber wir stehen wie alle anderen nicht-nuklearen Nato-Verbündeten unter dem Schutz der erweiterten nuklearen Abschreckung der USA. Deutschland zumal ist aus amerikanischer wie aus russischer Sicht (immer noch) strategisch die zentrale europäische Macht in der Mitte Europas.

Hier sind Zehntausende amerikanischer Soldaten und ihre Familien stationiert. Hier liegen die wichtigsten amerikanischen militärischen Führungseinrichtungen in Europa. Eine Drohung gegen Deutschland käme insofern einer Drohung gegen Amerika gleich. Bisher hat Putin dies vermieden wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser.

Abschreckung passiert im Risikokalkül des Gegners

Denn Abschreckung passiert im Risikokalkül des Gegners. Das Risiko, dass im Falle eines nuklearen Einsatzes durch Russland gegen einen oder mehrere Bündnispartner in Europa die USA zum Gegenschlag gegen Russland ausholen könnten, mit untragbar hohen Schäden für Russland selbst, ist aus Moskauer Sicht viel zu hoch.

Im September 2022 warnte der amerikanische Außenminister Antony Blinken die russische Führung öffentlich, dass jeder Einsatz von Atomwaffen durch Russland, selbst wenn er „nur“ in der Ukraine erfolgte, „katastrophale Konsequenzen auch für Russland selbst“ hätte. Die Botschaft lautete: Die USA würden sich in jedem Fall militärisch engagieren. Daraufhin erstarb das lose Gerede in Moskau über den Einsatz von Nuklearwaffen, und bisher lebte es nicht wieder auf. Putin hatte verstanden. 

Erpressbar gegenüber Drohungen aus Moskau

Natürlich hat die Bundesregierung die Pflicht, bei der militärischen Unterstützung der Ukraine mit besonderen Waffen, die eine weitreichende militärische Wirkung haben, die möglichen politischen Folgen zu analysieren und mögliche Risiken abzuwägen. Sie sollte dies in enger Abstimmung mit ihren Verbündeten tun, vor allem den USA, aber eben auch im Gleichschritt mit unseren wichtigsten europäischen Partnern. Anzuerkennen ist auch, dass die deutsche Regierung hinter den USA zum größten europäischen Unterstützer der Ukraine aufgerückt ist.

Die leitende Maxime muss immer sein, die Ukraine möglichst mit allem zu unterstützen, was nötig ist, dass sie gegen den Aggressor obsiegen kann. Denn wird Putin nicht gestoppt, dann ist auch Europa bedroht. Wer sich für seine Entscheidungen dabei nicht zugleich von der Gewissheit der Nato-Sicherheitsgarantie für Deutschland durch seine Verbündeten leiten lässt, sondern möglichen Risiken und allerlei Bedenken das Feld überlässt, der übt Selbstabschreckung und macht sich Drohungen aus Moskau gegenüber erpressbar.  

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