Ukraine-Konflikt bei Maischberger - „Putin will die europäische Landkarte neu zeichnen“

Nachdem Wladimir Putin beschlossen hat, Donezk und Lugansk als eigenständige Volksrepubliken anzuerkennen, überschlagen sich die Ereignisse in der Ukraine - und viele Fragen drängen sich auf. Über einige diskutierte Sandra Maischberger Mittwochnacht unter anderem mit Vizekanzler Robert Habeck, CDU-Chef Friedrich Merz sowie dem ehemaligen Bundesaußenminister Sigmar Gabriel von der SPD.

Sigmar Gabriel und Friedrich Merz bei Maischberger / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Wie weit wird Wladimir Putin gehen? Droht gar Krieg in Europa? Und was können, was müssen die Bundesregierung und der Westen tun, um das Allerschlimmste zu verhindern? Als Sandra Maischberger vor einiger Zeit ihr Sendungskonzept umgestellt hat, gefiel das nicht jedem. Doch gerade beim hochkomplexen Ukraine-Konflikt zeigen sich die zentralen Stärken von „Maischberger – Die Woche“ – vor allem, wenn sich in der ersten Hälfte der Sendung zwei gegenübersitzen, die nicht grundsätzlich einer Meinung sind, aber respektvoll und sachlich bleiben im Umgang miteinander. Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) und CDU-Chef Friedrich Merz nämlich.

„Er hat einen tiefen Einblick gegeben in seine Weltsicht“, sagt Gabriel etwa zur Rede Putins am Montag, in der der russische Präsident die Anerkennung der Separatistenrepubliken verkündete – und zur Einleitung dessen ein ellenlanges Geschichtsreferat lieferte, mit einem großen Bogen von anno dazumal bis heute. Freilich aus tiefrussischer Perspektive. „Er hat ja in Wahrheit alles kritisiert, was nach dem Niedergang des Zarenreiches passiert ist“, so Gabriel. „Die Rede war für mich nicht überraschend“, sagt Merz. Und weiter: „Wenn man genau hingehört hat, und wenn man auch gelesen hat, was das Umfeld von ihm in den letzten Jahren gesagt hat, ist es nur eine logische weitere Entwicklung, eine weitere Eskalation.“

Laut Merz will Putin „ein Territorium sichern und auch unter seinen Einflussbereich zurückbringen, das die alte Sowjetunion schon einmal hatte“. Folgt man Gabriel, sei das Vorgehen Putins auch von einem Kulturbegriff geprägt, einem russischen, den Putin wieder in Europa verankern wolle. „Die Rede hat offenbart: Es geht nicht um die Ukraine, es geht nicht um die Nato, es geht nicht um eine Bedrohung für Russland, sondern es geht darum, dass er Russland wieder als europäische Großmacht installieren will“, so der ehemalige Bundesaußenminister.

Putin will der sein, der die Fäden in der Hand hält

Auch Gabriel ging in seiner Argumentation dabei ein bisschen zurück in der Geschichte. Wenn auch nicht ganz so weit wie Putin, versteht sich. Folgt man Gabriel, scheint Putins Vorgehen auch ein Ausdruck des Bedeutungsverlustes der Russen seit dem Ende der Sowjetunion zu sein. Eine europäische Großmacht sei „Russland seit 1990 nicht mehr“, so Gabriel: „Es ist abgesunken auf den Status eines Energielieferanten.“ Daher sehe Putin – angesichts der Schwäche des amerikanischen Präsidenten und weil die Europäer konfus seien, so Gabriel – jetzt „eine Chance, das rückgängig zu machen.“

Merz sagt: „Ich bin nicht der Meinung, dass das kulturell ist, sondern das ist imperialistisch. Das ist der Versuch, einen großen Teil des Weltmachtgefüges zurückzugewinnen, das er einmal meinte, gehabt zu haben.“ Wenn man ernstnehme, was Putin am Montag gesagt hat, so der CDU-Chef, könne es dabei auch um „Teile des Nato-Territoriums“ gehen, etwa „die baltischen Staaten oder Teile des polnischen Staatsgebietes“. 

Gabriel hält dagegen: „Ich glaube nicht, dass er sich trauen würde, ein Nato-Territorium anzugreifen. Den Konflikt will er vermeiden. Das macht die Sache aber auch nicht besser.“ Es gebe, so Gabriel weiter, bei Putin nur „einen Hebel“, mit dem er sich interessant machen könne – und das sei das Militär. Gabriel glaubt deshalb, dass Putin der sein wolle, der die Fäden in der Hand hält in Verhandlungen mit dem Westen in den kommenden Jahren. Die Freiheit der Ukraine als Faustpfand?

Putin nimmt nur den US-Präsidenten ernst

Merz fühlt sich, sagt er, im Vorgehen Putins und in der Reaktion des Westens an die Münchner Sicherheitskonferenz 1938 erinnert, als es dort um das Sudetenland ging: „Da haben auch Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler geglaubt, sie könnten den Zweiten Weltkrieg abwenden, indem sie einen Territorialanspruch befriedigen, den Hitler damals hatte. Und wie wir wissen, ist die Geschichte etwas anders ausgegangen.“

Anders formuliert: Merz glaubt nicht, dass Putin nur an den beiden „Volksrepubliken“ im Donbass interessiert ist. Merz glaubt, dass Putin „mit aller Gewalt“ eine russische Regierung in Kiew installieren möchte. Im wahrsten Sinne des Wortes wohlgemerkt. „Putin will die europäische Landkarte neu zeichnen“, so Merz. Und Gabriel sagt: „Putin will, dass man mit ihm über das Schicksal Europas verhandelt. Er will nicht mit Europa verhandeln.“


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Was den Umgang mit Putin betrifft, zeigt sich Merz ernüchtert: „Wir sind alle etwas zu naiv gewesen. Wir haben geglaubt, dass man Außenpolitik durch Annäherung, durch wirtschaftliche Entwicklung, durch Dialogforen machen kann.“ Beide Minsker Abkommen seien aber genau der Versuch gewesen, Putin zu begrenzen. „Und das hat er brachial mit Waffengewalt gebrochen“, so Merz – und prophezeit eine „neue politischen Ordnung in Europa“.

Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen

Was also tun? Folgt man dem CDU-Chef, wäre der erste Schritt, überhaupt einmal „realistisch“ einzuschätzen, was in der Ukraine derzeit geschieht: „Wir haben es hier mit einem militärischen Konflikt der beiden größten europäischen Länder zu tun. Und es ist einfach naiv, zu glauben, dass wir mit der Art, wie wir damit bisher umgegangen sind, zu irgendeinem weiteren Erfolg kommen“, so Merz. Und weiter: „Ich glaube, wir müssen das Thema Abschreckung wieder in den Vordergrund stellen. Wir müssen klar und deutlich sagen, dass es hier Grenzen gibt, wo wir nicht bereit sind, dass sie überschritten werden. Wir werden mit dem Sanktionsregime weitermachen müssen.“

Gegen Ende des ersten Gesprächs bei „Maischberger – die Woche“ fragt Gabriel dann noch: „Was machen wir eigentlich, wenn es kein so großer Krieg ist? Sind sie dann bereit, hart zu reagieren? Oder kriegen die das Fracksausen und sind froh darüber, dass sie es nicht machen müssen?“ Gabriel meint die unterschiedlichen Länder des Westens, mit ihren unterschiedlichen Interessen gegenüber Russland. Beide, Gabriel und Merz, plädieren in dem Zusammenhang unterm Strich auch dafür, sich unabhängig von russischen Gaslieferungen zu machen. Und beide scheinen sich einig, dass man sich derzeit wohl nicht leisten kann, diverse Alternativen abzuschalten, um die grüne Energiewende voranzutreiben.

Und während man Gabriel lauscht, wünscht man sich dann doch auch einen wie ihn zurück in der SPD, wo Teile der Partei, das ist mittlerweile überdeutlich, in den vergangenen Wochen wohl schlicht zu naiv auf Putin und seine Interessen geblickt haben. Darunter SPD-Chefin Saskia Esken, die vergangene Woche noch die vermeintlichen diplomatischen Erfolge von Olaf Scholz und der Ampel-Regierung gegenüber Russland mit den Worten lobte, der angekündigte Truppenabzug der Russen sei „das erste Ergebnis einer beeindruckenden Krisendiplomatie der Ampelregierung und des Bundeskanzlers“. So kann man sich irren.

Kurz vor einem massiven Landkrieg in Europa

Was auf Merz und Gabriel folgt, ist die nächste Gesprächsrunde mit der Ukraine-Expertin Ljudmyla Melnyk vom Institut für Europäische Politik, mit der stellvertretenden Leiterin des Hauptstadtbüros des Redaktionsnetzwerks Deutschlands, Kristina Dunz, und mit dem Filmemacher und Putin-Biografen Hubert Seipel. Doch um ehrlich zu sein, wurde der Zuschauer – besonders noch unter dem Eindruck des guten Gesprächs zwischen Gabriel und Merz stehend – dann vor allem gequält mit einem Hin und Her zwischen Dunz und Seipel, die sich, uneins in der Sache, einmal zu oft darin zu überbieten suchten, wer wohl am meisten Ahnung vom Thema haben mag. Daher sei dieses eher leidige Kapitel dieser sonst sehenswerten Sendung großzügig ausgeklammert.

Denn neben Gabriel und Merz war noch ein Politiker zu Gast, nämlich Robert Habeck von den Grünen, seinerseits Bundesminister für Wirtschaft und Klima – und eben auch Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Und eines wird schon bei der ersten Nahaufnahme deutlich: Der Vizekanzler scheint angesichts der Vorgänge in der Ukraine ernsthaft besorgt – und da macht er auch keinen Hehl daraus. „Wir stehen kurz vor einem massiven Landkrieg in Europa“, sagt Habeck. Er flüstert es fast. Am Satzende bricht seine Stimme ab. Was ihn dazu bringe, das zu glauben, will Maischberger wissen.

„Ich glaube, dass, wenn man so eine Aufrüstungsspirale beginnt, dass man schwer da wieder rauskommt“, sagt Habeck. Man sehe, dass die Vorbereitungen abgeschlossen seien. „Und im Moment fehlt jede Idee, wie man nach der Rede und nach der Anerkennung der sogenannten ,Volksrepubliken‘ wieder in ein demokratisches Gespräch einsteigen kann.“ Es sei, so Habeck weiter, eine „klare, aggressive, von Russland herbeigeführte Situation, die auf einen Angriffskrieg deutet, wie wir ihn in Europa so und in der Bedrohungslage lange nicht gesehen haben“. Dann schweigt Habeck kurz, überlegt sichtlich und sagt dann nur: „Punkt.“

Bereit, den Preis für den Frieden zu zahlen

Die deutsche Bundesregierung – und mit ihr auch Robert Habeck – hält derweil weiterhin daran fest, keine letalen Waffen in Krisengebiete zu liefern, also auch nicht in die Ukraine. Ob das auch Habecks Sicht auf die Dinge ist, da kommen bei wiederholter Nachfrage von Maischberger zumindest Zweifel auf. Ebenso bei der Frage, ob es sich die Nato leisten kann, nicht einzugreifen in einen möglichen bewaffneten Konflikt. Gleichwohl ist der Stand der Dinge, dass die Ukraine nicht Teil der Nato ist, und diese deshalb auch keine Verpflichtung hat, das Land militärisch zu unterstützen, sollte Putin sich tatsächlich die ganze Ukraine einverleiben wollen.

„Was sind also die schärfsten Schwerter, die es gibt?“, will Maischberger von Habeck noch wissen. Und ob es das schärfste Schwert sei, die Gas-Pipeline Nord Stream 2 erstmal auf Eis zu legen? „Sanktionen, die man ankündigt, verlieren an Schärfe. Deshalb ist es klug und richtig, dass Europa, die Amerikaner und auch Deutschland nicht über potenzielle Sanktionen geredet haben", sagt Habeck. Und weiter: „Ich kann ihnen versichern, es gibt weitere vorbereitete Sanktionen.“

Auch solche, die am Ende auch der eigenen Wirtschaft schaden könnten, will Maischberger wissen. „Das ist am Ende so. Es gibt eigentlich keine Sanktionen, die nicht auch wirtschaftliche Folgen in dem Land haben, dessen Handelsbeziehungen unterbrochen sind. Das wissen auch alle“, sagt Habeck. Daher habe man „viel Mühe darauf verwendet, die Sanktionen so zu formatieren, dass sie möglichst scharf und treffend in Russland wirken, und möglichst wenig die deutsche Wirtschaft und deutsche Unternehmen betreffen“.

Ein gewisser Schaden, so Habeck, werde aber bleiben. Und das sei auch hinzunehmen. Habeck sagt: „Denn in so einer Situation, in so einer Kriegssituation hat der Frieden einen Preis. Und den sollten wir auch bereit sein, zu zahlen.“

In eigener Sache: Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann ist derzeit in der Ukraine unterwegs. Was er dort erlebt, können Sie auf Cicero Online nachlesen sowie auf seinem Twitter-Account verfolgen.

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