Ukraine - Selenskyj feuert Oberkommandierenden

Präsident Selenskyj hat den Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, entlassen. Der Grund liegt offenbar in Differenzen über die Strategie im Verteidigungskrieg gegen Russland.

Fordert die Mobiliserung einer halben Million weiterer Männer: Walerij Saluschnyj / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Seit Monaten spekulierten die Kiewer Medien über ein Zerwürfnis zwischen dem Präsidenten und dem Oberkommandierenden, nun haben die Gerüchte sich bewahrheitet: Selenskyj hat seinen obersten Soldaten entlassen. Dabei wird es wohl nicht bleiben, am Sonntag hatte der Präsident im Interview des italienischen Senders RAI auch die „Ersetzung einer Reihe von Führern in unserem Staat“ angekündigt und hinzugefügt: „Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir, überzeugt vom Sieg, alle in dieselbe Richtung drängen.“

Amerikanische Medien hatten in den vergangenen Tagen berichtet, dass das Weiße Haus Selenskyj dringend davon abgeraten haben soll, Saluschnyj zu entlassen. Denn dieser ist nicht nur in der kämpfenden Truppe überaus populär, sondern auch in der Bevölkerung. Beide demonstrierten am gestrigen Donnerstag für die Nachrichten der ukrainischen Fernsehsender bestes Einvernehmen; Selenskyj danke dem General für seien „großartigen, nimmermüden Einsatz“ und bat ihn, „im Team zu bleiben“. Neuer Oberkommandierender wurde Oleksandr Syrsky, der bisher an der Spitze der Landstreitkräfte gestanden hatte. Syrsky hatte die ukrainischen Truppen bei der erfolgreichen Verteidigung Kiews im Frühjahr 2022 sowie der Gegenoffensive im Bezirk Charkiw ein halbes Jahr später geführt.

Die Entscheidung Selenskyjs ist für ihn nicht ohne Risiko: Nach den jüngsten Umfragen des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts (KIIS) lag die Zustimmungsrate für den General bei 88 Prozent, während sie für den Präsidenten auf 77 Prozent gesunken ist, Tendenz weiter fallend.

Die Kiewer Medien hatten drei Felder ausgemacht, auf denen es zu scharfen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Nummer Eins im Staat und der Nummer Eins im Militär gekommen sein soll: Zwei dieser Problemfelder betreffen die Kriegsführung. Den Berichten zufolge möchte Selenskyj die ukrainischen Stellungen um die umkämpften und weitgehend zerstörten Orte Awdijiwka und Bachmut im Donbass weiter halten, weil dort die russischen Angreifer täglich Hunderte Männer verlieren. Im Herbst hatten ukrainische Verbände die Russen um Bachmut sogar einige Kilometer zurückgeworfen. Doch Saluschnyj war offenbar der Meinung, dass dies kaum strategische Bedeutung habe, da Kremlchef Wladimir Putin über genügend Reserven verfüge und ihn der Tod Tausender eigener Leute nicht rühre. Auch zahlen die Ukrainer dabei einen hohen Blutzoll. Die ukrainischen Streitkräfte müssten sich nach den Worten des Generals angesichts der massiven Aufrüstung und der Mobilisierung auf russischer Seite derzeit ganz auf Verteidigung konzentrieren. Das Reden von der raschen Rückeroberung der besetzten Gebiete verkenne die Realität – es war eine Spitze des Generals gegen Selenskyj.

Der Termin für die Präsidentenwahlen wurde bereits einmal verschoben

Der zweite Streitpunkt ist die Rotation der kämpfenden Truppe. Ein Großteil der Verbände ist ohne Pause seit fast zwei Jahren an der Front eingesetzt, die Soldaten sind physisch wie psychisch erschöpft. Saluschnyj forderte die Mobiliserung und Ausbildung einer halben Million weiterer Männer, Selenskyj möchte dies aus politischen Gründen vermeiden, weil diese Entscheidung äußerst unpopulär wäre. Er hofft stattdessen nach wie vor auf die Lieferung effektiver Waffensysteme aus dem Westen, die die Abwehr- und Schlagkraft der ukrainischen Streitkräfte erheblich erhöhen würden. Dazu gehören nicht nur Raketen- und Drohnenabwehrsysteme, sondern auch Kampfflugzeuge und weitere Kampfpanzer.

Selenskyj steht in dieser Frage unter besonderem Druck, denn eigentlich stehen in diesem Jahr in der Ukraine Präsidentenwahlen an. Der Termin, ursprünglich für März angesetzt, wurde bereits verschoben, doch müssen die Wahlen trotz des Krieges in absehbarer Zukunft stattfinden, da die westlichen Partner, die sich die Verteidigung der Demokratie auf die Fahnen geschrieben haben, darauf großen Wert legen. In Kiew wird aber nicht ausgeschlossen, dass auch Saluschnyj politische Ambitionen hat, ihm werden große Chancen eingeräumt, bei einer Kandidatur Selenskyj zu besiegen. Dieser hat im Laufe der beiden Jahre seit der Eskalation des Krieges, der 2014 mit der Annexion der Halbinsel Krim und dem als Separatistenaufstand getarnten massiven russischen Angriff auf den Donbass begonnen hatte, an Strahlkraft verloren, auch er wirkt zunehmend erschöpft. Saluschnyj dementierte wiederholt, dass er Politiker werden möchte. Aus seiner Umgebung verlautete lediglich, dass es durchaus mitunter Differenzen über die Kriegsführung gegeben habe, dass diese aber, angereichert durch Falschnachrichten aus russischer Quelle, namentlich von amerikanischen Medien aufgebauscht worden seien.

 

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Immerhin zeigen die Umfragen, dass sich für die beiden Gegner die Misserfolge der vergangenen Monate unterschiedlich ausgewirkt haben: Saluschnyj hat zwar die strategischen Entscheidungen über die Sommeroffensive getroffen, doch deren Scheitern, das er selbst einräumte, wird ihm von der überwältigenden Mehrheit seiner Landsleute nicht angelastet. Vielmehr führte die Militärführung hier die nicht ausreichenden Lieferungen an schweren Waffen und vor allem Munition aus dem Westen an – und dies keineswegs unbegründet. In allen politischen Lagern ist man sich einig darin, dass bereits in der verspäteten Lieferung von Kampfpanzern, für die vor allem die Deutschen verantwortlich gemacht werden, der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass 2022 die überaus erfolgreichen Gegenoffensiven in den Räumen Charkow und Chersson abgebrochen werden mussten. Ebenso herrscht parteiübergreifend blankes Unverständnis für die Weigerung von Bundeskanzler Olaf Scholz, die dringend benötigten Marschflugkörper des Typs Taurus zu liefern. Die deutsche Seite beharrt darauf, dass keine westlichen Raketen russisches Territorium erreichen dürfen, eine in der Tat groteske Forderung: Sie bedeutet, dass die Lokalitäten, von denen Tod und Zerstörung in die Ukraine getragen werden, nämlich Militärflugplätze und Raketenstellungen, nicht ausgeschaltet werden können.

Selenskyj verliert in den Umfragen

Im Gegensatz zu Saluschnyj ist Selenskyj mit immensen innen- wie außenpolitischen Problemen konfrontiert und verliert deshalb in den Umfragen. Zu einem großen Thema der Medien, die keiner Zensur in der politischen Berichterstattung unterliegen, ist die Korruption bei der Finanzierung von Kriegsgütern und der Verteilung von Spendengeldern geworden. Im Prinzip ist es ein gutes Zeichen, wenn solche Berichte erscheinen, sie sind nämlich ein Beleg für Pressefreiheit und zwingen die Regierung zum Handeln. Doch gleichzeitig trüben sie das gesellschaftliche Klima ein und wirken sich auch negativ auf die Bereitschaft der westlichen Führungen aus, Kiew weiter im bisherigen Maße zu unterstützen. Allerdings kann Selenskyj dieses vom Sowjetregime ererbte Problem nicht grundlegend angehen, da die Behörden sich in Zeiten des täglichen Raketenbeschusses auf das Inganghalten der öffentlichen Institutionen und das Funktionieren der Infrastruktur konzentrieren müssen.

Vor allem aber leidet seine Reputation als tatkräftiger Staatenlenker wegen der Misserfolge auf internationalem Parkett: Wurde er bei seinem ersten Besuch im Dezember 2022 im US-Kongress gefeiert, so wurde er genau ein Jahr später in Washington als lästiger Bittsteller behandelt und erreichte nichts. Auch das Scheitern der Abstimmung im Bundestag über die Taurus-Lieferung an die Ukraine wird in Kiew als schwere außenpolitische Niederlage Selenskyjs gewertet. CDU-Chef Friedrich Merz hat ihm einen Bärendienst erwiesen, als er in seinem Antrag über die Abstimmung die Taurus-Frage mit einer Debatte über den Bericht des Wehrbeauftragten verknüpfte. Doch hatten FDP und Grüne, die eigentlich für die Lieferung der Marschkörper an Kiew sind, zu erkennen gegeben, dass sie bei dieser Verknüpfung nicht mitziehen würden; sie wollten nicht noch mehr Ärger in der Ampelkoalition riskieren.

Ebenso musste die Führung in Kiew hinnehmen, dass der Krieg im Gazastreifen die russische Aggression und die sie weiterhin begleitenden Kriegsverbrechen aus dem Fokus der westlichen Politiker und Publizisten verdrängt hat. Hinzu kommt die Unsicherheit über die künftige Ostpolitik des Weißen Hauses. In Kiew will man sich nicht vorstellen, dass nach einem Wahlsieg Donald Trumps ab kommendem Jahr die amerikanische Militär- und Finanzhilfe eingestellt werden könnte. Immerhin hatten sich die USA ja während der Präsidentschaft Trumps nach einigem Zögern an der Ausbildung und Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte beteiligt, nachdem dessen Vorgänger Barack Obama die Annexion der Krim und den russischen Angriffskrieg im Donbass 2014 als Ausdruck der „Schwäche einer Regionalmacht, die einige ihrer Nachbarn bedroht“, bagatellisiert hatte. Es war eine schwere außenpolitische Sünde Obamas und seines Vizepräsidenten Joe Biden, denn die USA hatten sich im Budapester Memorandum von 1994 verpflichtet, die Unversehrtheit der Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus und Kasachstan zu garantieren, die die auf ihren Territorien stationierten Atomwaffen an Russland abgeben sollten. Der Kreml verstand die Stellungnahme Obamas zum russisch-ukrainischen Krieg, den viele westliche Medien seinerzeit als „Ukraine-Krise“ verharmlosten, als Freibrief für sein Vorgehen gegen die ehemaligen Sowjetrepubliken.

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