Ukraine-Krieg - Russlands Krieg und Chinas Interessen

China und Russland haben ihre gute Partnerschaft immer betont. Doch unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine muss Peking einige Bewertungen neu justieren. Dass etwa der Westen auf Putins Überfall mit Eintracht reagiert und einschneidende Sanktionen gegen Russland erlassen hat, wird in China aufmerksam registriert. Denn damit gehen auch Fragen einher wie: Könnte China ähnliches widerfahren, wenn es Taiwan angreift?

Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping bei einem Treffen Anfang März / dpa
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Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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„Die chinesisch-russische Zusammenarbeit ... trägt zu Frieden, Stabilität und Entwicklung in der Welt bei.“ Das sagte der chinesische Außenminister Wang Yi am Montag. Das Bündnis beider Staaten sei auch in Zukunft „felsenfest“. Nun gehört es zur Rollenbeschreibung von politischem Spitzenpersonal, häufiger Formulierungen gebrauchen zu müssen, die von außen als realitätsfern erscheinen. Denn auch die Diplomatie baut ihre eigene Welt.

Doch „russisch“, „Frieden“ und „Stabilität“ in einem Satz unterzubringen, während Russland in einem Angriffskrieg europäische Städte in Schutt und Asche bombt, über eine Million Menschen aus ihrem Land vertreibt und die Weltwirtschaft in einen gefährlichen Tumult stürzt, ist schon besondere Formulierungskunst. Die Frage ist, wieviel sie mit der Realität chinesischer Interessen zu tun hat, wie sie in China selbst derzeit wahrgenommen werden.

Selektive Auswahl von Fakten

China beharrt fest auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die mit der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Staaten einhergeht. Ihren Bürgern stellt die chinesische Führung den Krieg in der Ukraine als Verteidigung russischer Interessen dar. Die Global Times, eine Seite auf der die Position der Kommunistischen Partei Chinas immer meinungsfest dargestellt wird, macht derzeit mit Kommentaren auf, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, wie sie auch der chinesischen Führung bekannt ist. So als wäre der Zugang chinesischer Kommentatoren zum Geschehen in der Ukraine auf russische Darstellungen konzentriert: Russland wehre sich in der Ukraine gegen den übergriffigen Westen, es verteidige die dortige Bevölkerung gegen ein faschistisches Regime, das auch noch ohne Anwendung von Gewalt, und mache zudem ja nichts anders als westliche Staaten zuvor.

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Nun wird ein Krieg nicht dadurch gerechtfertigt, dass zuvor ein anderer Staat Krieg geführt hat (beide brechen Völkerrecht). Selbst die Flucht aus der Ukraine legt Russlands Propaganda bloß: Während inzwischen über zwei Millionen Menschen bisher in EU-Europa ankamen, wollten etwa 90.000 nach Russland und fanden 450 den Weg nach Belarus. Das kann man wissen, aber auch übersehen, wenn es nicht ins Bild passt. Und übergriffig ist der Westen derzeit auch nicht, betonen seine Vertreter doch stündlich, dass sie in den Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht eingreifen und nicht hineingezogen werden wollen. Die Scharade um die polnischen Kampfjets führt das auch der chinesischen Führung deutlich vor Augen. Die erhöhte Alarmbereitschaft für Nuklearwaffen gingen die USA nicht einmal mit. Doch die selektive Auswahl von „Fakten“ schützt vor kognitiven Dissonanzen, zumindest in der Bevölkerung.

Einige Bewertungen neu justieren

Die chinesische Führung kann sich diesen kognitiven Dissonanzen aber nicht entziehen. Denn sie muss mit Blick auf Russland und die Folgen des Kriegs in der Ukraine einige Bewertungen neu justieren. Die erste betrifft die Effektivität und Effizienz des militärischen Vorgehens, galt Russland für China doch als militärisch ausgesprochen handlungsfähig. Jeder Tag, an dem die ukrainischen Kräfte Russlands Streitkräfte aufhalten, zehrt am Ruf des Feldherrn im Kreml und dem Ansehen seiner Truppen in China. Schon jetzt lässt sich festhalten, dass die russischen Streitkräfte zwar zerstörungsstark, aber operativ schwächer sind, als dies viele erwarteten.

Angesichts der engen militärischen Kooperation Chinas mit Russland wird dies in Peking erstaunt festgestellt werden. Denn anders als im Falle Taiwans war die Aufgabe um die Ukraine vom Anspruch her überschaubar (wer kann schon an drei Grenzen langsam Truppen aufstellen) und von der Vorgehensweise (schneller Vormarsch zur „Enthauptung“ der Regierung) unmissverständlich. Aber die russischen Streitkräfte erfüllten die an sie gerichteten Aufgaben nicht so, wie es erwartet wurde.

Russland und das transatlantische Bündnis

Der chinesische Gesellschaftsvertrag – Akzeptanz der Herrschaft der Kommunistischen Partei gegen stetig steigenden Wohlstand – gerät derzeit mit den weltwirtschaftlichen Turbulenzen, die zuerst von der Pandemie ausgingen, nun aber besonders heftig als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg verstärkt wurden, in Schieflage. Die wirtschaftlichen Prognosen waren in China lange nicht mehr so gemäßigt wie jetzt. Da kann es für China nicht ohne zukünftigen Stellenwert bleiben, dass der Westen rasch und in einer so nicht erwarteten Eintracht auf den russischen Angriff reagiert und Sanktionen in einem bisher gegenüber großen Staaten nicht gekannten Maß erlassen hat.

Die Sanktionen richten dann auch den chinesischen Blick auf die Welt wieder ein wenig gerade, denn dafür lässt sich die Schuld dem großen Land mit Hegemoniestreben, den USA, geben. Präsident Xi betonte deshalb am Mittwoch, dass neben einer Lösung auf der Grundlage der Souveränität und territorialen Integrität auch die Sanktionen beseitigt werden müssen. Xi formulierte das chinesische Interesse deutlich: „Die betreffenden Sanktionen haben Auswirkungen weltweit auf Finanzen, Energie, Transport sowie Lieferketten und ziehen die unter der Pandemie leidende Weltwirtschaft zum Nachteil aller herunter.“ Das hieße im Klartext: Die Sanktionen wirken.

Umso wichtiger wird es für China in Zukunft sein, Europa und die USA wirtschaftlich und politisch auseinanderzudividieren, jedenfalls was ihre Chinapolitik betrifft. Der Krieg in der Ukraine, das ist Chinas zweites Augenmerk, konterkariert dies. Russland hat das transatlantische Bündnis geradezu zusammengeschweißt, und je länger der Krieg dauert, desto belastbarer werden im Westen weitere institutionelle Strukturen eingezogen. Russland hat Chinas strategisches Interesse, die USA und Europa mit unterschiedlichen Handelsinteressen jeweils in ein spezifisches Verhältnis zu China zu führen, unterlaufen. China hat das Interesse, diese westliche Eintracht rasch zu beenden. Deshalb verlangt der chinesische Präsident „maximale Zurückhaltung“. Freilich weiß er, dass die Sanktionen die Reaktion auf den Angriffskrieg sind. Somit weiß er auch, was die Bedingungen für deren Ende ist (wobei inzwischen unabhängige Effekte ausgelöst wurden).

Sozio-ökonomische Lage in der Sowjetunion

Die politische, wirtschaftliche, finanzielle, kulturelle und sportliche Isolation, in die Russland schlagartig versetzt wurde, wird auch beim Partner China registriert worden sein. Und zwar als Befürchtung. Könnte China, so die dritte Herausforderung, ähnliches widerfahren, wenn es Taiwan angreift? Es wäre aus chinesischer Sicht derzeit ein herber Rückschlag beim Versuch, das eigene Land nicht nur als Weltmacht, sondern als bewunderte Weltmacht (in den Augen der eigenen Bürger) aufzubauen und dem Land die Gefolgschaft vieler Staaten zu sichern.

Die Isolation Russlands geht ja weit über das hinaus, was Regierungen leisten können. Es sind ja insbesondere die Reaktionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Bürgern Russlands ihre Ausgrenzung bewusst werden lassen. Beim Sport, der Kultur, bei Filmen und im Konsum. Älteren Russen werden Erinnerungen an die sozio-ökonomische Lage und politische Repression während der Sowjetunion in den Sinn kommen können. Eine derartige soziale Ausgrenzung aus dem transnationalen Leben gab es nur einmal: beim Apartheid-Regime in Südafrika am Ende der Amtszeit von Botha. Jetzt ist sie auch bei großen Staaten möglich. Die westlichen Zivilgesellschaften erweisen sich als handlungsmächtig.

Russland als Tributstaat Chinas

China und Russland eint das Verlangen, die USA zu stürzen, die eigenen Bürger zu kommandieren und die Herrschaft ihrer Regimes auf Dauer zu stellen. Je weiter sich Russland in diesem Streben vom Westen entfernt, desto enger rutscht es an China heran, weil es keinen anderen Platz in der internationalen Ordnung mehr gibt. Russland wird auf diese Weise nicht dritte Weltmacht, sondern Chinas Tributstaat. Auch das wäre aus Chinas Sicht ein guter Ausgang des derzeitigen Kriegs und der Isolation Russlands, wenn es die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie nicht gefährden würde. Aber das tut es.

Für Russland würde die Bewertung allerdings anders ausfallen. Aus chinesischer Interessenlage ist deshalb die Frage zu beantworten, ob mittelfristige wirtschaftliche Verwerfungen und ein enger Schulterschluss des Westens für den exklusiven bestimmenden Einfluss auf Russland verkraftet werden sollen. Oder ob Russland während dieser Phase seinen Wert für China mehr und mehr einbüßt, weil Europa und die USA für die ökonomische und soziale Entwicklung des Landes so viel bedeutender sind. Die chinesische Diplomatie hält sich die Antwort derzeit noch offen. Zwar habe der Frieden höchste Priorität und sei die UN-Charta die Grundlage jeder Lösung, doch wenn es konkret wird, steht China hinter einem Aggressor, der die UN-Charta bricht.

Aber auch in Moskau muss die Lage neu eingeschätzt werden. Auf die „felsenfesten“ Beziehungen wird man sich im Kreml nicht verlassen, alleine schon deshalb, weil man dort weiß, dass ja auch das eigene Wort nichts gilt.

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