Geopolitik - Ohne die Türkei soll nichts mehr gehen

Präsident Erdogan will sein Land zur eigenständigen Regionalmacht ausbauen. Damit entfernt er sich immer weiter von seinen westlichen Partnern. Doch weder der Westen noch Russland wollen die Türkei als Verbündeten verlieren. Das nützt Erdogan aus.

Löst sein Land aus den festen Bindungen mit Nato und EU: Recep Tayyip Erdogan /dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Aus der Einschätzung, dass sich gegenwärtig eine multipolare internationale Ordnung entwickelt, also weder die USA ihren Vorranganspruch werden verteidigen können, noch der Konflikt zwischen den USA und China die globalen Beziehungen bipolar aufspannen wird, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen. Mehr noch: Er setzt sie um. Erdogan strebt an, die Türkei als eigenständige regionale Macht aufzustellen, gegen die im Mittleren Osten, in Zentralasien und Nordafrika keine ordnungspolitischen Entscheidungen umgesetzt werden können. Das ist ein hoher Anspruch, der gegenwärtig durch die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes gefährdet wird. Die ökonomischen Schwierigkeiten haben die türkische Regierung jedoch nicht dazu bewogen, diesen Anspruch aufzugeben.

Eine Konsequenz dieser politischen Zielsetzung ist, dass sich die Türkei aus den festen Bindungen, die sie jahrzehntelang mit der Nato und EU eingegangen war, zumindest teilweise löst. Präsident Erdogan nimmt, um Bundeskanzlerin Merkel zu paraphrasieren, die Lage ein Stück weit in die eigene Hand. Deshalb verstärkt sich mittlerweile die Entfremdung zwischen der Türkei und ihren westlichen Allianzpartnern zusehends. Sie reicht freilich weiter zurück, bis 1974, als Nordzypern von türkischen Truppen besetzt wurde. Doch waren diese Vorgänge noch im Korsett des Ost-West-Konflikts gefangen.

Verhinderung der kurdischen Autonomie

Später, 2003, verweigerte die Türkei den amerikanischen Streitkräften den Durchmarsch in den Irak. Unterschiedliche regionale Interessen und Befürchtungen kamen hier zum Ausdruck. Als der heutige US-Präsident Joe Biden, damals noch in seiner Stellung als Senator, die Dreiteilung des Irak – Kurden, Sunniten, Schiiten – ins Spiel brachte, verstärkte er die Bedenken, die in der Türkei handlungsleitend waren. Denn es hätte dabei ein kurdischer Staat entstehen können. Die politische Emanzipation der kurdischen Bevölkerung zu Autonomie und darüber hinaus galt es aus türkischer Sicht jedoch unbedingt zu verhindern. Deshalb engagierte sich die Türkei später in Syrien militärisch und sah in islamistischen Kräften nicht den Hauptgegner, anders als die USA, die sogar kurdische Kämpfer im Kampf gegen den sogenannten IS unterstützten.

Parallel zu dieser gespannten Lage kaufte die türkische Regierung 2017 das russische Raketenabwehrsystem S-400, nachdem ein entsprechendes Geschäft mit China geplatzt war. Die USA warnten die Türkei zwar, dass kein Nato-Mitglied sensible russische Rüstungsgüter einsetzen dürfe. Doch 2019 wurden die ersten Systeme geliefert und seit 2020 sind sie in Betrieb. Deshalb wurde die Türkei aus dem wichtigen F-35-Programm, das für die Luftwaffe der Nato-Staaten bedeutsam ist, ausgeschlossen. Die Entfremdung von der Nato nahm mit großer Geschwindigkeit zu.

Prekäres Verhältnis zu Russland

Zeitgleich löste die Türkei einen Streit mit Griechenland und Zypern über Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer aus, engagierte sich in Libyen militärisch, versuchte mit der libyschen Regierung die territoriale Zuordnung des östlichen Mittelmeers neu zu regeln und geriet in Streit mit Frankreich, das Griechenland unterstützte und in Libyen auf der anderen Seite der Konfliktparteien stand. Parallel zum Konflikt in Syrien verhandelte die Türkei mit der EU ein Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen, das die Lage in der EU mittelfristig verbesserte, obwohl die Türkei seit Ausbruch der Pandemie ihren Verpflichtungen nicht mehr im erforderlichen Maß nachkommt. Im Gegenteil. So legte vor wenigen Tagen ein aus einem türkischen Hafen ausgelaufenes Schiff, das mutmaßlich einen Motorschaden hatte, in Griechenland an und brachte auf diesem Weg 400 afghanische Flüchtlinge in die EU.

Allerdings näherte sich die Türkei im Gegenzug zur Entfremdung von den westlichen Partnern nicht einfach Russland an. Das Verhältnis zu Russland bleibt prekär: Die Türkei kauft russische Rüstungsgüter und rüstet gleichzeitig Polen und die Ukraine mit bewaffneten Drohnen aus. Im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien unterstützte die Türkei offen die aserbaidschanische Seite, während Russland zu vermitteln versuchte. Selbst der militärisch unnötige Abschuss eines russischen Militärflugzeugs an der syrisch-türkischen Grenze im November 2015 konnte das Verhältnis nicht lange trüben. Die Türkei wollte damit Russland davon abbringen, türkische Verbündete gegen Präsident Assad in Syrien anzugreifen. Russland reagierte brüsk, wollte jedoch die Beziehungen zur Türkei nicht dauerhaft eingefroren halten.

Herausgehobene geostrategische Lage

Warum kann die türkische Regierung derart handeln? Die wichtigste Ursache ist die geostrategische Lage des Landes zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer sowie an den Grenzen von Zentralasien, Europa und Afrika. Wegen dieser herausgehobenen geostrategischen Lage der Türkei verhalten sich alle Staaten dem Land gegenüber so, dass sie es auf keinen Fall als Partner verlieren. Das gilt auch, obwohl sie die Türkei nicht als sicher berechenbares Allianzmitglied ansehen können. Nur soll die Türkei auf keinen Fall ein Verbündeter der anderen Großmächte werden.

Diese geopolitische Lage nutzt Erdogan konsequent aus. Seine Interessen lassen sich in folgenden Prioritäten zusammenfassen: Erstens soll die Sicherheit der eigenen Herrschaft gewährleistet werden. Zweitens soll dazu der geopolitische Einfluss in den Regionen Zentralasien, des östlichen Mittelmeers und Afrikas ausgeweitet werden. Drittens gilt es die Anbindung an die verschiedenen Großmächte in lockerer Weise zu halten, ohne von einer allein abhängig zu werden und um alle gegeneinander ausspielen zu können.

Werte und Interessen

Die Großmächte haben gegenüber der Türkei ganz unterschiedliche Interessen. Für China ist das Land als „Mittlerer Korridor“ auf der neuen Seidenstraße bedeutsam. Die USA interessiert vor allem, dass die Türkei unbeirrter in der Nato verankert bleibt, weshalb S-400 und die Konflikte zwischen Nato-Staaten im östlichen Mittelmeer hohe Priorität haben. Letzteres interessiert auch die EU, allerdings eher deshalb, weil die Staatengemeinschaft nicht in der Lage ist, das EU-Mitglied Griechenland ausreichend gegenüber der Türkei zu unterstützen. Die Eindämmung der Migration ist weiterhin das oberste Interesse der EU-Staaten.

USA und EU sind beide besorgt darüber, dass sich die Türkei immer weiter von demokratischen Grundsätzen entfernt hat. Das wirft die Frage auf: Gehört das Land noch in die Liga der Demokratien? Russland wiederum ist vor allem daran interessiert, die Türkei aus der Nato zu lösen und, wenn dies nicht gelingt, über sie möglichst viele Konflikte in die westlichen Bündnisse zu tragen. Dies wollen die USA und die EU verhindern, sehen sich aber außerstande, die antidemokratischen Entwicklungen völlig auszublenden. Wobei einzelne EU-Staaten eine gegenüber Erdogan sensiblere Außenpolitik betreiben als andere. Während Frankreich Griechenlands Marine ausrüstet, liefert Deutschland entsprechende Güter an die Türkei.

Im Westen ist die Haltung zu beobachten, dass bei aller Kritik die Türkei als Nato-Mitglied nicht verloren gehen darf. In Russland geht es darum, genau dieses Ziel zu erreichen. China ist vor allem an verlässlichen Infrastruktur- und Handelsbeziehungen interessiert. Die Türkei weiß diese unterschiedlichen Interessen dafür zu nutzen, eine autonome Politik im regionalen Umfeld aufzusetzen, und hofft darüber hinaus, dass die Verbindungen zur Muslimbruderschaft, die das Land schon während des Arabischen Frühlings kurzfristig mit weiterreichendem politischen Einfluss versahen, zukünftig wieder tragfähiger werden. Insofern unterstützt die Türkei inzwischen auch einen Weg der Islamisierung der Region, die, von Saudi-Arabien ausgehend, vom Iran aufgegriffen wurde. Damit sind auch die drei Staaten benannt, die um den dominanten Einfluss im Mittleren Osten und den angrenzenden Gebieten wetteifern.

 

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