Türkei und Nato - Der Störenfried vom Bosporus

Die Türkei ist Mitglied der Nato und damit Teil des Westens. Doch nach dem barbarischen Angriff der Hamas auf Israel stellt sich Erdogan auf die Seite der Palästinenser. Wäre das Verteidigungsbündnis besser dran ohne das Land am Bosporus?

Besuch in Ankara: Der österreichische Bundeskanzler Nehammer mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan / dpa
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Karl-Heinz Kamp war Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin.

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Groß war die Empörung, als der türkische Präsident sich nach den brutalen Angriffen der Hamas auf Israel auf die Seite der Palästinenser stellte und – ganz im Stil von Wladimir Putin – Israel als den eigentlich Schuldigen ausmachte. Nicht, dass man vom Machthaber in Ankara nicht schon einiges gewöhnt gewesen wäre, aber dies sprengte jeden Rahmen. Hamas sei laut Erdogan eine Befreiungsbewegung, die einen Kampf gegen Kreuzzügler führe, und Israel sei nicht nur ein Kriegsverbrecher, sondern eine „Schachfigur des Westens“.

Spätestens hier gesellt sich zum schieren Entsetzen auch noch Unverständnis. Ist die Türkei nicht Mitglied der Nato und damit Teil des Westens? Strebt sie nicht seit Jahrzehnten in die Europäische Union und beklagt ständig, dort ausgegrenzt zu werden? Und – ganz nebenbei – ist die in der Türkei verfolgte kurdische PKK dann nicht ebenso eine Befreiungsbewegung? Entsprechend schnell fällten die nationalen und internationalen Kommentatoren ihr Urteil. Wenn die Nato ihre Selbstbeschreibung als „Wertegemeinschaft“ ernst nähme, dann könnte sie solch menschenverachtenden Äußerungen nicht akzeptieren. In der Nordatlantischen Allianz sei kein Platz mehr für die Türkei – das Maß sei endgültig voll. 

Ein gelähmtes Bündnis

Nur was man mit dem vollen Maß nun anstellt, blieb stets offen. Die Nato hat, anders als die Europäische Union, keine internen Sanktionsmechanismen. Da beispielsweise keine Gelder umverteilt werden, können bei einem Fehlverhalten auch keine Zahlungen verweigert werden. Ebenfalls anders als bei der EU können Entscheidungen in der Nato auch nicht mit qualifizierten Mehrheiten getroffen werden. Das herrschende Einstimmigkeitsprinzip gibt jedem Nato-Mitgliedsland, ob groß oder klein, die Möglichkeit, missliebige Entscheidungen zu blockieren.

Erdogan hat davon in der Vergangenheit regen Gebrauch gemacht – und damit das Bündnis in einigen Sachfragen nahezu gelähmt. Die Zusammenarbeit von Nato und EU könnte viel weiter sein, würde die Türkei aufgrund des Dauerstreits mit Griechenland um Zypern nicht jegliche weitere Annäherung der beiden Organisationen blockieren. Der Nato-Beitritt Schwedens ist noch nicht unter Dach und Fach, denn es fehlt noch die Ratifizierung des türkischen Parlaments. Auch hier könnte der Autokrat Erdogan weiter verzögern. 

Entrüstung über Erdogan

Dabei muss sich türkische Blockadepolitik nicht einmal auf die Entscheidungen der anderen Nato-Mitglieder selbst beziehen. Als sich der Nicht-Nato-Staat Österreich 2016 für einen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei aussprach, blockierte Ankara nicht nur jegliche Nato-Zusammenarbeit mit Österreich und verhinderte damit die Teilnahme österreichischer Soldaten an Nato-Missionen im Mittelmeer. Mehr noch: Das gesamte Partnerschaftsprogramm der Nato mit Ländern innerhalb und außerhalb Europas kam wegen der türkischen Veto-Haltung fast vollständig zum Erliegen. 

 

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Wäre also die Nato besser dran ohne den Störenfried vom Bosporus? Das ist trotz aller Entrüstung über Erdogan gar nicht so leicht zu beantworten. Zunächst ist im Nato-Vertrag von 1949 weder der freiwillige noch der unfreiwillige Austritt eines Mitglieds explizit geregelt. Die Keule der Ausschlussdrohung lässt sich also nicht schwingen. Auch ist die Türkei – ob es gefällt oder nicht – in ganz entscheidender geostrategischer Position, kontrolliert sie doch den Zugang zum Schwarzen Meer und damit zu den Häfen der Ukraine und Russlands. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Türkei im Einklang mit dem Vertrag von Montreux und sehr zum Ärger Moskaus die Durchfahrt durch die Meerengen für russische Kriegsschiffe gesperrt. Diese Entscheidung kann Erdogan jederzeit widerrufen und damit Russland militärische Vorteile verschaffen. 

Ist die Nato, immerhin das stärkste Militärbündnis auf dem Globus, also der Willkür eines Autokraten und religiösen Extremisten ausgeliefert? Nicht ganz, denn der türkische Präsident agiert ja nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern der Schwäche. Das Selbstbild vom Führer der islamischen Welt hat er ebenso wenig erfüllen können wie das des Brückenbauers zwischen Orient und Okzident. Auch hat Erdogan das Land mit kostspieligen Großprojekten, Nepotismus und inkompetenten Wirtschaftsentscheidungen heruntergewirtschaftet. Die türkische Bevölkerung ächzt unter eine Inflationsrate von über 60 Prozent. Das gibt den USA und den übrigen Nato-Mitgliedern, aber auch der EU, einige Hebel in die Hand. 

Erdogans anti-israelische Ausfälle

Hier kommt Washington die wichtigste Rolle zu, nicht zuletzt mit Blick auf amerikanische Rüstungsgüter. Schon 2019 hatten die USA die Türkei wegen deren Kauf eines russischen Flugabwehrsystems aus dem Programm des amerikanischen Kampfflugzeuges F-35 ausgeschlossen. Stattdessen wollte Präsident Biden der Türkei Flugzeuge vom Typ F-16 liefern, was aber bislang vom amerikanischen Kongress blockiert wird. Erdogans anti-israelische Ausfälle dürften diesem Rüstungsdeal nun endgültig den Garaus machen.

Auch auf die immer noch erheblichen amerikanischen „Foreign Direct Investments“ dürfte sich der Vertrauensverlust gegenüber der Türkei auswirken. Es fiel ja schon auf, dass US-Außenminister Blinken nach dem Hamas-Angriff zu einer dicht gedrängten Reise in die Hauptstädte der Region aufbrach, einen Besuch in Ankara aber vermied. 

Heranführungshilfen in Milliardenhöhe

Aber auch die Europäer können der Türkei das Leben schwer machen, schließlich ist die EU ihr mit Abstand wichtigster Handelspartner. So könnten die EU-Gespräche über eine Zollunion endgültig zu den Akten gelegt werden, was die türkische Wirtschaft empfindlich treffen würde. Schon 2020 haben Sanktionsdrohungen aus Brüssel gegen die Türkei ausgereicht, um die türkischen Gas-Bohrungen in griechischen Gewässern zu beenden. Auch sind für die Türkei als EU-Beitrittskandidat sogenannte Heranführungshilfen in Milliardenhöhe vorgesehen, welche zurückgehalten werden können. 

Wird all dies die Türkei zur Raison bringen? Vermutlich nicht, denn Erdogan hat seine Politik immer nach der Meinung „der Straße“ ausgerichtet. Sich es aber gleich mit allen Nato-Partnern und allen voran den USA zu verscherzen, ist kein Erfolgsrezept, selbst wenn ein Ende der türkischen Nato-Mitgliedschaft nicht zur Debatte steht. 

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